Leitsatz (amtlich)

Die Vorschrift, wonach einer geschiedenen Frau Hinterbliebenenrente nur gewährt werden darf, wenn der frühere Ehemann nach dem 1942-04-30 gestorben ist, verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes.

 

Leitsatz (redaktionell)

Zu der Frage, ob der Versicherungsträger an eine Auskunft des Versicherungsamtes gebunden ist.

 

Normenkette

ArVNG Art. 2 § 19 Fassung: 1957-02-23; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23; RVO § 37 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15; RVLeistungsVerbG 2 § 3 Abs. 3

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. September 1958 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin als geschiedener Frau die Hinterbliebenenrente aus der Angestelltenversicherung ihres im Jahre 1921 verstorbenen früheren Ehemannes zu gewähren ist. Auf Grund eines Bescheides der Sozialversicherungskasse Zwickau (Sachsen) vom 14. Februar 1950 bezog die Klägerin für die Zeit vom 1. Juli 1949 bis April 1955 - ihrer Übersiedlung in die Bundesrepublik - eine Witwenrente. Sie erstrebt die Weiterzahlung dieser Rente von der Beklagten. Diese lehnte den Rentenantrag ab, weil der frühere Ehemann der Klägerin bereits im Jahre 1921, also vor dem 1. Mai 1942, gestorben und deshalb die Voraussetzung für die Gewährung einer Hinterbliebenenrente nach § 3 Abs. 3 im Zweiten Gesetz über die Verbesserung der Leistungen in der Rentenversicherung vom 19. Juni 1942 - 2. LeistungVerbG - (RGBl I 407) nicht erfüllt sei (Bescheid vom 13. April 1956). Den Widerspruch der Klägerin wies die Widerspruchsstelle der Beklagten zurück (Bescheid vom 5. Juli 1956). Die Klägerin machte demgegenüber geltend, die unterschiedliche Behandlung geschiedener Frauen, je nachdem ob der frühere Ehemann vor oder nach dem Inkrafttreten des genannten Gesetzes gestorben sei, verstoße gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Sie hatte jedoch mit diesem Vorbringen weder vor dem Sozialgericht (SG) noch vor dem Landessozialgericht (LSG) Erfolg. Das LSG ließ die Revision zu (Urteil vom 17. September 1958).

Die Klägerin legte gegen das ihr am 2. Februar 1959 zugestellte Urteil des LSG am 28. Februar 1959 Revision ein. Dem Sinne nach beantragte sie, die Urteile der Instanzgerichte sowie die vorausgegangenen Bescheide der Beklagten aufzuheben und diese zur Erteilung eines neuen Bescheides zu verurteilen, der den Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenrente nicht mit der Begründung ablehne, daß der geschiedene Mann vor dem 1. Mai 1942 verstorben und deshalb die Rentengewährung unzulässig sei. Sie begründete die Revision am 28. März 1959: Die Regelung des § 3 Abs. 3 des 2. LeistungVerbG und des Art. 2 § 18 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) verstoße gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 GG, weil die Festsetzung eines Stichtages sachfremd und dadurch der begünstigte Personenkreis willkürlich bestimmt sei. Dementsprechend wiederholte sie ihren bereits in der Vorinstanz gestellten Antrag, das Verfahren in Anwendung des Art. 100 GG auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) einzuholen.

Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.

Das LSG hat die Berufung der Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil mit Recht zurückgewiesen. Wenn auch inzwischen die Beteiligten offenbar übereinstimmend der Auffassung sind, daß die in Betracht kommenden gesetzlichen Vorschriften auf die Klägerin an sich zutreffend angewandt wurden - die Revisionsrüge beschränkt sich auf die Geltendmachung der Unvereinbarkeit dieser Vorschriften mit Art. 3 GG -, so ist dies doch durch das Revisionsgericht von Amts wegen nachzuprüfen. Aus dem Umstand, daß die Klägerin auf Grund des Bescheides der Sozialversicherungskasse Zwickau vom 14. Februar 1950 eine Witwenrente bezogen hat, könnte sie - wie bereits das LSG zutreffend ausgeführt hat - einen Anspruch auf Weiterzahlung dieser Rente durch die Beklagte nur dann herleiten, wenn diese Rente nach "Reichsrecht" im Sinne der Vorschrift des § 4 Abs. 4 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes (FAG) festgestellt worden wäre. Dies ist aber nicht der Fall; denn der erwähnte Bescheid beruht - wie sein Wortlaut ergibt - auf dem sowjetischen Befehl 28. Das während des Revisionsverfahrens in Kraft getretene Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz (FANG) vom 25. Februar 1960 enthält keine Vorschrift, die die Rechtslage zugunsten der Klägerin ändert. Ein Anspruch der Klägerin besteht auch nicht insoweit, als sie behauptet, ihrer Tochter sei seinerzeit auf Anfrage vom Versicherungsamt zugesichert worden, daß eine in der sowjetischen Besatzungszone gewährte Rente in der Bundesrepublik weitergezahlt werde; denn durch die Auskunft eines Versicherungsamts kann die Beklagte nicht verpflichtet werden; ein Anspruch auf Gewährung von Hinterbliebenenrente ist ohne Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nicht begründet.

Der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente ist nach der bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Vorschrift des § 28 Abs. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aF in Verbindung mit § 1256 Abs. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF zu beurteilen. Falls hiernach kein Anspruch zusteht, bleibt zu prüfen, ob er für die Zeit vom 1. Januar 1957 an nach dem AnVNG begründet ist (§ 42; Art. 2 § 18). In beiden Fällen macht die gesetzliche Regelung die Gewährung einer Rente unter anderem davon abhängig, daß der Versicherungsfall - das ist der Tod des versicherten früheren Ehemannes - nach dem 30. April 1942 eingetreten ist. Die Vorschrift des § 1256 Abs. 4 ist durch die Verordnung vom 22. Juni 1942 (RGBl I 411) zur Anpassung an das 2. LeistungVerbG in die RVO eingefügt worden. Hierdurch wurde erstmals beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen die Möglichkeit (Kann-Leistung) zur Gewährung von Renten an geschiedene Frauen geschaffen. § 3 des genannten Gesetzes bestimmt in seinem Abs. 3: "Die Vergünstigung des Abs. 1 gilt nicht, wenn der Versicherte vor dem Inkrafttreten des Gesetzes gestorben ist." Nach seinem § 7 ist das Gesetz mit Wirkung vom 1. Mai 1942 in Kraft getreten. Hiernach kann nur eine geschiedene Frau, deren früherer Ehemann nach dem 30. April 1942 gestorben ist, in den Genuß der Vergünstigung kommen. Nach Auffassung des Senats verstößt diese Regelung, die bis zum Inkrafttreten des AnVNG (31. Dezember 1956) unverändert blieb, nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

Art. 3 Abs. 1 GG bestimmt, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Dies bedeutet jedoch nicht - das BVerfG hat diese Einschränkung in mehreren Entscheidungen betont (3, 288, 337; 4, 7, 18; 4, 156, 162) -, daß der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG eine schematische Gleichbehandlung verlangt. Er hindert den Gesetzgeber nur, an Sachverhalte, die nach der Natur der Sache gleichbehandelt werden müssen, unter Verwendung sachfremder Gesichtspunkte unterschiedliche Rechtsfolgen zu knüpfen. Dem Gesetzgeber ist bei der Beurteilung, welche Sachverhalte er als wesentlich gleich und welche er als nicht gleich ansehen will, ein weiter Spielraum eingeräumt Der Gleichheitssatz bietet nicht die Möglichkeit, ein Gesetz unter dem Gesichtspunkt "allgemeiner Gerechtigkeit" nachzuprüfen. Nur die Überschreitung oder der Mißbrauch des gesetzgeberischen Ermessens verstößt gegen den Gleichheitssatz. Entscheidend ist dabei, ob die gesetzliche Regelung der Eigenart des Sachverhalts noch entspricht, durch sie gerechtfertigt wird und am Gedanken der Gerechtigkeit orientiert ist. Daß auch in der neueren Gesetzgebung zulässigerweise Leistungen oder Vergünstigungen erst von einem bestimmten Stichtag an gewährt werden, hat das BVerfG im Zusammenhang mit dem Gesetz zu Art. 131 GG klar zum Ausdruck gebracht (BVerfG 3, 58). Diese Grundsätze hat auch das Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung angewandt. Der erkennende Senat hat zuletzt in seinem Urteil vom 10. Februar 1960 - 1 RA 23/59 - entschieden, daß es dem Gesetzgeber im allgemeinen überlassen bleibt, Gesetze mit Wirkung nur für die Zukunft zu erlassen und neu eingeführte Vergünstigungen, insbesondere auch solche mit finanziellen Auswirkungen, nicht beliebig weit zurück auf abgeschlossene, in der Vergangenheit liegende Sachverhalte auszudehnen. In der Sozialversicherung macht der Gesetzgeber die Anwendung neuer Gesetze oft allein von dem Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles derart abhängig, daß Leistungsansprüche nur dann nach neuem Recht zu beurteilen sind, wenn der Versicherungsfall nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes eingetreten ist (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 20. Dezember 1960 - 1 RA 97/59 -). Zwar steht es dem Gesetzgeber im allgemeinen frei, eine andere Regelung zu treffen. Wenn dies in Einzelfällen geschieht, so handelt es sich hierbei um Ausnahmen, die dann auch jeweils als solche ausdrücklich hervorgehoben werden. Im allgemeinen entspricht es aber nicht dem Grundgedanken und der Eigenart des Versicherungsverhältnisses, durch eine gesetzliche Neuregelung Vergünstigungen auch in solchen Fällen zu gewähren, in denen der Versicherungsfall bereits eingetreten, das Versicherungsverhältnis also bereits abgeschlossen ist. Das jeder Versicherung eigentümliche ungewisse künftige Ereignis wäre dann nicht gebührend berücksichtigt. Diese Grundsätze gelten wie für jede Versicherung - wenn auch mit gewissen Einschränkungen - ebenfalls für die Sozialversicherung; sie gewinnen besondere Bedeutung, wenn gesetzliche Vorschriften geändert werden. Eine Neuregelung wird daher in der Regel nur auf solche Ereignisse anzuwenden sein, die erst unter ihrer Geltung eintreten. Die Gültigkeit dieser versicherungsrechtlichen Grundsätze wird auch nicht dadurch beeinträchtigt, daß die Sozialversicherung weitgehend staatliche Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln erhält. Die erwähnten versicherungsrechtlichen Grundsätze dürften auch in dem Zeitpunkt, als jene Vergünstigungen für geschiedene Frauen geschaffen wurden, im Vordergrund gestanden haben. Es kann daher nicht festgestellt werden, daß die damalige Regelung - wie die Klägerin meint - allein auf nationalsozialistischen Anschauungen beruht. Es ist zwar nicht zu verkennen, daß die Festlegung eines Stichtages durch § 3 Abs. 3 des 2. LeistungVerbG von der Gruppe derjenigen Frauen, denen das Gesetz mit Rücksicht auf den Eintritt des Versicherungsfalles keinen Anspruch zuspricht, als Härte empfunden wird. Die Begrenzung des begünstigten Personenkreises wäre aber nur dann sachfremd - von gesetzgeberischer Willkür kann ohnedies nicht die Rede sein -, wenn sich für die durch den Stichtag entstandene unterschiedliche Regelung schlechterdings keine vernünftige Erklärung finden ließe. Dies ist jedoch nicht der Fall, weil die Festlegung eines Stichtages bei Berücksichtigung der vorstehend dargelegten versicherungsrechtlichen Grundsätze sachgerecht ist und dem Zweck und Wesen einer Neuregelung entspricht. Wäre dem Gesetzgeber solche Möglichkeit verschlossen, müßte im Einzelfall unter Umständen von einer Neuregelung überhaupt abgesehen werden, und eine Fortentwicklung des Sozialrechts wäre in Frage gestellt. § 3 Abs. 3 des 2. LeistungVerbG steht daher mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht in Widerspruch.

Die durch das 2. LeistungVerbG eingeführte Regelung, deren Verfassungsmäßigkeit bis zur Neuregelung durch das AnVNG von keiner Seite bezweifelt worden ist, stellt nach Art. 2 § 18 AnVNG auch die zeitliche Begrenzung für den nunmehr maßgeblichen § 42 AnVNG dar. Für die Verfassungsmäßigkeit der im AnVNG getroffenen Regelung gilt das oben Ausgeführte in gleicher Weise. Auch andere, durch die Verfassung geschützte Grundrechte sind durch die Neuregelung nicht berührt.

Zu einem gleichfalls durch das 2. LeistungVerbG eingeführten Stichtag (30. April 1942) hat auch der 4. Senat (BSG 7, 146) Stellung genommen. Hierbei handelte es sich aber um die Vorschrift des § 1263 a RVO aF, insbesondere um die Frage, wieweit rückwirkend auf Versicherungsfälle, bei denen der Tod oder die Invalidität bzw. Berufsunfähigkeit durch Arbeitsunfall verursacht ist, die Wartezeitfiktion des § 1263 a RVO anzuwenden ist. Der 4. Senat hat angenommen, daß durch § 1263 a RVO für alle darin geregelten Tatbestände die früheren Regelungen außer Kraft gesetzt seien, ohne daß es insoweit noch einer ausdrücklichen Bestimmung bedurft habe. Die Entscheidung beruht im wesentlichen darauf, daß die in Frage kommende Materie durch Gesetz neu geregelt, dann aber ohne zeitliche Begrenzung in die RVO eingefügt worden war. Die Begründung dieser Entscheidung ist jedoch auf den vorliegenden Rechtsstreit nicht übertragbar, weil die auf dem 2. LeistungVerbG beruhende und durch die Anpassungsverordnung vom 22. Juni 1942 in die RVO eingeführte Vorschrift des § 1256 Abs. 4 später nicht mehr geändert worden ist. Das erwähnte Urteil ist daher auf den vorliegenden Streitfall ohne Einfluß.

Da demnach das Urteil des LSG nicht zu beanstanden ist, war die Revision der Klägerin zurückzuweisen. Zu einer Anwendung des Art. 100 GG sah sich der Senat aus den dargelegten Gründen nicht veranlaßt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 95

MDR 1961, 632

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