Leitsatz (amtlich)

Eine 6monatige Tätigkeit als Heimerzieherpraktikant ist dann Berufsausbildung, wenn sie dazu dient, die Zeit zwischen Reifeprüfung und nächstmöglicher Immatrikulation an einer Pädagogischen Hochschule zu überbrücken.

 

Normenkette

RVO § 1267 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1964-08-17

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 1. September 1965 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger für die Zeit vom 1. April bis zum 30. September 1964 die verlängerte Waisenrente - § 1267 Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) - zusteht. Bis zum 1. April 1964 und während seines Studiums an einer Pädagogischen Hochschule - vom 1. Oktober 1964 an - hat er Waisenrente bezogen.

Abweichend von der Entscheidung der Beklagten (Bescheid vom 14. Mai 1964) haben Sozialgericht - SG - (Urteil vom 6. Mai 1965) und Landessozialgericht - LSG - (Urteil vom 1. September 1965) den vom Kläger geltend gemachten Anspruch bejaht. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG hat der am 3. Juni 1945 geborene Kläger im Anschluß an die Reifeprüfung im Frühjahr 1964 die Zulassung zum Studium an der Pädagogischen Hochschule in B zum Sommersemester 1964 beantragt. Im Hinblick auf die große Zahl der Bewerbungen wurde ihm die Immatrikulation jedoch erst zum Wintersemester 1964/1965 zugesagt. Zugleich wurde ihm empfohlen, sich für die Zwischenzeit beim Sozialamt seines Wohnbezirks um ein auf das Studium vorbereitendes Praktikum zu bemühen. Demgemäß übernahm der Kläger in der Zeit vom 1. April bis zum 30. September 1964 ganztags eine Beschäftigung als Heimerzieher-Praktikant in einem Kinderheim in B. Er hatte dort Kinder und Jugendliche im Alter von zwei bis fünfzehn Jahren zu betreuen und auch Schularbeiten zu beaufsichtigen. Zur besonderen Betreuung und Förderung waren ihm zwei dreizehn- bis fünfzehnjährige Jungen anvertraut.

In den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ist ausgeführt: Die Tätigkeit des Klägers als Heimerzieher-Praktikant sei als Schul- oder Berufsausbildung im Sinne des § 1267 RVO anzusehen. Sie habe seine Arbeitskraft in einem solchen Umfang in Anspruch genommen, daß es ihm unmöglich gewesen sei, außerhalb der hierfür erforderlichen Zeit einem Lohnerwerb nachzugehen. Es komme nicht darauf an, daß die gewählte Ausbildung in den Ausbildungsvorschriften für den erstrebten Beruf nicht gerade vorgeschrieben sei oder als berufsüblich und fachlich notwendig bezeichnet werde. Die Erlernung einzelner Tätigkeiten und Fähigkeiten müsse schon dann als Schul- oder Berufsausbildung angesehen werden, wenn sie geeignet sei, das Fortkommen in dem erstrebten Beruf zu fördern oder zu erleichtern. Dies sei hier der Fall. Nach den Bestimmungen des Senators für Inneres vom 27. Februar 1957 - Dienstblatt des Senats von Berlin, Teil I, S. 88 ff, Nr. I/44 - stehe im Rahmen der Tätigkeit als Heimerzieher-Praktikant der Ausbildungszweck im Vordergrund. Für den Kläger als angehenden Lehrer sei nicht allein die wissenschaftliche Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule wichtig. Die Praktikantentätigkeit habe ihn in die Lage versetzt, den richtigen Umgang mit Kindern zu erlernen. - Der Unterhaltszuschuß von DM 200,- brutto monatlich, den der Kläger bezogen habe, schließe die Annahme eines Ausbildungsverhältnisses nicht aus.

Gegen dieses Urteil richtet sich die - zugelassene - Revision der Beklagten. Sie rügt die fehlerhafte Anwendung des § 1267 RVO. Zur Begründung führt sie aus, ein Praktikum könne nur dann als Berufsausbildung angesehen werden, wenn ohne seine Durchführung das Berufsziel nicht zu erreichen sei. Das vom Kläger abgeleistete Heimerzieher-Praktikum sei weder notwendige Voraussetzung noch sonst entscheidend für die erfolgreiche Beendigung des Studiums an einer Pädagogischen Hochschule. Dies ergebe sich schon daraus, daß es auf die im 4. Semester abzuleistende Pflichtpraktika von jeweils sechs Wochen nicht angerechnet werde.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Die Revision hat keinen Erfolg; die Vorinstanzen haben dem Kläger zu Recht in Anwendung des § 1267 RVO - hiernach wird die Waisenrente längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres für ein unverheiratetes Kind gewährt, das sich in Schul- oder Berufsausbildung befindet - die Waisenrente auch für die Zeit vom 1. April bis zum 30. September 1964 zugesprochen. Sie sind zutreffend davon ausgegangen, daß die Entscheidung allein von der Beantwortung der Frage abhängig ist, ob auch die Zeit, in der der Kläger als Heimerzieher-Praktikant beschäftigt war, als Schul- oder Berufsausbildung gilt. Alle übrigen Voraussetzungen für die Gewährung der Waisenrente liegen vor.

Der Senat hat die vorbezeichnete Frage - in Übereinstimmung mit dem SG und dem LSG - bejaht. Der Fall des Klägers ist dadurch gekennzeichnet, daß der Studienbeginn sich nicht nur um wenige Wochen, sondern um sechs Monate verzögert hat. Dabei ist zunächst erheblich, daß es sich um eine Unterbrechung des vorgesehenen Ausbildungsganges handelte, deren Gründe nicht in der Person des Klägers lagen und die von ihm auch nicht zu vertreten waren. Es mag nun zweifelhaft sein, ob die früher vom Bundessozialgericht - BSG - (vgl. insbesondere BSG 24, 241 ff, SozR Nr. 7 zu § 1267 RVO) entwickelten Grundsätze auch auf den Kläger anzuwenden sind. Dafür, daß auch hier Schulzeit und Besuch der Pädagogischen Hochschule (einschließlich der 6-monatigen Unterbrechung) als einheitlicher Ausbildungsvorgang angesehen werden könnten, spricht immerhin der Umstand, daß das Studium zwar nicht zu dem allgemein frühesten, jedoch zu dem im Einzelfall nächstmöglichen Zeitpunkt begonnen wurde. Doch mag dies auf sich beruhen. In dem vorliegenden Fall gehört die Praktikantentätigkeit schon aus anderen Gründen zur Berufsausbildung des Klägers, obwohl sie nicht notwendige Voraussetzung für den von ihm angestrebten Beruf war. Das ist auch nicht zu verlangen. Sinn und Zweck der Waisenrente verbieten eine allzu enge Auslegung des Gesetzes. Die Waisenrente dient dazu, dem Berechtigten beim Vorliegen der Voraussetzungen eine Existenzgrundlage zu schaffen (vgl. insbesondere BSG in SozR Nrn. 13 und 20 zu § 1267 RVO). Ihre Gewährung soll dem Kind und seinem Erziehungsberechtigten die Entscheidung für eine möglichst gründliche und qualifizierte Berufsausbildung ermöglichen oder erleichtern sowie die Realisierung der gewählten Ausbildung gewährleisten (vgl. BSG in SozR Nr. 16 zu § 1267 RVO).

Mit diesem Zweck wäre die Gesetzesinterpretation nicht vereinbar, daß nur zwingend vorgeschriebene Voraussetzungen für die Erreichung eines Berufszieles als Ausbildung im Sinne des § 1267 RVO in Betracht kommen könnten. Die technische und wirtschaftliche Entwicklung läßt es in praktisch allen Berufszweigen als notwendig erscheinen, daß Fähigkeiten und Kenntnisse erworben werden, die über das vorgeschriebene Maß hinausgehen. Eine möglichst umfassende Ausbildung dient einerseits dem Auszubildenden selbst; sie bietet eine Voraussetzung dafür, daß er den Leistungsanforderungen besser gerecht wird, das Berufsziel bald erreicht und auf einen künftig vielleicht notwendig werdenden Berufswechsel eher vorbereitet ist. Andererseits liegt eine breit angelegte Vor- und Ausbildung in ganz besonderem Maße im Interesse der Allgemeinheit. Der Beklagten ist zwar zuzugeben, daß man Lehrer werden kann, wenn man sich an den zwingend vorgeschriebenen Ausbildungsgang hält. Es muß aber als sinnvoll und nützlich angesehen werden, wenn darüber hinaus - so wie es der Kläger im Rahmen seines Heimerzieher-Praktikums getan hat - weitere pädagogische Kenntnisse erworben und praktische Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt werden.

Ob diese Erwägungen dazu führen können, daß jede Unterbrechung des vorgeschriebenen Ausbildungsganges, die durch eine im Hinblick auf den angestrebten Beruf nützliche und sinnvolle Beschäftigung ausgefüllt wird, als Berufsausbildung zu werten ist, kann unentschieden bleiben. Sie machen jedenfalls deutlich, wie zu verfahren ist, wenn eine Zwangspause in dem vorgeschriebenen Ausbildungsplan auf die beschriebene Weise ausgefüllt wird. Der junge Mensch soll nicht gezwungen sein, während der Ausbildungspause zur Sicherung seines Lebensunterhalts eine berufsfremde Tätigkeit aufzunehmen. In dieser Zeit ist vielmehr eine für das Berufsziel nützliche und sinnvolle Beschäftigung oder Tätigkeit anzustreben. Es ist daher nicht vertretbar, daß der Träger der Rentenversicherung in derartigen Fällen die finanzielle Grundlage durch Versagung der Waisenrente beseitigt.

In dem zu entscheidenden Fall sind die angezeigten Voraussetzungen erfüllt. Die Beschäftigung als Heimerzieher-Praktikant, durch die der Kläger die von ihm nicht zu vertretende Unterbrechung zwischen Abitur und Beginn des pädagogischen Studiums überbrückt hat, ist Berufsausbildung; ihm steht auch für diese Zeit die Waisenrente nach § 1267 RVO zu.

Die Revision muß hiernach zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284881

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