Entscheidungsstichwort (Thema)

Konkurrenz zwischen Ausfallzeit und Beitragszeit

 

Leitsatz (amtlich)

AVG § 32 Abs 7 S 2 (= RVO § 1255 Abs 7 S 2) findet auch auf freiwillige Beiträge Anwendung, die in einer von der pauschalen Ausfallzeit iS von AnVNG Art 2 § 14 (= ArVNG Art 2 § 14) umfaßten nachgewiesenen - kürzeren - Ausfallzeit entrichtet worden sind (Anschluß an BSG 1976-11-24 1 RA 131/75 = SozR 2200 § 1255 Nr 6).

 

Normenkette

AVG § 32 Abs. 7 S. 2 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1255 Abs. 7 S. 2 Fassung: 1965-06-09; AVG § 37a Fassung: 1965-06-09; RVO § 1260a Fassung: 1965-06-09; AnVNG Art. 2 § 14 Fassung: 1965-06-09; ArVNG Art. 2 § 14 Fassung: 1965-06-09

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 06.10.1976; Aktenzeichen L 3 An 1181/74)

SG Konstanz (Entscheidung vom 27.05.1974; Aktenzeichen S 3 An 1675/72)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 6. Oktober 1976 und das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 27. Mai 1974 aufgehoben.

Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 15. September 1972 wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die von der Klägerin während einer nachgewiesenen Ausfallzeit entrichteten freiwilligen Beiträge bei der Rentenberechnung gemäß § 32 Abs 7 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) nicht zu berücksichtigen sind, obwohl anstelle der konkreten Ausfallzeit des § 36 Abs 1 AVG die pauschale Ausfallzeit im Sinne des Art 2 § 14 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) tritt.

Die Beklagte gewährte der Klägerin das Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres vom 1. Juli 1972 an. Bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre legte sie an Beitragszeiten 398 Kalendermonate und an Ausfallzeiten 30 Kalendermonate - davon 29 Monate pauschale Ausfallzeit - zugrunde. Bei der Feststellung der Rentenbemessungsgrundlage blieben jedoch die 14 Beiträge der Klasse K, welche die Klägerin für die Zeit von November 1939 bis Dezember 1940 während ihrer - als Ausfallzeit anerkannten - Fachschulausbildung entrichtet hatte, unberücksichtigt (Bescheid vom 15. September 1972).

Der hiergegen erhobenen Klage gab das Sozialgericht (SG) statt (Urteil vom 27. Mai 1974). Die Berufung der Beklagten wurde vom Landessozialgericht (LSG) im wesentlichen mit folgender Begründung zurückgewiesen:

Der Normzweck des durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 9. Juni 1965 (RVÄndG) eingeführten § 32 Abs 7 Satz 2 AVG gehe dahin, durch Nichtberücksichtigung der während einer anzurechnenden Ausfall- oder Zurechnungszeit entrichteten - meist niedrigen - Beiträge ein Herabsinken der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage zu vermeiden. Die im Schrifttum umstrittene Frage, ob die Vorschrift auch dann anzuwenden sei, wenn anstelle der nachgewiesenen konkreten Ausfallzeit des § 36 AVG die pauschale Ausfallzeit im Sinne von Art 2 § 14 AnVNG anzurechnen sei, müsse verneint werden. Die pauschale Ausfallzeit unterscheide sich von der konkreten grundsätzlich dadurch, daß sie an andere Voraussetzungen geknüpft und nicht auf eine bestimmte Zeitspanne beschränkt sei. Auch wenn die Zeit der Fachschulausbildung der Klägerin zu den "anrechenbaren" Ausfallzeiten gehöre und kürzer sei als die tatsächlich zuerkannte pauschale Ausfallzeit, erscheine es wegen der unterschiedlichen Ausgestaltung und Zielsetzung des § 36 AVG und des Art 2 § 14 AnVNG nicht gerechtfertigt, § 32 Abs 7 Satz 2 AVG direkt oder analog auf die pauschale Ausfallzeit anzuwenden. Hätte der Gesetzgeber dies gewollt, so hätte er seine dahingehende Absicht durch eine entsprechend andere Fassung des § 32 Abs 7 Satz 2 AVG, etwa durch Verwendung der Worte "während einer Ausfallzeit" oder "anrechenbaren Ausfallzeit" anstelle von "anzurechnenden Ausfallzeit" oder in anderer geeigneter Weise zum Ausdruck gebracht. In Ermangelung dessen und im Hinblick auf die grundsätzliche Priorität der Beitragszeiten vor den Ausfallzeiten sei § 32 Abs 7 Satz 2 AVG bei der hier vorliegenden Anrechnung einer pauschalen Ausfallzeit nicht anwendbar und deshalb die Beklagte verpflichtet, die während der Fachschulausbildung geleisteten freiwilligen Beiträge in die persönliche Rentenbemessungsgrundlage der Klägerin miteinzubeziehen (Urteil vom 6. Oktober 1976).

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 32 Abs 7 Satz 2 AVG durch das Berufungsgericht.

Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG Konstanz vom 27. Mai 1974 die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision ist begründet.

Der Rechtsauffassung des LSG, bei der Berechnung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage der Klägerin (§ 32 Abs 1 und 3 AVG) seien die für die Zeit von November 1939 bis Dezember 1940 entrichteten freiwilligen Beiträge trotz der Regelung des § 32 Abs 7 Satz 2 AVG zu berücksichtigen, kann nicht gefolgt werden.

Die Klägerin hat die genannten Beiträge während ihrer Fachschulausbildung geleistet, die im angefochtenen Bescheid als Ausfallzeit (§ 36 Abs 1 Nr 4 AVG) gewertet worden ist. Da es sich hierbei unter Beachtung der Halbbelegungsvorschrift des § 36 Abs 3 AVG auch um eine anzurechnende Ausfallzeit handelt, bleiben die in diesem Zeitraum entrichteten Beiträge bei der Berechnung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage gemäß § 32 Abs 7 Satz 2 AVG außer Betracht. Dem steht auch nicht - wie das Berufungsgericht meint - entgegen, daß die Beklagte bei der Berechnung der Rente eine - die für die Zeit vor dem 1. Januar 1957 nachgewiesene Ausfallzeit übersteigende - pauschale Ausfallzeit im Sinne des Art 2 § 14 AnVNG zugrunde gelegt hat. Der vom LSG allein aus der Wortfassung des § 32 Abs 7 Satz 2 AVG "anzurechnende Ausfallzeit" gezogene Schluß, die Beiträge seien bei Anwendung der Absätze 1 und 3 der Vorschrift nur dann nicht zu berücksichtigen, wenn allein die nachgewiesene Ausfallzeit, nicht aber die längere Pauschale bei der Rentenberechnung angerechnet wird, ist nicht zwingend. Da nach Art 2 § 14 Satz 1 AnVNG die pauschale Ausfallzeit lediglich zur Anwendung kommt, wenn der Berechtigte nicht längere Ausfallzeiten nachweist, umfaßt die pauschale Ausfallzeit zwangsläufig eine nachgewiesene kürzere Ausfallzeit. Handelt es sich bei dieser - entsprechend der Voraussetzung in § 37 Abs 7 Satz 2 AVG - um eine anzurechnende Ausfallzeit im Sinne des § 36 Abs 3 AVG, so hindert jedenfalls der Wortlaut des § 32 Abs 7 Satz 2 AVG für sich allein nicht die Anwendung auch auf eine derartige Ausfallzeiten-Pauschale.

Entscheidend aber ist, daß nach dem Sinn und Zweck des § 32 Abs 7 Satz 2 AVG Beiträge, die in einer von der Pauschalzeit umfaßten nachgewiesenen - kürzeren - Ausfallzeit entrichtet worden sind, in den Anwendungsbereich der Vorschrift einzubeziehen sind. Der Gesetzgeber ging beim Erlaß dieser Rechtsnorm durch Art 1 § 2 Nr 16 Buchst d RVÄndG davon aus, daß in der Vergangenheit während einer Ausfallzeit - wenn überhaupt - in der Regel niedrige Beiträge geleistet worden sind. Er dachte dabei primär an die zahlreichen Arbeitslosen in den dreißiger Jahren, für die lediglich die zur Erhaltung der Rentenanwartschaft erforderlichen Beiträge entrichtet worden waren. Da im allgemeinen die Ausfallzeiten höher bewertet werden als niedrige "Mindestbeiträge", würde in diesen Fällen die Anrechnung einer Beitragszeit die Rente erheblich mindern. Dieses unerwünschte Ergebnis will § 32 Abs 7 Satz 2 AVG vermeiden (vgl hierzu Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik über den Regierungsentwurf zum RVÄndG, zu BT-Drucks IV/3233, S. 4/5 zu § 1255 und v. Gellhorn in BABl 1965, 591). Versicherte mit - in der Regel niedrigen - Beiträgen während einer Ausfallzeit sollen demnach nicht schlechter gestellt werden als Versicherte, die während der Ausfallzeit keine Beiträge entrichtet haben. Diese Zwecksetzung des § 32 Abs 7 Satz 2 AVG gilt indes für Versicherte, bei denen die gemäß Art 2 § 14 AnVNG zu berücksichtigende Pauschale eine nachgewiesene Ausfallzeit umfaßt, gleichermaßen. Deshalb kann es für die Anwendung des § 32 Abs 7 Satz 2 AVG nicht rechtserheblich sein, ob die nachgewiesene - und nach § 36 Abs 3 AVG auch anrechenbare - Ausfallzeit oder die pauschale Ausfallzeit bei der Rentenberechnung zugrunde gelegt wird (so auch die überwiegende Meinung im Schrifttum: vgl Hanow/Lehmann/Bogs, Rentenversicherung der Arbeiter, 4. Buch, 5. Aufl, Randbem 28 zu §§ 1255, 1255 a, 1256, S. 34; Verbandskommentar zur RVO, Viertes und Fünftes Buch, 6. Aufl, Randbem 23 zu § 1255, S. 57; Gottmann in Mitt LVA Rheinprovinz 1965, 229, 232; Hanschke in SozVers 1967, 329, 330; aA Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band III S. 702 b I).

Auch das LSG räumt ein, daß seine abweichende Auffassung in dem vom Gesetzgeber bei der Einfügung des Satzes 2 in § 32 Abs 7 AVG zugrunde gelegten Regelfall einer niedrigen Beitragsleistung während einer nachgewiesenen Ausfallzeit zu einer Minderung der Rentenbemessungsgrundlage führen müßte. Es hält dieses Ergebnis im vorliegenden Fall nur deswegen nicht für unbillig, weil die Klägerin - entgegen der für den Gesetzgeber bei der Schaffung der Vorschrift maßgeblichen Vorstellung - hohe freiwillige Beiträge geleistet hat und diese ihr nur dann zugute kommen, wenn § 32 Abs 7 Satz 2 AVG außer Betracht bleibt. Eine im Einzelfall nachteilige Auswirkung kann aber keine dem Normzweck widersprechende Auslegung der Vorschrift rechtfertigen. Die vom LSG vertretene Ansicht würde darauf hinauslaufen, die in § 32 Abs 7 Satz 2 AVG getroffene Regelung nur für den (Regel-) Fall anzuwenden, daß eine Berücksichtigung der während der Ausfallzeit geleisteten Beiträge keine günstigere Rentenhöhe bewirkt, was jeweils eine Vergleichsberechnung voraussetzen würde. Eine solche käme aber allenfalls dann in Betracht, wenn der Gesetzgeber die Möglichkeit einer - ausnahmsweisen - Schlechterstellung der Versicherten durch die neu eingeführte Vorschrift nicht gesehen hätte, so daß eine auszufüllende Gesetzeslücke angenommen werden könnte. Hierfür ist jedoch - wie der erkennende Senat bereits mit Urteil vom 24. November 1976 (SozR 2200 § 1255 Nr 6) im einzelnen dargelegt hat - kein Raum, weil der Gesetzgeber bei der Schaffung des RVÄndG die besondere Situation der Versicherten mit vor dem 1. Januar 1957 entrichteten und mit einer Ausfallzeit zusammenfallenden Beiträgen erkannt, ihr aber im Rahmen der durch § 37 a AVG idF des RVÄndG eingeführten Bewertung bewußt keine Rechnung getragen hat. Er hat insbesondere die Anwendung des § 32 Abs 7 Satz 2 AVG bewußt nicht davon abhängig gemacht, daß eine Begünstigung des Versicherten in jedem Einzelfall stattfindet. In der genannten Entscheidung hat der Senat auch unter Hinweis auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundessozialgerichts (BSG) ausgeführt, daß die vom Normzweck einer Vorschrift abweichenden Besonderheiten in Einzelfällen (hier: hohe anstelle der vom Gesetz als Regelfall angenommenen niedrigen Beitragsleistung) bei der Sozialgesetzgebung - verfassungsrechtlich unbedenklich - vernachlässigt werden dürfen, weil bei der in diesem Bereich gebotenen Ordnung von Massenerscheinungen typisierende Regelungen unerläßlich sind.

Schließlich vermag auch der allgemeine Hinweis des LSG auf die "grundsätzliche Priorität der Beitragszeiten vor den Ausfallzeiten" die angefochtene Entscheidung nicht zu begründen. Insoweit wird nicht genügend beachtet, daß nach dem Beschluß des Großen Senats des BSG vom 9. Dezember 1975 (SozR 2200 § 1259 Nr 13 = BSGE 41, 41) gerade die während Ausfallzeiten entrichteten freiwilligen Beiträge als wesentliche Anwendungsfälle des § 1255 Abs 7 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (= § 32 Abs 7 Satz 2 AVG) angesehen werden müssen, so daß es schon deswegen hier nicht auf die vom LSG angeführte "Priorität" ankommen kann.

Nach alledem kann dem Klagebegehren nicht entsprochen werden (§ 170 Abs 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 264

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