Leitsatz (amtlich)

1. Treffen ein als Berufung geltender Rekurs nach SGG § 214 Abs 4 und eine als Berufung nach SG § 215 Abs 7 auf das Landessozialgericht übergegangene Klage, die beide denselben Anspruch betreffen und sich gegen dasselbe Urteil des Oberversicherungsamtes richten, zusammen so handelt es sich vom 1954-01-01 an nicht mehr um 2 getrennte Rechtsmittelverfahren, sondern um einen Sonderfall der wiederholten Einlegung des gleichen Rechtsmittels in demselben Verfahren.

2. Wird der als Unfalltag geltende Beginn einer Berufskrankheit von der Berufsgenossenschaft auf einen Zeitpunkt festgesetzt, der die Anwendung des RVO § 1274 Abs 3 Nr 1 ausschließt, so kann dem Versicherten, der auf Festsetzung eines Späteren Krankheitsbeginns klagt, nicht entgegengehalten werden, er sei durch die Festsetzung nicht beschwert.

 

Normenkette

SGG § 214 Abs. 4 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 215 Abs. 7 Fassung: 1953-09-03, § 53 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1274 Abs. 3 Nr. 1 Fassung: 1939-04-19

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 7. Dezember 1954 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht ... zurückverwiesen.

Die Gebühr des Rechtsanwalts ... für seine Tätigkeit im Verfahren vor dem Bundessozialgericht wird auf DM ... festgesetzt.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

I. Die Klägerin führt als Witwe ein Streitverfahren fort, das ihr am 8. August 1952 verstorbener Ehemann, ... betrieben hatte. ..., geboren im Jahre ..., war seit dem Jahre 1922 in silikosegefährdeten Betrieben beschäftigt. Mehrfache Untersuchungen ergaben bis zum Jahre 1940 nur beginnende Staubveränderungen, die die Tauglichkeit zur Bergarbeit nicht beschränkten. Erst bei der nächsten, durch die Zeitumstände erst im Dezember 1949 vorgenommenen Untersuchung stellte Dr. ... eine Silikose gut mittleren Grades fest. Die Beklagte nahm dies zum Anlaß, der arbeitgebenden Zeche eine Beschäftigung an staubfreien Betriebspunkten zur Pflicht zu machen. ... beantragte Anfang 1950 bei der Beklagten einen Lohnausgleich, da er wegen der Silikose zweiten bis dritten Grades nur noch als Ausbauhelfer beschäftigt werde.

Vom 8. März bis 4. April 1950 feierte ... wegen eines Infiltrats im rechten Lungenunterlappen krank; bei seiner stationären Behandlung im März 1950 erhob Prof. ... als Befund eine schwere Silikose, worüber er am 29. März 1950 der Beklagten die vorgeschriebene Anzeige erstattete. Demgegenüber stellte der von der Beklagten gehörte Ob. Med. Rat Dr. ... in seinem Gutachten vom 3. Juni 1950 fest, es liege röntgenologisch immer noch, wie bereits Ende 1949, nur eine Silikose gut zweiten Grades vor. Da es zu deutlichen leistungsmindernden Beeinträchtigungen von Atmungs- und Kreislauforganen noch nicht gekommen sei, verneinte er das Vorliegen einer entschädigungspflichtigen schweren Silikose, hielt jedoch Nachuntersuchung nach einem halben Jahr für erforderlich. Das Ergebnis dieser Untersuchung teilte die Beklagte durch formloses Schreiben am 20. Juli 1950 ... mit dem Hinweis mit, daß ein Rentenanspruch wegen einer Berufskrankheit nicht gegeben sei; sie lehnte ferner am 24. Oktober 1950 den Antrag auf Gewährung einer Übergangsrente ab, da das Gesamteinkommen keinen Minderverdienst erkennen lasse.

Am 31. Oktober 1950 teilte Prof. ... der Beklagten mit, er habe bei einer erneuten Untersuchung wieder eine wegen eindeutiger Insuffizienzerscheinungen des Atmungs- und Kreislaufssystems entschädigungspflichtige Silikose festgestellt, die er - wie schon im März - mit 60 v. H. EV. bewerten müsse. Die Beklagte holte nunmehr ein Gutachten ihres Krankenhauses ... ein, das am 15. Dezember 1950 ebenfalls eine entschädigungspflichtige Silikose dritten Grades annahm. Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis: "Bei der Schwere der silikotischen Veränderungen und in Anbetracht der beschriebenen Ausfallerscheinung schätzen wir die EV. auf 60 v. H.. Da bereits im März in ... Insuffizienzerscheinungen seitens der Kreislauf- und Atmungsorgane festgestellt wurden, halten wir es für ratsam, den Beginn der entschädigungspflichtigen Berufskrankheit etwa auf den Monat März 1950 festzulegen."

Die Beklagte gewährte daraufhin ... durch berufungsfähigen Bescheid vom 17. Mai 1951 unter Festlegung des 8. März 1950 als Zeitpunkt des Krankheitsbeginns eine Dauerrente von 60 v. H. vom 5. April 1950 (Wegfall des Krankengeldes) ab für die als Berufskrankheit anerkannte Silikose.

... war inzwischen von der Ruhrknappschaft am 5. April 1950 die Knappschaftsrente zuerkannt worden. Diese wurde nach der Gewährung der Silikoserente gemäß § 1274 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) durch die Ruhrknappschaft gekürzt; ... hat die Kürzung der Ruhrknappschaft gegenüber angefochten, dies Verfahren schwebt noch.

Zu dem gleichen Zweck (Vermeidung der Anwendung der Ruhensvorschriften) legte ... gegen den Bescheid der Beklagten vom 17. Mai 1951 Berufung ein mit dem Antrag, als Zeitpunkt des Krankheitsbeginns und des Rentenbeginns ein nach dem 3. Juni 1950 liegendes Datum anzusetzen. Die Berufung wurde von dem Knappschaftsoberversicherungsamt ... durch Urteil vom 13. September 1951 zurückgewiesen. Gegen dieses Urteil legte ... Rekurs ein. Gleichzeitig erhob er vor dem Landesverwaltungsgericht in ... Klage, die die Klägerin nach dem Tode ihres Ehemannes am 2. September 1952 aufnahm; die Klage ging nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung auf das Landessozialgericht (LSGer) in ... über.

Vor dem Tod des ... hatte die Beklagte auf Verschlimmerungsanträge die Rente vom 11. August 1951 auf 70 v. H. und vom 4. April 1952 auf 85 v. H. erhöht.

II. In der mündlichen Verhandlung vor dem LSGer. erklärte sich die Klägerin "damit einverstanden, daß beide Rechtsmittel, Rekurs und Klage, als einheitliches Rechtsmittel im Sinne des § 215 Abs. 7 behandelt werden."

Durch Urteil vom 7. Dezember 1954 wies das LSGer. die Berufung zurück und legte die Kosten des Verfahrens vor dem Landesverwaltungsgericht der Klägerin auf.

Das LSGer. hält die Berufung - als einen nach § 215 Abs. 7 SGG übergegangenen Fall - für zulässig. Es begründet die Abweisung damit, daß die Klägerin durch den angefochtenen Bescheid nicht beschwert sei. Ihr Verlangen, daß die Unfallrente erst von einem späteren Zeitpunkt gezahlt werde, würde eine Verschlechterung ihrer Vermögenslage bedeuten; für ein derartiges Begehren könne ein Rechtsschutzbedürfnis nicht anerkannt werden. Das LSGer. führt weiter aus:

"... eine Entscheidung über den eigentlichen Streitgegenstand, ob nämlich die Anrechnung der Unfallrente auf die Knappschaftsrente zu Recht erfolgt ist, kann in dem vorliegenden Rechtsstreit nicht getroffen werden. Für diese Entscheidung, die davon abhängt, ob der Erkrankungsbeginn der Staublunge zutreffend festgesetzt worden ist, steht der Klägerin das noch anhängige Streitverfahren gegen die Ruhrknappschaft zur Verfügung; die Klägerin ist daher auch prozessual nicht beschwert."

Das LSGer. hat die Revision gegen sein Urteil zugelassen.

III. Die Klägerin hat am 12. Februar 1955 gegen das ihr am 22. Januar 1955 zugestellte Urteil Revision eingelegt. Sie begründet ihre Revision fristgemäß damit, daß sie entgegen der Auffassung des LSGer. beschwert sei; der festgestellte frühere Beginn der Silikoserente führe zu ihrer wirtschaftlichen Schlechterstellung, weil dieser Zeitpunkt für die Knappschaftsrente bei der Anwendung der Ruhevorschriften maßgebend sei; aus diesem Grund könne auch die Anfechtung des Ruhensbescheides zu keinem Erfolg führen, weil die Anwendung der Ruhensvorschriften - als rein technischer Vorgang - die Knappschaft nicht zu einem Abweichen von den Feststellungen der Beklagten berechtige; im übrigen sei die Beklagte auch durch ihren zuerst erteilten formlosen Bescheid vom 20. Juni 1950 gebunden.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des LSGer. vom 7. Dezember 1954 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 17. Mai 1951 dahin abzuändern, daß als Beginn der Berufskrankheit der 15. Dezember 1950 festgestellt wird,

hilfsweise,

das Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

IV. Die Beklagte hat demgegenüber beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise aber,

sie zurückzuweisen.

Sie glaubt, die Unzulässigkeit der Revision auf verschiedene, sich überschneidende Überlegungen stützen zu können.

Zunächst vertritt sie grundsätzlich den Standpunkt, daß die vom Gesetzgeber für die Altfälle des § 214 Abs. 5 SGG vorgeschriebene Endgültigkeit der Entscheidung der Landessozialgerichte auch für die Fälle des § 215 Abs. 7 gelten müsse.

Die Unzulässigkeit ergebe sich weiterhin aus den unlösbaren Widersprüchen, die anderenfalls aus den durch die zwei verschiedenen Rechtsmittel eingeleiteten zwei Verfahren entstehen müßten. Da gegen das Urteil des Knappschaftsoberversicherungsamts Rekurs eingelegt und nach § 214 Abs. 4 SGG als Berufung weiterverfolgt sei, stehe nach § 214 Abs. 5 fest, daß das Urteil des LSGer. zumindest insoweit, als es über diese Berufung entschieden habe, endgültig sei. Dieses endgültige Urteil habe nach § 141 SGG zwischen den Parteien Rechtskraft erlangt; mit Rücksicht auf diese Rechtskraft sei es der Klägerin verwehrt, in der Revisionsinstanz nochmals eine Entscheidung über dieselben Fragen herbeizuführen. Auch wenn man die Zulässigkeit der Revision annehmen wollte, würden diese Bedenken sie jedenfalls als unbegründet erscheinen lassen.

Den angedeuteten, aus der Doppelnatur des Urteils des LSGer. sich ergebenden Schwierigkeiten sei auch nicht dadurch auszuweichen, daß die Klägerin sich mit der einheitlichen Behandlung einverstanden erklärt habe. Wenn diese Erklärung in eine Zurücknahme des Rekurses umgedeutet werden sollte, so sei damit nichts gewonnen, da die Rücknahme eines Rechtsmittels ohne weiteres dazu führe, daß die angefochtene Entscheidung rechtskräftig werde.

Als Antrag auf eine Verbindung gemäß § 113 SGG könne die Erklärung auch nicht angesehen werden, da eine solche Verbindung hier nicht statthaft gewesen sei.

Das Verfahren vor dem LSGer. habe im übrigen noch an einem - allerdings nur die Beklagte beschwerenden - Verfahrensmangel gelitten, der es dem Revisionsgericht verwehre, in eine weitere Prüfung einzutreten, da dieser Mangel von Amts wegen zu berücksichtigen sei. Das Urteil des Knappschaftsoberversicherungsamts habe nur den Beginn der Rente und bereits abgelaufene Zeiträume betroffen; mangels Zulassung der Berufung sei daher bereits die Berufung unzulässig gewesen und hätte verworfen werden müssen, ohne daß das LSGer. auf die Beschwer habe eingehen dürfen.

Zu der Frage des Vorliegens einer Beschwer weist die Beklagte auf die zu § 901 RVO entwickelte Rechtsprechung hin, nach der der Verletzte im Rechtsmittelverfahren eine Entscheidung darüber verlangen könne, daß ihm entgegen der Feststellung der Berufsgenossenschaft keine Unfallentschädigung zustehe; sie verneint jedoch eine entsprechende Anwendung dieser Rechtsübung, weil der Rentenversicherungsträger im Falle des § 1274 Abs. 1 RVO nicht an die Feststellungen der Berufsgenossenschaft gebunden sei wie das ordentliche Gericht durch § 901 RVO; eine Beschwer könne nur dann angenommen werden, wenn jemand etwas versagt würde, was er beantragt habe; ... habe ihrer Auffassung nach jedoch schlechthin Unfallrente aus Anlaß seiner Berufskrankheit begehrt.

Die Verpflichtung der Beklagten, den Zeitpunkt der Erkrankung von Amts wegen aufzuklären und festzustellen, verbiete jede vergleichsweise Einigung; ebensowenig sei auch ein Verzicht des Versicherten zulässig.

Das Schreiben vom 26. Juli 1950 sei kein Bescheid gewesen und binde daher die Beklagte nicht.

Auch sachlich hält die Beklagte den von ihr festgesetzten Beginn der Berufskrankheit unter Berufung auf die ärztlichen Gutachten für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

I. Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG vom LSGer. zugelassen. Sie ist daher statthaft, falls nicht, wie die Beklagte geltend macht, entgegen der Annahme des LSGer. dessen Urteil als endgültig anzusehen ist.

Die von der Beklagten vertretene Auffassung, die Bestimmung des § 214 Abs. 5 SGG sei allgemein auch auf Fälle des § 215 Abs. 7 entsprechend anzuwenden, hat der erkennende Senat bereits durch Beschluß vom 14. September 1955 (5 RKn 5/54) verneint; von dieser Rechtsprechung abzuweichen liegt kein Anlaß vor.

II. Es verbleibt mithin noch die Frage, ob diejenigen Fälle, in denen gegen dasselbe Urteil eines Oberversicherungsamts sowohl ein nach § 214 Abs. 4 SGG als Berufung zu behandelnder Rekurs, wie eine vor einem Landesverwaltungsgericht erhobene Klage nach Inkrafttreten des SGG als Berufung nach § 215 Abs. 7 SGG auf das LSGer. übergegangen sind, eine besondere Behandlung rechtfertigen. Die von der Beklagten hierzu vorgetragenen Erwägungen führen nicht weiter; sie setzen ohne weiteres voraus, daß auf alle Fälle die Streitsache gemäß § 214 Abs. 5 in der Berufungsinstanz endgültig erledigt ist und folgern daraus dann Rückwirkungen auf die Berufung gemäß § 215 Abs. 7. Mit derselben Berechtigung könnte man auch von der Bestimmung des § 215 als feststehend ausgehen und alle übrigen daran ausrichten. Zuzugeben ist der Revision allerdings, daß durch das Zusammentreffen beider Berufungen ein unklarer Zustand geschaffen ist, der jedenfalls in der vom Berufungsgericht vorgenommenen Weise nicht wirklich gelöst erscheint. Aus der Begründung zum SGG läßt sich nichts darüber entnehmen, was für diesen Fall vom Gesetzgeber vorgesehen ist. Im Schrifttum ist versucht worden (Dr. Friederichs in Sozialgerichtsbarkeit 1955 S. 35), das Problem derart zu lösen, daß zwar zunächst sowohl für den ursprünglichen Rekurs wie auch für die Berufung an das Landesverwaltungsgericht das Rechtsschutzbedürfnis bejaht werden müsse, daß aber für die Zeit nach Inkrafttreten des SGG nur noch der Berufung nach § 215 Abs. 7 ein solches Bedürfnis zuzusprechen sei; die Berufung nach § 214 Abs. 5 sei daher zu verwerfen, wenn sie nicht vorsorglich vorher zurückgenommen werde.

Falls die beiden Berufungen tatsächlich zwei voneinander zu trennende selbständige Verfahren wären, würde eine derartige Lösung kaum zu vermeiden sein; auch wenn man nicht vom Rechtsschutzbedürfnis, sondern von dem Gedanken der Rechtshängigkeit ausginge, müßte man dazu kommen, daß über eine der Berufungen ein Prozeßurteil zu erlassen wäre, wenn sie nicht vorher zurückgenommen würde.

III. In Wirklichkeit ist der vorliegende Fall jedoch gar nicht an den Grundsätzen auszurichten, welche dafür entwickelt sind, daß derselbe Anspruch in zwei verschiedenen Verfahren geltend gemacht wird. Der hier streitige Anspruch ist vielmehr nur einmal erhoben und auch vom Versicherungsträger und Knappschaftsoberversicherungsamt nur einmal beschieden worden.

Gegen dieses eine Urteil des Knappschaftsoberversicherungsamts sind zwei Rechtsmittel eingelegt worden, die nach Inkrafttreten des SGG beide als an das LSGer. gerichtete Berufungen anzusehen sind. Daraus folgt, daß hier ein Sonderfall der auch sonst vorkommenden "Wiederholung der Berufungseinlegung" vorliegt.

Es ist anerkannt, daß bei wiederholter Rechtsmitteleinlegung der zweite Schriftsatz zunächst nicht die rechtlichen Wirkungen des Rechtsmittels (Hemmung der Rechtsgültigkeit, Suspensionseffekt) haben kann, weil diese Wirkungen schon vorher eingetreten sind. Die zweite Rechtsmitteleinlegung ist trotzdem nicht als unzulässig anzusehen, sie ist nur zunächst wirkungslos. Sie erlangt aber Bedeutung und Wirksamkeit, wenn der erste Einlegungsakt von Anfang an oder nachträglich unwirksam ist bzw. wegfällt (vgl. Stein-Jonas, ZPO, 18. Aufl. § 518 Anm. I 3; RGZ 102, 364). Im letztgenannten Urteil betont das Reichsgericht ausdrücklich, daß keine Rede davon sein könne, daß eine solche wiederholte Prozeßhandlung unzulässig wäre; folgerichtig müsse sonst, - was nie geschehe -, bei vorsorglicher wiederholter Rechtsmitteleinlegung immer eine Verwerfung der weiteren Rechtsmittel erfolgen. Im Regelfall der Wiederholung einer Rechtsmitteleinlegung wird daher bei festgestellter Wirksamkeit der ersten Einlegung der zweite Schriftsatz einer besonderen Entscheidung des Gerichts überhaupt nicht mehr bedürfen; er gewinnt erst Leben und Bedeutung, wenn der erste Schriftsatz nicht wirksam ist oder nachträglich unwirksam wird.

Grundsätzliche Bedenken dagegen, diese für eine wiederholte Rechtsmitteleinlegung entwickelten Grundsätze auf den vorliegenden Fall anzuwenden, bestehen nicht. Das nach den Übergangsvorschriften des SGG bei dem LSGer. eingegangene Rechtsmittel ist in beiden Fällen eine Berufung im Sinne des SGG gegen dasselbe Urteil des Oberversicherungsamts. Wenn man davon absieht, daß der Weg, auf dem diese beiden Rechtsmittelschriftsätze schließlich an das zuständige Gericht gelangt sind, unterschiedlich war, liegt offenbar der einzige Unterschied zu dem oben dargestellten Regelfall darin, daß die Verfahrensvorschriften der einen Art von Berufungseinlegung eine etwas weitergehende Wirkung - Eröffnung der Revisionsmöglichkeit - beilegen als der anderen Art. Diese Verschiedenheit ändert jedoch nichts daran, daß in beiden Fällen gleichermaßen Berufung gegen dasselbe Urteil eingelegt wird, daß also der erste Berufungsschriftsatz insoweit die Wiederholung des anderen ist mit der Besonderheit, daß der nach § 215 Abs. 7 zu behandelnde Schriftsatz über die Wiedergabe seines Begehrens hinaus noch die Revisionsmöglichkeit zum unausgesprochenen Inhalt hat, vergleichbar einer wiederholten Rechtsmitteleinlegung, bei der die eine Rechtsmittelschrift mit ihren Anträgen weitergeht als die andere.

IV. Da erst mit dem Inkrafttreten des SGG die bereits eingelegten Rechtsmittel als Berufungen im Sinne dieses Gesetzes anzusehen sind, konnte es fraglich sein, welche der beiden Einlegungen als zeitlich frühere anzusehen ist, durch die rechtswirksam die Berufungsinstanz eröffnet wird. Einer Entscheidung dieser Frage bedarf es jedoch nicht. Geht die nach § 215 Abs. 7 SGG eingelegte Berufung der nach § 214 Abs. 4 SGG zu behandelnden zeitlich vor, so wäre letztere als die unbeachtliche, keiner besonderen Entscheidung bedürfende Wiederholung der ersteren Berufungseinlegung anzusehen. Ist dagegen die Berufungsschrift nach § 214 Abs. 4 SGG die frühere, so wäre die Berufungseinlegung nach § 215 Abs. 7 nicht völlig bedeutungslos, sondern als Ergänzung der ersten Einlegung insoweit wirksam, als sie über jene hinausgeht, d. h. hinsichtlich der Eröffnung der Revisionsmöglichkeit.

Im Ergebnis hat demnach jede derartig eingelegte Doppelberufung stets nur den Charakter einer einheitlichen, nach § 215 Abs. 7 zu behandelnden Berufung. Einzig in dem hier nicht in Frage kommenden Fall, daß die Berufung nach § 215 Abs. 7 SGG aus irgendeinem Grunde unwirksam wäre, hätte auf die dann allein wirksam bleibende Berufung nach § 214 Abs. 4 SGG ein nach Abs. 5 a. a. O. endgültiges Urteil zu ergehen.

Daraus, daß es sich im vorliegenden Fall um einen Sonderfall der wiederholten Einlegung des gleichen Rechtsmittels in demselben Verfahren handelt, folgt weiter, daß in derartigen Fällen eine Verbindung nach § 113 SGG begrifflich nicht in Frage kommen kann, und daß die oben dargestellten Rechtsfolgen eingetreten sind, ohne daß es dazu noch irgendeiner besonderen Willensäußerung der Berufungsklägerin oder einer besonderen Entscheidung des Gerichts bedurft hätte. Selbstverständlich steht es in einem derartigen Fall der Partei frei, eine ihrer Rechtsmitteleinlegungen zurückzunehmen, ohne daß dadurch die Wirksamkeit des mit einem anderen Schriftsatz eingelegten Rechtsmittels litte; ein Nachteil für die Partei kann in einem solchen Fall nur dann erwachsen, wenn der übrigbleibende und jetzt die Berufung allein tragende Schriftsatz aus irgendwelchen Gründen keine oder doch keine voll wirksame Berufung darstellt.

Im Ergebnis, wenn auch nicht in der Begründung, ist daher die Auffassung des LSGer., es handele sich hier um einen Fall des § 215 Abs. 7 SGG, der es gestatte, die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zuzulassen, nicht zu beanstanden.

Da die Revision zugelassen ist, ist sie als statthaft anzusehen.

V. Die Revision ist auch begründet.

Der anerkannte Rechtsgrundsatz, daß die Voraussetzung einer jeden Klage das Vorhandensein eines Rechtsschutzbedürfnisses ist (vgl. RGZ 160,204 (208), mit weiteren Zitaten), hat für die Sozialgerichtsbarkeit seinen Niederschlag in den §§ 53 bis 55 SGG gefunden. In den Rechtsmittelinstanzen ist dieses Rechtsschutzbedürfnis identisch mit der Beschwer (vgl. Stein-Jonas, ZPO, 18. Aufl. Einl. II vor § 211).

Die Verkennung dieses Begriffs der Beschwer würde eine unrichtige Anwendung revisibler Rechtsnormen im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG darstellen, auf dessen Anwendung die angefochtene Entscheidung auch eindeutig beruht.

Das Berufungsgericht verneint materiell die Beschwer mit dem Hinweis darauf, das Verlangen der Klägerin laufe auf einen späteren Beginn der Unfallrentenzahlung und damit auf eine Verschlechterung ihrer Vermögenslage hinaus; an der Herbeiführung dieses Erfolges auf gerichtlichem Wege könne ein Rechtsschutzbedürfnis nicht anerkannt werden.

Prozessual müsse die Entscheidung, ob eine Anrechnung der Unfallrente auf die Knappschaftsrente zulässig sei, im Streitverfahren gegenüber der Ruhrknappschaft getroffen werden; auch insoweit liege daher keine Beschwer vor.

Diese Erwägungen erscheinen nicht frei von Rechtsirrtum.

VI. Es ist dem Berufungsgericht zwar zuzugeben, daß das Begehren der Klägerin zunächst unmittelbar darauf hinausläuft, daß die Zahlung der Rente für die Berufskrankheit ihres verstorbenen Ehemannes erst zu einem späteren Zeitpunkt einsetzt, und daß daher insoweit eine Verschlechterung ihrer Vermögenslage entstehen würde. Abgesehen davon, daß das Rechtsschutzinteresse nicht allein mit dem Interesse auf Verbesserung der Vermögenslage der Klägerin gleichgesetzt werden darf, und daß demgemäß auch die Tatsache, daß das klägerische Begehren in der vom Berufungsgericht angedeuteten Weise eine Verschlechterung der Vermögenslage der Klägerin herbeizuführen geeignet ist, nicht ohne weiteres ausreicht, um das Rechtsschutzinteresse zu verneinen, darf die Betrachtung des Falles sich auch nicht damit begnügen, bei dieser unmittelbaren Folge stehen zu bleiben. Das Reichsversicherungsamt (RVA.) hat in ständiger Rechtsprechung anerkannt, daß ein Verletzter einen berufsgenossenschaftlichen Bescheid, der ihm eine Unfallrente zuspricht, deshalb anfechten kann, weil eine Entschädigungspflicht der Berufsgenossenschaft mangels Vorliegen eines Arbeitsunfalles überhaupt nicht bestehe (vgl. RVA. Urt. vom 25.11.1911 in Arb. Vers. 29. Jahrgang S. 157 mit weiteren Zitaten). An dieser Auffassung hat das RVA. in ständiger Rechtsprechung festgehalten, es hat darüber hinaus auch Feststellungsklagen über diese Frage zugelassen; es hat schließlich in Fällen, in denen das Vorliegen eines entschädigungspflichtigen Betriebsunfalles durch Urteil verneint war, die Anfechtung dieses Urteils durch die Berufsgenossenschaft mit dem Ziel der Anerkennung des Unfalls als entschädigungspflichtig für zulässig erachtet (z. B. RVA. in AN. 1913, 64; AN. 1917, 527; EuM. 21, 381).

Als Begründung wird vom RVA. neben der Erwägung, daß auf Grund der Bindung des ordentlichen Gerichts (§ 901 RVO) von dieser Entscheidung der Ausgang etwaiger Zivilprozesse abhängen könne, weshalb das rechtliche Interesse zu bejahen sei, stets auch betont, daß die Feststellung auf einer unverzichtbaren, von Amts wegen wahrzunehmenden Fürsorgepflicht beruhe, die einen Anspruch auf richtige Feststellung erzeuge.

Die angeführte Rechtsprechung läßt erkennen, daß schon das RVA. bei seiner Betrachtung nicht nur die unmittelbaren Folgen bei seinen Entscheidungen in Betracht gezogen hat. Diese Rechtsprechung wurde vom RVA. entwickelt, obwohl es dabei den Begriff des Rechtsschutzbedürfnisses - entsprechend der zum Anhalt genommenen Regelung der Zivilprozeßordnung (ZPO) - an dem Vorliegen eines rechtlichen Interesses ausrichten mußte. In dieser Hinsicht ist durch das SGG insofern eine entscheidende Änderung eingetreten, als in dessen § 55 für die Annahme des Rechtsschutzbedürfnisses bei einer Feststellungsklage bereits das Vorliegen eines "berechtigten ... Interesses" als ausreichend angesehen wird.

VII. Ein berechtigtes Interesse daran, daß der Beginn der Berufskrankheit ihres verstorbenen Ehemannes auf einen späteren Zeitpunkt angesetzt wird, kann der Klägerin nicht abgesprochen werden. Es braucht nicht entschieden zu werden, ob für die in dem Verfahren nach § 1274 RVO über das Ruhen der Invalidenrente befindenden Stellen in irgendeiner Form die Feststellungen des Unfallverfahrens rechtlich bindend sind. Auch wenn man davon ausgeht, daß diese Stellen rechtlich völlig frei in der Frage der Feststellung des Zeitpunktes des Beginns der Berufskrankheit wären, läßt sich nicht verkennen, daß die im Unfallverfahren getroffene Feststellung für jenes andere Verfahren hervorragende Bedeutung hat; allein die Beweiskraft jenes im Unfallverfahren ergangenen Bescheides bezw. Urteils wird in aller Regel jede weitere Ermittlung überflüssig erscheinen lassen (vgl. Peters-Sautter-Wolff, SGG, § 55 Anm. 6 c am Ende; der gleiche Rechtsgedanke hat heute sogar im Wiederaufnahmeverfahren seinen Niederschlag gefunden (§ 580 Nr. 6 ZPO), da die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens schon statthaft ist, wenn das angegriffene Urteil auf ein Urteil gegründet ist, das rechtskräftig aufgehoben ist, wobei nicht erforderlich ist, daß der Richter an die frühere Entscheidung rechtlich gebunden war, es vielmehr ausreicht, wenn das Urteil ausdrücklich als Beweismittel benutzt wurde (Baumbach-Lauterbach, ZPO, § 580 Anm.; Stein-Jonas, ZPO, 18. Aufl. zu § 580 III). Die praktische Handhabung durch die Versicherungsträger beweist die Richtigkeit dieser Annahmen.

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts muß daher das Rechtsschutzinteresse der Klägerin an dem mit ihrer Klage geltend gemachten Anspruch bejaht werden.

VIII. Das angefochtene Urteil war daher wegen Verkennung des Begriffs der "Beschwer" aufzuheben. Eine eigene Entscheidung des Bundessozialgerichts ist mit Rücksicht darauf, daß das LSGer. bewußt davon abgesehen hat, Feststellungen über den eigentlichen Streitgegenstand zu treffen, nicht möglich; durch das formlose Schreiben der Beklagten vom 20. Juni 1950, an das entgegen der Auffassung der Klägerin eine rechtliche Bindung nicht besteht, werden die fehlenden Feststellungen nicht ersetzt. Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSGer. zurückzuverweisen.

Als Gebühr des Rechtsanwalts war gemäß § 196 SGG der als angemessen erscheinende Betrag von 160.- DM festzusetzen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1957553

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge