Leitsatz (amtlich)

Bei der Ermittlung der Versicherungsjahre sind gemäß § 10 WGSVG nachentrichtete Beiträge als solche neben einer pauschalen Ausfallzeit anzurechnen, selbst wenn sie in eine (kürzere) nachgewiesene Ausfallzeit fallen (Anschluß an BSG 28.3.1984 5b RJ 30/83; Ergänzung zu BSG 9.9.1982 5b RJ 60/81 = SozR 2200 § 1258 Nr 2).

 

Normenkette

RVO § 1258 Abs 1 Fassung: 1957-02-23, § 1255 Abs 7 S 2 Fassung: 1971-12-22; ArVNG Art 2 § 14 Abs 1 Fassung: 1981-12-01; WGSVG § 10 Abs 1 S 3 Fassung: 1970-12-22

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 31.05.1983; Aktenzeichen L 13 J 7/83)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 10.11.1982; Aktenzeichen S 5 (14) J 119/79)

 

Tatbestand

Die Beklagte gewährte dem 1913 geborenen Kläger mit Bescheid vom 30. November 1977 flexibles Altersruhegeld für die Zeit von April 1977 an. Anstatt einer kürzeren nachgewiesenen Ausfallzeit vom 4. April 1932 bis zum 15. Mai 1933 legte sie der Rentenberechnung eine mit 53 Monaten ermittelte pauschale Ausfallzeit zugrunde. Fünf Monatsbeiträge, die der Kläger gemäß § 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Mai 1933 nachentrichtet hatte, wurden gemäß Art 2 § 14 Abs 1 Satz 4 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) bei der Ermittlung der pauschalen Ausfallzeit als Versicherungszeit von der Gesamtzeit abgezogen. Sie blieben jedoch sowohl bei der Feststellung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre als auch bei der Berechnung der persönlichen Bemessungsgrundlage unberücksichtigt.

Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat die Beklagte durch Urteil vom 10. November 1982 verpflichtet, die für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Mai 1933 nachentrichteten Beiträge als Versicherungszeit anzurechnen und ein höheres Altersruhegeld zu zahlen. Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und im Urteil vom 31. Mai 1983 ausgeführt, die für die Zeit von Januar bis Mai 1933 nachentrichteten Beiträge seien bei der Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre neben der pauschalen Ausfallzeit rentensteigernd zu berücksichtigen (Hinweis auf Bundessozialgericht -BSG-, Urteile vom 30. Juni 1981 - 5b/5 RJ 126/79 - und vom 9. September 1982 - 5b RJ 60/81 = SozR 2200 § 1258 Nrn 1 und 2). Zwar fielen die Beiträge in eine nachgewiesene Ausfallzeit; die zur Anrechnung gelangte pauschale Ausfallzeit entfalle aber nicht auf denselben Zeitraum, weil die Versicherungslücke, die durch die Ausfallzeitpauschale teilweise geschlossen werde, die streitigen fünf Beitragsmonate nicht umfasse. Zutreffend seien diese Beiträge von der Beklagten auch bei der Ermittlung der pauschalen Ausfallzeit als Versicherungszeiten gewertet worden.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision macht die Beklagte geltend, es sei nicht einsehbar, daß bei der Ermittlung der persönlichen Bemessungsgrundlage Beiträge, die in einer nachgewiesenen Ausfallzeit entrichtet seien, außer Ansatz blieben, wenn die pauschale Ausfallzeit zugrunde gelegt werde (Hinweis auf BSG, Urteil vom 18. Januar 1978 - 1 RA 1/77 = SozR 2200 § 1255 Nr 8), während bei den Versicherungsjahren diese Beiträge und die pauschale Ausfallzeit addiert werden sollten.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Zu Recht hat das LSG die Berufung gegen das zusprechende Urteil des SG zurückgewiesen. Dabei bedarf allerdings der Tenor des SG-Urteils der Auslegung an Hand der Entscheidungsgründe. Wenn danach die Beklagte verurteilt worden ist, die für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Mai 1933 nachentrichteten Beiträge als Versicherungszeiten anzurechnen (und höheres Altersruhegeld zu zahlen), so kann diese Formulierung zwar zu Mißverständnissen führen, aus den Urteilsgründen ergibt sich aber, daß die Beiträge bei der Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre (§ 1258 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) neben der pauschalen Ausfallzeit zu berücksichtigen sein sollen.

Dieser Anspruch steht dem Kläger zu, wie die Vorinstanzen zutreffend entschieden haben.

Die Zeit, um die es hier geht, sind die Monate Januar bis Mai 1933. Für diese Zeit hat der Kläger aufgrund einer Bewilligung der Beklagten fünf Monatsbeiträge wirksam nachentrichtet, so daß diese als rechtzeitig entrichteten Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit gelten (§ 10 Abs 1 Satz 3 WGSVG). Als Beitragszeiten gehören sie zu den auf die Wartezeit anrechenbaren Versicherungszeiten nach §§ 1249 bis 1251 RVO und sind gemäß § 1258 Abs 1 RVO bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre iS der §§ 1253 und 1254 zu berücksichtigen; mit den Versicherungszeiten werden die Ausfallzeiten (§ 1259 RVO) und die Zurechnungszeit (§ 1260 RVO) zusammengerechnet, soweit sie nicht auf dieselbe Zeit entfallen. Dies bedeutet zum einen, daß eine kalendermäßig bestimmte Zeit für die Versicherungsjahre iS von § 1258 Abs 1 RVO nur einmal in Ansatz gebracht werden kann; andererseits ist aber dieser Vorschrift auch eine Rangfolge zu entnehmen, derzufolge die versicherungsrechtlich "stärkere" Zeit die schwächere verdrängt (vgl Großer Senat -GS- Beschluß vom 9. Dezember 1975 - GS 1/75 = BSGE 41, 41, 51 = SozR 2200 § 1259 Nr 13 sowie Urteil des Senats vom 28. September 1978 - 4/5 RJ 2/77 = SozR 2200 § 1255 Nr 9 S 14 f jeweils mwN).

Hiernach ist die Zeit von Januar bis Mai 1933 auch bei der Anwendung des § 1258 Abs 1 RVO als Beitragszeit anzusetzen; eine Berücksichtigung als Ausfallzeit kann schon wegen des dargelegten Verdrängungseffektes nicht erfolgen. Das gilt sowohl für die Berücksichtigung nachgewiesener Ausfallzeiten als auch bei der Ermittlung der Ausfallzeitpauschale; in diesem Fall ist der Zeitraum ebenfalls als Versicherungszeit iS des Art 2 § 14 Abs 1 Satz 4 ArVNG anzusetzen und kann demgemäß nicht als "verbleibende Zeit" nach Satz 5 dieser Vorschrift berücksichtigt werden. Deswegen hätte die Beklagte auch bei der Gegenüberstellung, ob die nachgewiesene Ausfallzeit länger ist als die Ausfallzeitpauschale, von der nachgewiesenen Ausfallzeit die in diese fallenden fünf Beitragsmonate Januar bis Mai 1933 abziehen müssen bzw. nicht als nachgewiesene Ausfallzeit ansetzen dürfen.

Dementsprechend hat zwar die Beklagte auch zutreffend bei der Ermittlung der pauschalen Ausfallzeit nach Art 2 § 14 Abs 1 Satz 4 des ArVNG die strittigen fünf Beitragsmonate als Versicherungszeit angesehen, eine Ausfallzeitpauschale von 53 Monaten errechnet und diese gemäß Art 2 § 14 Abs 1 Satz 1 ArVNG für die Zeit vor 1957 den Versicherungsjahren zugrunde gelegt, da der Kläger keine längeren Ausfallzeiten nachgewiesen hat. Entgegen ihrer Verfahrensweise darf sie jedoch deswegen, weil die nachentrichteten Beiträge in die kürzere und daher nicht zugrunde gelegte nachgewiesene Ausfallzeit fallen, diese bei der Ermittlung der Anzahl der Versicherungsjahre nicht außer Ansatz lassen. Daß auch in einem solchen Fall die Beitragszeiten nach § 1258 Abs 1 RVO zu berücksichtigen sind, hat im übrigen der 5. Senat des BSG nicht nur in den erwähnten Urteilen vom 30. Juni 1981 und 9. September 1982 (SozR 2200 § 58 Nrn 1, 2) entschieden, sondern neuerdings auch durch Urteil vom 28. März 1984 - 5b RJ 30/83 - zu einem Sachverhalt, bei dem es sich ebenfalls um gemäß § 10 WGSVG nachentrichtete Beiträge handelte.

Das Argument der Beklagten, die pauschale Ausfallzeit umfasse eine kürzere nachgewiesene Ausfallzeit, so daß deshalb die während dieser entrichteten Beiträge wegen § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre unberücksichtigt bleiben müßten, greift nicht durch. Zwar hat der 1. Senat im Urteil vom 18. Januar 1978 - 1 RA 1/77 - (SozR 2200 § 1255 Nr 8) ausgeführt, die Anwendung des § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO auf freiwillige, während einer nachgewiesenen Ausfallzeit entrichtete Beiträge scheitere nicht daran, daß der Rentenberechnung eine pauschale Ausfallzeit zugrunde gelegt werde, welche die kürzere Ausfallzeit "umfasse". Indessen ist bereits vom 5. Senat darauf hingewiesen worden (SozR 2200 § 1258 Nr 1), das Urteil des 1. Senats betreffe nicht die Frage, ob die während eines Ausfallzeittatbestandes entrichteten Beiträge neben einer Ausfallzeit bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre zu berücksichtigen seien, sondern die davon zu unterscheidende Frage der Berechnung der persönlichen Bemessungsgrundlage; auch wenn eine Versicherungszeit bei der Ermittlung dieser Bemessungsgrundlage ausnahmsweise außer Ansatz bleibe, folge daraus nicht ihre Nichtberücksichtigung bei der Ermittlung der Versicherungsjahre. Abgesehen davon aber, daß sich auch der 1. Senat auf den Sinn und Zweck des § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO bezogen hat, ist im vorgenannten Urteil des 5. Senats und mehr noch in dem Urteil vom 28. März 1984 hervorgehoben worden, daß die pauschale Ausfallzeit ohne konkrete Festlegung auf bestimmte Zeiträume eine Verlängerung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre iS des § 1258 Abs 1 RVO bewirkt. Der erkennende Senat schließt sich diesem Verständnis des Art 2 § 14 Abs 1 ArVNG aus den bereits dargelegten Gründen an. Hinzu kommt folgendes: Neben dem Sinn und Zweck der Vorschrift, eine durch Beweisschwierigkeiten entstandene Versicherungslücke zum Teil schließen zu helfen (zumal manche der 1957 eingeführten Ausfallzeittatbestände früher unter keinem versicherungsrechtlichen Aspekt relevant waren), spricht vor allem die Berechnungsmethode, vom Ausmaß der vorhandenen Versicherungszeiten nach einer bestimmten Formel zur Anrechnung einer pauschalen Ausfallzeit zu gelangen, für eine (im zeitlichen Sinn) nicht "lokalisierbare" Ausfallzeitpauschale. Insbesondere aber kann die Ausfallzeitpauschale stets nur ein Teil der "verbleibenden Zeit" iS von Art 2 § 14 Abs 1 Satz 5 und damit nicht zugleich Versicherungszeit iS von Satz 4 sein.

Soweit sich die Beklagte auf § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO beruft, liegt ihr Vorbringen neben der Sache, weil der Kläger zur Höhe der von der Beklagten errechneten persönlichen Bemessungsgrundlage weder Einwendungen erhoben noch Ansprüche geltend gemacht hat. Deshalb ist für den vorliegenden Streitgegenstand auch ohne Belang, daß während einer anrechenbaren Ausfallzeit entrichtete Pflichtbeiträge jedenfalls dann bei der Ermittlung der persönlichen Bemessungsgrundlage zu berücksichtigen sind, wenn ihre Anrechnung zu einer höheren Rente führt (Bundesverfassungsgericht -BVerfG-, Beschluß vom 8. Februar 1983 - 1 BvL 28/79 = SozR 2200 § 1255 Nr 17). Festzuhalten bleibt, daß § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO eine eng auszulegende Berechnungsvorschrift (zur Feststellung der persönlichen Bemessungsgrundlage) ist, die an der Funktion der Beitragszeit - zB für den Leistungserwerb - nichts ändert (BSGE aaO S 128). Das heißt, lediglich hinsichtlich der Zuordnung von Werteinheiten - begrenzt auf den Anwendungsbereich des § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO - kann eine Beitragszeit durch eine Ausfallzeit "verdrängt" werden.

Wenn gleichwohl den Versicherten in Fällen wie dem vorliegenden eine gewisse Vergünstigung gegenüber anderen Personengruppen eingeräumt sein mag, so liegt das an der vom Gesetzgeber gewollten Rechtswohltat des § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO iVm der in § 10 WGSVG eingeräumten Befugnis, nachträglich Zeiten, die nachgewiesene Ausfallzeiten sind, mit Beiträgen zu belegen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661494

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