Entscheidungsstichwort (Thema)

besondere berufliche Betroffenheit. besonderes berufliches Betroffensein. Erhöhung der MdE. medizinische MdE. Berufsaufgabe. Erwerbsleben, Ausscheiden aus dem. schädigungsbedingt. Altersgrenze. Beweiserleichterung. Berufsschadensausgleich

 

Leitsatz (amtlich)

Das Ende beruflicher Tätigkeit kommt als Grund für die erstmalige Zuerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit nur dann in Betracht, wenn das Ende durch die Schädigungsfolgen erzwungen worden ist.

Das läßt sich regelmäßig bei Beschädigten nicht mehr nachweisen, die ihren Beruf bis etwa zum 60. Lebensjahr ausgeübt haben.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 2, 1, 3; BSchAV § 8 Abs. 1 S. 3

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 17.02.1995; Aktenzeichen L 8 V 316/94)

SG Stuttgart (Urteil vom 21.12.1993; Aktenzeichen S 7 V 570/93)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Februar 1995 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Bei dem Kläger sind nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) Schädigungsfolgen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 90 vH anerkannt. Mit 60 Jahren wurde ihm ab 1. Juli 1984 antragsgemäß Altersruhegeld wegen anerkannter Schwerbehinderung gewährt. Der Beklagte ist rechtskräftig verurteilt, dem Kläger vom Antragsmonat April 1986 an dem Grunde nach Berufsschadensausgleich (BSchA) wegen des Einkommensverlustes durch schädigungsbedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu gewähren.

Im November 1990 beantragte der Kläger, die MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit höher zu bewerten. Der Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 5. November 1992; Widerspruchsbescheid vom 15. März 1993). Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, dem Kläger ab April 1986 unter Anerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit Versorgung nach einer MdE um 100 vH zu gewähren (Urteil vom 21. Dezember 1993). Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 17. Februar 1995). Der Kläger sei nicht schädigungsbedingt aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, sondern wegen der von seinem Arbeitgeber beabsichtigten Rationalisierungsmaßnahmen. Die als Schädigungsfolge anerkannten Gesundheitsstörungen seien keine gleichwertige Mitursache. Ein schädigungsbedingtes Ausscheiden könne auch nicht unterstellt werden. Die vom Bundessozialgericht (BSG) entwickelten Grundsätze zum schädigungsbedingten Ausscheiden aus dem Erwerbsleben bei Inanspruchnahme besonderer Altersgrenzen für Schwerbeschädigte im Rentenversicherungsrecht ließen sich auf § 30 Abs 2 BVG nicht übertragen.

Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 30 Abs 2 BVG. Die Kausalität der Schädigung für das Ausscheiden aus dem Berufsleben sei nach einheitlichen Grundsätzen sowohl beim BSchA als auch bei besonderer beruflicher Betroffenheit zu beurteilen. Maßgebend sei deshalb nach der Rechtsprechung des BSG, daß der Kläger nur wegen einer wesentlich durch die Schädigungsfolgen bedingten Schwerbehinderung unter gleichzeitiger Erlangung von Altersversorgung aus dem Erwerbsleben habe ausscheiden können.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Februar 1995 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 21. Dezember 1993 zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist nicht begründet.

Das LSG hat das erstinstanzliche Urteil zu Recht aufgehoben, weil die Bescheide, mit denen der Beklagte eine Erhöhung der MdE abgelehnt hat, rechtmäßig sind. Der Kläger ist durch die Art der Schädigungsfolgen beruflich nicht besonders betroffen. Höhere Beschädigtenrente als nach einer MdE um 90 vH steht ihm nicht zu. Das ergibt sich nicht erst durch Feststellung eines tatsächlichen, schädigungsunabhängigen Grundes für das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, den das LSG hier in Rationalisierungsmaßnahmen des Arbeitgebers erkannt hat. Es folgt bereits daraus, daß ein über 60 Jahre alter Beschädigter, wie der Kläger, sich regelmäßig nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg darauf berufen kann, er sei durch die Schädigungsfolgen beruflich besonders betroffen, weil sie ihn gezwungen hätten, sein Erwerbsleben zu beenden.

Die in § 30 Abs 1 BVG geregelte MdE hängt nach Grund und Höhe nicht vom Lebensalter des Beschädigten und nicht von der Beeinträchtigung in seinem ausgeübten oder angestrebten Beruf, sondern nur von der Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben ab. Eine solche von den persönlichen Verhältnissen unabhängige, sogenannte medizinische MdE kann auch einem Kleinkind zuerkannt werden, das lange vor Eintritt in das Schul- und Berufsleben geschädigt wird. § 30 Abs 1 Satz 5 BVG stellt klar, daß die MdE bei jugendlichen Beschädigten nach dem Grad zu bemessen ist, der sich bei Erwachsenen mit gleicher Gesundheitsstörung ergibt. Die medizinische MdE verbleibt auch alten Menschen und wird ihnen auch dann erstmals zuerkannt, wenn sie lange nach Ende des Berufslebens als bereits Erwerbsunfähige geschädigt werden. § 31 Abs 1 Satz 2 BVG sieht für Schwerbeschädigte, die das 65. Lebensjahr bereits vollendet haben, sogar eine – nach MdE-Graden gestaffelte – Erhöhung der Grundrente vor.

Anders als bei Beurteilung der medizinischen MdE nach § 30 Abs 1 BVG kann bei ihrer Höherbewertung wegen besonderer beruflicher Betroffenheit nach § 30 Abs 2 BVG Beginn und Ende des Berufslebens nicht unberücksichtigt bleiben. Schon aus dem Begriff der besonderen beruflichen Betroffenheit ergibt sich, daß eine Höherbewertung grundsätzlich nur für die Zeit beruflicher Tätigkeit, also während des Erwerbslebens in Betracht kommt. Die MdE ist deshalb noch nicht höher zu bewerten, solange noch kein Beruf ausgeübt wird oder auch ohne Schädigungsfolgen noch nicht hätte ausgeübt werden können; sie ist nicht mehr höher zu bewerten, nachdem die Berufsausübung mit dem Ende der Erwerbstätigkeit geendet hat. Lediglich der Vorteil einer schon während des Erwerbslebens wegen besonderer beruflicher Betroffenheit erhöhten MdE bleibt dem Beschädigten als Besitzstand auch nach Ausscheiden aus dem Erwerbsleben regelmäßig erhalten. Die Voraussetzungen für die Entziehung des auf die berufliche Betroffenheit entfallenden MdE-Anteils sind durch die Beendigung des Berufslebens allein nicht erfüllt (vgl BSGE 14, 172 = SozR § 30 BVG Nr. 10; BSGE 36, 21 = SozR § 30 BVG Nr 66; BSGE 55, 292 = SozR 1300 § 48 Nr 6).

Das BSG hat in diesen Urteilen im einzelnen begründet, daß sich die Folgen einer im Berufsleben oft jahrzehntelang erduldeten beruflichen Betroffenheit noch im Ruhestand auswirken können, so daß nicht ohne weiteres erkannt werden kann, daß das Ende jeder beruflichen Tätigkeit auch das Ende der beruflichen Betroffenheit bedeutet. Das Ende der beruflichen Tätigkeit kommt als Grund für die erstmalige Zuerkennung einer beruflichen Betroffenheit aber nur dann in Betracht, wenn es durch die Schädigungsfolgen erzwungen worden ist.

Diese Voraussetzung hat das LSG hier zu Recht verneint. Beruflich besonders betroffen ist nur, wessen Berufs- und Erwerbsleben durch die Art der Schädigungsfolgen verkürzt wird. Nicht besonders betroffen ist, wer die Erwerbsphase trotz der Schädigungsfolgen voll ausschöpft. Wie lange diese Phase dauern soll, ist zwar eine individuelle Entscheidung. Sie ist in der modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft durch äußere Vorgaben aber weitgehend standardisiert. Das Berufs- und Erwerbsleben endet allgemein spätestens mit Vollendung des 65. Lebensjahres. Wer zu diesem Zeitpunkt ausscheidet, kann sich nicht darauf berufen, an weiterer Erwerbstätigkeit durch die Schädigungsfolgen gehindert und deshalb beruflich besonders betroffen zu sein. Die Erhöhung der MdE nach § 30 Abs 2 BVG ist keine Prämie für schädigungsbedingten Verzicht auf weitere Berufstätigkeit am Ende eines durch Schädigungsfolgen unbeeinflußten und nach allgemein geltenden Maßstäben vollendeten Berufs- und Erwerbslebens. Dieses endet in einer großen Zahl von Fällen bereits um Jahre vor der allgemeinen Altersgrenze mit einem Alter von Ende 50 oder Anfang 60. Das ergibt sich aus den Rentenstatistiken für Arbeiter und Angestellte. Bei Beginn der Altersversorgung aus der gesetzlichen Rentenversicherung waren danach 1993 etwa ebenso viele Versicherte 60 bis 63 Jahre alt wie 65 Jahre und älter (vgl Statistisches Jahrbuch 1995 für die Bundesrepublik Deutschland, S 467). Je älter der Beschädigte wird, um so schwieriger wird es, den Nachweis schädigungsbedingten Ausscheidens zu erbringen, weil mit zunehmendem Lebensalter auch Nichtbeschädigte aus unterschiedlichen, auch für Beschädigte geltenden Gründen in immer größerer Zahl das Erwerbsleben aufgeben. Etwa mit Erreichen des 60. Lebensjahres verschlechtert sich die Beweislage entscheidend zu Lasten des Beschädigten. Anders als bei einem Beschädigten mittleren Lebensalters fehlen ab dann regelmäßig äußere Anhaltspunkte dafür, daß der schädigungsbedingte Motivanteil für das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wesentlich ist, weil sich Beschädigte und Nicht beschädigte aus den verschiedensten, auch gebündelten Motiven bei diesem Schritt ununterscheidbar gleichförmig verhalten (vgl zur Frage, wann der Zwang zur Anschaffung eines automatischen Kfz-Getriebes noch als schädigungsbedingt angesehen werden kann: BSGE 73, 142, 144 = SozR 3-3100 § 11 Nr 1).

Der Kläger beruft sich demgegenüber ohne Erfolg auf Beweiserleichterungen, die er aus der Rechtsprechung des Senats zum Anspruch auf BSchA herleitet. Nach dieser Rechtsprechung sind Schädigungsfolgen im allgemeinen schon dann als wesentliche Ursache für vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und einen dadurch eingetretenen Einkommensverlust anzusehen, wenn sich der Beschädigte auf eine wesentlich durch Schädigungsfolgen bedingte Schwerbehinderung berufen muß, um gleichzeitig mit dem Ausscheiden eine Altersversorgung zu erlangen (vgl zuletzt BSGE 74, 195 = SozR 3-3100 § 30 Nr 10). Damit sind Schwerbeschädigte beim Zugang zum kriegsopferrechtlichen Versorgungsfall des BSchA nach § 30 Abs 3 BVG schwerbehinderten Arbeitnehmern und Beamten gleichgestellt, die mit 60 Jahren allein durch ihren Antrag und die Vorlage des Schwerbehindertenausweises den Versicherungsfall oder den beamtenrechtlichen Versorgungsfall herbeiführen können. Schwerbeschädigten wird nicht zugemutet, was Schwerbehinderten nach dem Rentenversicherungs- und Beamtenversorgungsrecht erspart bleibt, und was Verwaltungsbehörden und Gerichte überfordern würde: den Nachweis zu führen, daß schädigungsbedingte, gesundheitliche Gründe für die Berufsaufgabe maßgeblich waren, wenn mit 60 Jahren Altersruhegeld vorzeitig in Anspruch genommen worden ist (BSG SozR 3100, § 30 Nr 78; SozR 3-3642 § 8 Nr 5).

Daraus folgt aber nicht, daß in solchen Fällen zugleich vermutet werden müßte, der Beschädigte erfülle auch die Voraussetzung schädigungsbedingten Ausscheidens für den Anspruch auf Höherbewertung seiner MdE. Die Beweisschwierigkeiten sind hier wie dort zwar dieselben. Im Unterschied zum Anspruch auf BSchA nach § 30 Abs 3 BVG lassen sie sich hier jedoch nicht durch eine Beweiserleichterung beheben. Dort konnte der Senat an die im Rentenversicherungs- und im Beamtenrecht vorgezeichnete Beweiserleichterung anknüpfen und sich mit § 8 Abs 1 Satz 3 Berufsschadensausgleichsverordnung (BSchAV) auf eine Beweisvorschrift aus dem Recht des BSchA stützen (vgl BSGE 74, 195, 198 = SozR 3-3100 § 30 Nr 10). Eine solche ausdrückliche Beweiserleichterung fehlt bei der Höherbewertung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit. Es ist auch nicht geboten, die für den BSchA geltende Beweiserleichterung hier entsprechend anzuwenden. Sie würde im Unterschied zu dem nur für längstens fünf Jahre, nämlich für die Zeit vom 60. bis zum 65. Lebensjahr nach dem ungekürzten Vergleichseinkommen zu zahlenden BSchA (vgl die Kürzungsvorschrift des § 8 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BSchAV), dazu führen, daß die erhöhte MdE auf Dauer erhalten bleibt, ohne daß dem in vielen Fällen nennenswerte Einkommenseinbußen durch die Schädigungsfolgen vorangegangen sind. Die Beweisschwierigkeiten wirken sich deshalb regelmäßig dahin aus, daß es einem 60jährigen Beschädigten mit Anspruch auf Altersruhegeld wegen anerkannter Schwerbehinderung – wie hier – nicht gelingen wird, ein schädigungsbedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nachzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 147

Breith. 1996, 576

SozSi 1997, 76

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