Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 08.06.1990; Aktenzeichen L 8 V 1171/88)

SG Stuttgart (Urteil vom 17.03.1988)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. Juni 1990 abgeändert.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 17. März 1988 wird insoweit zurückgewiesen, wie mit ihr die Aufhebung der Bescheide des Beklagten vom 13. Januar, 6. August und 15. September 1987 für die Zeit nach dem 28. Februar 1987 begehrt worden ist. Bis zu diesem Zeitpunkt steht der Klägerin Witwenrente zu.

Im übrigen wird die Revision des Beklagten zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten über die Berechtigung des Beklagten, den Bescheid über die Witwenversorgung der Klägerin wegen Wiederverheiratung rückwirkend aufzuheben.

Der Beklagte gewährte der in Polen lebenden Klägerin mit Bescheid vom 14. September 1960 Witwengrundrente nach ihrem zum 9. Mai 1946 für tot erklärten ersten Ehemann A. E. … Die Rente war eine Teilversorgung nach § 64e Abs 1 BVG und betrug nach den auf Grund von § 64e Abs 4 BVG erlassenen sog Ostrichtlinien seit 1. Juni 1960 100,– DM monatlich. Nach einer Änderung der Ostrichtlinien erhöhte der Beklagte mit Bescheid vom 8. Oktober 1980 die bisher gewährte Versorgung auf 118,– DM monatlich.

Als der Beklagte im Juni 1986 – anläßlich eines Kurantrages der Klägerin – erfahren hatte, daß diese seit 26. Oktober 1975 wiederverheiratet sei, stellte er die Rentenzahlung formlos zum 31. August 1986 ein, kündigte mit Schreiben vom 2. September 1986 wegen des 1975 erfolgten Erlöschens der Versorgung einen neuen Bescheid an – wobei er der Klägerin zugleich Gelegenheit zur Äußerung gab – und nahm schließlich mit Bescheid vom 13. Januar 1987 – zugegangen im Februar 1987 – „den Bescheid vom 8. Oktober 1980” zurück, weil dieser von Anfang an unrichtig gewesen sei. Im Aufhebungsbescheid wurde festgestellt, daß der Klägerin die ab 1. Januar 1980 gewährte Teilversorgung schon ab 1975 nicht zustehe und daß die Bezüge vom 1. Januar 1980 bis zum 31. August 1986 in voller Höhe (insgesamt 9.440,– DM) zu Unrecht gezahlt worden seien. Mit Bescheid vom 6. August 1987 stellte der Beklagte in dieser Höhe einen Erstattungsanspruch gegen die Klägerin fest und rechnete damit gegen deren Anspruch auf Heiratsabfindung in Höhe von 2.000,– DM auf; den restlichen Erstattungsanspruch in Höhe von 7.440,– DM schlug er nieder. Den Widerspruch der Klägerin wies er mit Widerspruchsbescheid vom 15. September 1987 zurück.

Die gegen die vorgenannten Bescheide gerichtete Klage hatte vor dem Sozialgericht (SG) keinen, in der Berufungsinstanz dagegen vollen Erfolg. Mit Urteil vom 8. Juni 1990 hob das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG vom 17. März 1988 sowie die Bescheide des Beklagten auf. Dem SG sei zwar darin zu folgen, daß hier allein eine Aufhebung des Bescheides vom September 1960 wegen Änderung der Verhältnisse (§ 48 SGB X) in Betracht komme. Diese sei aber ausgeschlossen, weil seit der Wiederverheiratung der Klägerin bis zur Aufhebung mehr als 10 Jahre verstrichen gewesen seien (§ 48 Abs 4 Satz 1 iVm § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X). Der Ablauf der durch die Wiederheirat in Lauf gesetzten Zehnjahresfrist habe sowohl einer rückwirkenden als auch einer zukunftsgerichteten Aufhebung des Grundlagenbescheides entgegengestanden.

Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Revision eingelegt. Er meint in erster Linie, einer Aufhebung des Grundlagenbescheides vom September 1960 habe es gar nicht bedurft, weil sich dieser Bescheid durch die Wiederverheiratung anderweitig erledigt habe (§ 39 Abs 2 SGB X). Denn der Anspruch auf Witwenrente sei damals kraft Gesetzes weggefallen. Im übrigen sei der Erhöhungsbescheid vom 8. Oktober 1980 als neuer Grundlagenbescheid aufzufassen, der nach § 45 SGB X rückwirkend habe aufgehoben werden dürfen. Wenn aber der Meinung der Vorinstanzen zu folgen wäre, daß allenfalls eine Anwendung des § 48 SGB X auf den Bescheid vom September 1960 zulässig sei, so bleibe trotz Ablaufes der Zehnjahresfrist wenigstens die Aufhebung für die Zukunft gerechtfertigt. Im übrigen sei noch zu klären, ob Wiederaufnahmegründe iS des analog anzuwendenden § 45 Abs 3 Satz 2 SGB X iVm § 580 der Zivilprozeßordnung (ZPO) vorgelegen hätten.

Er beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zur weiteren Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Diesem Antrag hat sich die Beigeladene angeschlossen, obwohl ihrer Ansicht nach der Ablauf der Zehnjahresfrist weitergehende Folgen hat, als der Beklagte meint. Insoweit verweist sie auf das Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 11. Januar 1990 (VIa 4 – 54068 – 5).

Die Klägerin beantragt,

die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für richtig.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Beklagten ist teilweise begründet. Der angefochtene Bescheid vom 13. Januar 1987 ist aufrechtzuerhalten, soweit er die Entziehung der Witwenrente mit Wirkung für die Zeit nach dem Zugang dieses Bescheides betrifft. In diesem Umfang ist das Urteil des LSG abzuändern.

Entgegen der Meinung der Revision war die Aufhebung des Bescheides vom September 1960 nicht dadurch entbehrlich geworden, daß durch die Wiederverheiratung der Klägerin 1975 die Voraussetzungen für den Anspruch auf Witwenrente kraft Gesetzes weggefallen waren. Vielmehr lag in der Wiederverheiratung eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X, welche den Beklagten lediglich zur Aufhebung des Bescheides berechtigen konnte (vgl BSG SozR 2200 § 1291 Nr 29; SozR 1300 § 48 Nr 17; SozR 5850 § 4 Nr 8; ferner SozR 3-1300 § 32 Nr 1). § 48 SGB X ist auch in denjenigen Fällen anzuwenden, in denen vor dem 1. Januar 1981 erlassene Rechtsvorschriften den „Wegfall” eines Anspruchs auf wiederkehrende Sozialleistungen vorsehen. Es stellt keinen Sonderfall, sondern den Regelfall für die Anwendung des § 48 SGB X dar, wenn eine Änderung in den Verhältnissen zum Wegfall einer Anspruchsgrundlage für wiederkehrende Sozialleistungen führt, über die ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ergangen ist. Insofern enthält auch § 44 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG), worin der Wegfall der Witwenrente in Verbindung mit der Entstehung eines Abfindungsanspruchs geregelt ist, keine von § 48 SGB X abweichende Regelung, sondern stellt nur klar, daß ein tatsächliches Ereignis, die Wiederheirat, eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB X ist, die zum Wegfall des Anspruchs auf Witwenrente führt. Dies zeigt auch die neue Regelung des Witwenrentenanspruchs (§ 46 Abs 1 und 2 SGB VI) in der gesetzlichen Rentenversicherung, wo der Gesetzgeber mit Wirkung vom 1. Januar 1992 unter Verzicht auf eine besondere Wegfallbestimmung das Nichtverheiratetsein der Witwe als Anspruchsgrundlage normiert hat, und zwar ohne damit eine Rechtsänderung zu bezwecken (vgl insoweit BR-Drucks 120/89 S 164 zu § 46 des Entwurfs zum Rentenreformgesetz 1992). Danach ist der Anspruch davon abhängig, daß die Witwen oder Witwer „nicht wieder geheiratet haben”. Anderes mag vor dem Inkrafttreten des § 48 SGB X am 1. Januar 1981 gegolten haben (vgl BSGE 36, 45; 39, 34, 37 – vgl zu § 44 Abs 1 BVG Nuis-Vorberg „Das Recht der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen” V. Teil, 2. Aufl, 1962 S 51; für Fortbestehen dieses Rechtszustandes im Rentenversicherungsrecht auch nach Inkrafttreten des SGB X: Verbandskommentar Anm 2 zu § 1291; Wagner in Koch/ Hartmann AVG Anm II zu § 68 AVG; Funk in Kasseler Kommentar RdNr 4 zu § 1291 RVO).

Der Anwendung des § 48 SGB X im vorliegenden Fall steht nicht entgegen, daß diese Vorschrift erst nach der Wiederverheiratung der Klägerin in Kraft getreten ist. Denn § 48 SGB X gilt auch für die Aufhebung von Verwaltungsakten, die vor dem 1. Januar 1981 ergangen sind (Art 2 § 40 Abs 2 Satz 1 und 2 des Gesetzes vom 18. August 1980; Großer Senat BSGE 54, 223, 230f; Entscheidung des Senats vom 23. Oktober 1985, SozR 1300 Art 2 § 40 Nr 8 mwN). § 48 SGB X ist auch auf vor dem 1. Januar 1981 ergangene Bescheide über solche Dauerleistungen anwendbar, die nach dem seinerzeit geltenden Recht kraft Gesetzes weggefallen sind. Das muß jedenfalls dann gelten, wenn der Wegfall des Leistungsanspruches – wie hier – vor dem 1. Januar 1981 nicht zur tatsächlichen Einstellung der Leistung geführt hat. Damit weicht der Senat nicht von der Entscheidung des 5. Senats – SozR 1300 § 48 Nr 17 – ab; bei dem dieser Entscheidung zugrundeliegenden Fall hatte die Dauerleistung nach altem Recht vor dem 1. Januar 1981 tatsächlich geendet, was außerdem schon vor diesem Zeitpunkt festgestellt worden war.

Der Witwenrentenbescheid von September 1960 mußte nach § 48 SGB X aufgehoben werden, und zwar unabhängig davon, ob die Aufhebung mit der Zuerkennung einer Witwenabfindung zu verbinden war. Als derartiger Aufhebungsbescheid ist der angefochtene Bescheid vom 13. Januar 1987 anzusehen. Dazu bedarf es keiner Umdeutung iS des § 43 SGB X, sondern nur der Auslegung nach dem Zweck des Bescheids, wie er in seinen Gründen zum Ausdruck kommt. Daraus geht nämlich hervor, daß der Beklagte die Wiederverheiratung der Klägerin zum Anlaß nehmen wollte, den Anspruch auf Witwenrente durch Aufhebung des diesem Anspruch zugrundeliegenden Bescheides zu entziehen. Daß er als zugrundeliegenden Bescheid denjenigen vom 8. Oktober 1980 bezeichnete, ist unschädlich, denn sein Wille, den dem Grunde nach zur Gewährung der Witwenrente führenden Bescheid von September 1960 aufzuheben, ergibt sich aus der in der Begründung enthaltenen Darlegung, daß jener Bescheid durch die Wiederheirat rechtswidrig geworden sei, und aus der Feststellung, daß sämtliche, und nicht etwa nur die auf der Erhöhung ab 1. Januar 1980 beruhenden Leistungen, zu Unrecht erbracht worden seien. Die Stellungnahme der Klägerin im Widerspruchsverfahren läßt erkennen, daß auch sie sich darüber im klaren war, daß der Bescheid von September 1960 wegen ihrer Wiederheirat aufgehoben werden sollte, allerdings erst mit Wirkung vom 1. Januar 1980.

Für die Vergangenheit, dh für die Zeit vor dem Zugang des angefochtenen Bescheides im Februar 1987, durfte der Beklagte den Rentenbescheid vom September 1960 nicht aufheben. Denn der Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X, nach welcher Bestimmung allein die rückwirkende Aufhebung hätte erfolgen können, stand der Ablauf der Zehnjahresfrist nach § 48 Abs 4 Satz 1 iVm § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X entgegen. Eine rückwirkende Aufhebung erlaubten auch nicht vorrangige Bestimmungen des BVG. Nach § 60 Abs 4 Satz 1 iVm § 61 BVG tritt zwar eine Minderung oder Entziehung der Leistungen bereits mit Ablauf des Monats ein, in dem die Voraussetzungen für ihre Gewährung weggefallen sind. Damit ist aber nur der früheste Zeitpunkt festgelegt, zu dem die Änderung zu beachten ist. Ob die Minderung oder Entziehung von diesem Zeitpunkt an vollzogen werden kann, ist nach § 48 SGB X zu beurteilen (vgl Woltering in Vorberg/van Nuis, Sozialgesetzbuch – Recht der sozialen Entschädigung VIII. Teil, SGB X RdNr 4.5.5.6 zu § 48 SGB X).

Für die Zeit nach Zugang des Aufhebungsbescheides, dh ab 1. März 1987, war die Aufhebung des Bescheides vom September 1960 indessen rechtmäßig. Denn mit Wirkung für die Zukunft können Bescheide mit Dauerwirkung auch dann noch wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, wenn seit der Änderung mehr als 10 Jahre verstrichen sind. Dem steht die Regelung in § 48 Abs 4 Satz 1 iVm § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X nicht entgegen.

§ 48 Abs 4 Satz 1 SGB X bestimmt, daß § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X „entsprechend” gilt. Nach § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt auch bei vorwerfbarem Verhalten des Begünstigten nur bis zum Ablauf von 10 Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Ist dem Begünstigten keine der in § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X aufgeführten Tatbestände vorzuwerfen, so ist die Rücknahme sogar schon nach einer kürzeren Frist (zwei Jahre – § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X) ausgeschlossen. Die entsprechende Anwendung der in Abs 3 Satz 3 enthaltenen Regelung auf die Aufhebung wegen geänderter Verhältnisse betrifft allerdings nur die darin bestimmte Rechtsfolge (Stärkung der Rechtsstellung des Begünstigten nach Ablauf von 10 Jahren), nicht auch die in dem „Wennsatz” dieser Bestimmung enthaltenen Voraussetzungen für den Eintritt dieser Rechtsfolge (so jetzt auch Wiesner in Schröder-Printzen/Engelmann/Schmalz/Wiesner/von Wulffen SGB X, 2. Aufl, Anm 9.1 zu § 48). Gleichwohl läßt die Verweisung auf § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X ihrem Wortlaut nach zwei Auslegungen zu. Nach der einen ist nach Ablauf von 10 Jahren seit der wesentlichen Änderung der Verhältnisse eine darauf gestützte Aufhebung überhaupt nicht mehr zulässig (so Wiesner aaO; Zweng/Scherer/Buschmann, Handbuch der Rentenversicherung § 48 SGB X, Anm VII; Schneider-Danwitz in Gesamtkommentar § 48 SGB X RdNr 72d; Grüner, SGB X § 48, Anm VI.2; Pickel SGB X § 48, Anm VI; LSG Niedersachsen in Breithaupt 1989 S 729, 731; LSG Berlin Urteil vom 17. September 1992 – Az L 8 J 23/90). Möglich ist aber auch die Auslegung, daß 10 Jahre nach der wesentlichen Änderung nur die rückwirkende Aufhebung ausgeschlossen ist (so Schnapp in Krause/von Mutius/Schnapp/Siewert, Gemeinschaftskommentar SGB X 1. § 48 RdNr 56; Bergner/Erdmenger/Fehn/Kaltenbach/Kolb, Verbandskommentar RdNr 22 zu § 48 SGB X; Maier, Clausing, Dörr, Herrmann, Schöning, Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – herausgegeben von der BfA und dem VDR, 3. Aufl, Anm 6 zu § 48).

Die Entstehungsgeschichte des § 48 Abs 4 SGB X läßt sich nicht für eine dieser Auffassungen heranziehen. § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X und die Verweisung auf diese Vorschrift in § 48 Abs 4 Satz 1 SGB X gehen auf einen Änderungsvorschlag des 11. Ausschusses zurück. Es ist aus den Ausschußprotokollen nicht ersichtlich, welchen genauen Inhalt die fragliche Verweisungsregelung haben sollte. In den Materialien findet sich lediglich der Hinweis, daß es sich bei der Änderung des seinerzeitigen § 46 Abs 3 Satz 1 des Entwurfs um eine „Folgeänderung” wegen der Neufassung von § 43 Abs 3 Satz 3 des Entwurfes (Einführung der Zehnjahresfrist) gehandelt habe (vgl Protokoll der Sitzung des 11. Ausschusses vom 23. Januar 1980 S 80/59; auch BT-Drucks 8/4022 S 83).

Der Sinn der entsprechenden Anwendung der Zehnjahresfrist liegt aber erkennbar nicht darin, einer wesentlichen Änderung nach 10 Jahren jegliche Bedeutung abzusprechen, sondern darin, nach 10 Jahren die rückwirkende Änderung des Leistungsbescheides zu verbieten.

Dafür spricht, daß Bestandskraft nur ergangenen, nicht aber unterbliebenen Verwaltungsakten – insbesondere nicht dem Nichterlaß eines Aufhebungsbescheides – zukommen kann. § 45 SGB X bestimmt, unter welchen Umständen und wie lange der Leistungsträger einen von Anfang an unrichtigen Verwaltungsakt über eine wiederkehrende Sozialleistung (Dauerbescheid) zu Lasten des Betroffenen aufheben kann. Die Vorschrift regelt mithin die Aufhebung eines Verwaltungsakts, welcher bereits zum Zeitpunkt seines Erlasses der Sach- und Rechtslage nicht entsprach, sei es daß der Leistungsträger die Sachlage nicht kannte oder verkannte oder daß ihm bei deren rechtlicher Beurteilung ein Irrtum unterlaufen war (vgl zur Definition des ursprünglich fehlerhaften Verwaltungsakts § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X). Die Bestandskraft eines solchen Dauerbescheides verfestigt sich nach § 45 Abs 3 SGB X im Laufe der Zeit immer mehr und führt schließlich – bei gleichbleibenden Verhältnissen (§ 48 Abs 1 Satz 1 SGB X) und abgesehen möglicherweise von den in § 580 ZPO genannten Fällen (§ 45 Abs 2 Satz 2 SGB X) – zur Unzulässigkeit der Bescheidsänderung zu Lasten des Begünstigten. Es ändert sich dabei aber nicht die dem Bescheidsinhalt nach wie vor widersprechende Rechtslage, sondern nur der unrichtige Bescheid, welcher zusätzliche Bestandskraft gewinnt. Die gesteigerte Bestandskraft nach Ablauf von 10 Jahren (§ 45 Abs 3 Satz 3 SGB X) rechtfertigt sich dadurch, daß der Leistungsträger vor Erlaß des Bescheides die Möglichkeit hatte, die maßgebliche Sach- und Rechtslage zutreffend zu beurteilen. Denn dabei hatte er Gelegenheit, Zweifel an den anspruchsbegründenden Tatsachen durch Maßnahmen der Amtsermittlung (§ 20 SGB X) zu beseitigen und den Sachverhalt rechtlich zutreffend zu beurteilen.

Die Meinung, daß der Begünstigte, dem der im Dauerbescheid festgestellte Anspruch einmal zugestanden hat, im Fall einer Änderung der Verhältnisse zu seinen Ungunsten (§ 48 SGB X) nicht schlechter stehen dürfe als derjenige, dessen Anspruch von vornherein zu Unrecht anerkannt worden ist (§ 45 SGB X), überzeugt nicht. Diese Auffassung wird dem grundlegenden Unterschied zwischen dem Fall der ursprünglichen und der nachträglich eingetretenen Unrichtigkeit nicht gerecht. Im ersten Fall wurde die bereits vorhandene Sach- und Rechtslage verwaltungsmäßig behandelt und einem Verwaltungsakt zugrunde gelegt. Dabei hat die Verwaltung durch aktives Handeln einen Vertrauenstatbestand geschaffen. Der Leistungsempfänger kann sich darauf verlassen, daß die Verwaltung ein Verwaltungsverfahren durchgeführt und abgeschlossen hat, ohne weitere Ermittlungen für notwendig zu halten, ferner, daß sie die ihr bekannt gewordenen Verhältnisse zutreffend beurteilt hat. Im Fall der Änderung der Verhältnisse fehlt es dagegen hinsichtlich der nunmehr maßgebenden Sach- und Rechtslage an einer Verwaltungsentscheidung, die dem Betroffenen Anlaß geben könnte, sich auf die Unerheblichkeit der eingetretenen Änderung zu verlassen. Die Bestandskraft des einzigen Verwaltungsaktes, der im Fall des § 48 SGB X erlassen wurde, nämlich des Ausgangsbescheides, steht unter dem ständigen Vorbehalt der Aufhebung wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse. Es besteht kein überzeugender Grund, die Aufhebung des Ausgangsbescheides für die Zukunft davon abhängig zu machen, wann die Änderung eingetreten ist. Es läßt sich auch nicht einwenden, daß damit das Interesse des Leistungsempfängers vernachlässigt würde. Immerhin verbleibt ihm die ihm vom Gesetzgeber nach der materiellen Rechtslage nicht zugedachte Dauerleistung – hier die Witwenrente trotz Wiederheirat – für den gesamten Zeitraum zwischen der Änderung der Verhältnisse und dem Ende des Kalendermonats, in dem ihm der Aufhebungsbescheid zugegangen ist. Sind – anders als hier – inzwischen durch eine weitere Änderung in den Verhältnissen (zB bei Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit) die Anspruchsvoraussetzungen wieder eingetreten, so verbleibt dem Leistungsbezieher die Leistung auch für die Zukunft. Ein ähnliches Ergebnis tritt ein, wenn inzwischen die Voraussetzungen für eine sonstige Dauerleistung erfüllt sind, deren Bezug an die Stelle der weggefallenen tritt, wie im Fall des Altersruhegeldes im Verhältnis zu den Renten wegen BU und EU.

Weitgehende Einigkeit besteht darüber, daß zur Aufhebung auch solche Änderungen zuungunsten des Betroffenen führen, die erst später als 10 Jahre nach Erlaß des Dauerbescheides eintreten (a.A. wohl nur Woltering, aaO, RdNr 7.2.2 zu § 48 SGB X). Anders ist dies nur, wenn vorrangige Sonderregelungen etwas anderes vorsehen, zB eine Entziehung oder Kürzung wegen des Lebensalters des Leistungsempfängers für unzumutbar erklären (vgl § 62 Abs 3 BVG). Nach den allgemeinen Vorschriften des Verwaltungsverfahrensrechts ist der durch einen Dauerbescheid Begünstigte dagegen vor der Einschränkung der Bestandskraft durch § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X nicht geschützt, auch nicht durch die Verweisung in § 48 Abs 4 Satz 1 iVm § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X, weil die Zehnjahresfrist nicht mit dem Erlaß des Dauerbescheides, sondern erst mit dem Eintritt der Änderung der Verhältnisse beginnt. Der sachliche Grund für die Abänderbarkeit des Dauerbescheides ist, daß dieser Bescheid nachträglich aufgrund von Tatsachen oder Rechtsänderungen unrichtig geworden ist, welche der Leistungsträger diesem Bescheid nicht zugrunde gelegt hat und auch nicht zugrunde legen konnte. Ist nun seit der Änderung der Verhältnisse ein Zeitraum von mehr als 10 Jahren verstrichen, so ändert dies grundsätzlich an der dargestellten Lage nichts. Es ist insbesondere nicht ersichtlich, welcher Verwaltungsakt hinsichtlich dieser geänderten Verhältnisse nach Ablauf von 10 Jahren Bestandskraft erlangen sollte, denn über diese Verhältnisse wurde noch nie ein Bescheid erteilt. Eine gänzliche Unabänderlichkeit des Dauerbescheides 10 Jahre nach Änderung der Verhältnisse, über welche der Leistungsträger niemals auch nur Gelegenheit hatte, eine Entscheidung zu treffen, widerspräche dem System der §§ 45, 48 SGB X und dem Sinn der Bestandskraft, die nur ergangenen Verwaltungsakten zukommt. Ähnlich ist auch im Zivilrecht die Abänderung eines rechtskräftigen Urteils über eine Dauerleistung bei wesentlicher Änderung der Verhältnisse nach § 323 ZPO für die Zukunft ohne Rücksicht darauf möglich, wie lange die Änderung zurückliegt. Auch der lange währende faktische Leistungsbezug über den Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse hinaus bewirkt keine Änderung dieses Rechtszustandes. Insbesondere führt er nicht zum Erwerb oder Wiedererwerb des weggefallenen Leistungsanspruchs. Im Sozialrecht gibt es den Erwerb eines Leistungsanspruches nur durch einen darauf gerichteten Verwaltungsakt, nicht aber durch reinen Zeitablauf – etwa durch „Erwirkung”, (zu diesem Rechtsinstitut des Bürgerlichen Rechts vgl Bassenge Palandt, BGB, 48. Aufl, Vorbemerkung 3e vor § 116). Allenfalls kommt eine Verwirkung des Aufhebungsrechtes durch die Verwaltung in Betracht, wenn sie weiter geleistet hat, obwohl sie die wesentliche Änderung kannte oder kennen mußte und dadurch bei dem Leistungsempfänger den Eindruck erweckt hat, die Änderung sei nicht wesentlich.

Wollte man zehn Jahre nach der Änderung der Verhältnisse wegen der entsprechend anzuwendenden Fristenbestimmung des § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X auch § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X für unanwendbar halten, so würde das auch dem Sinn jener Fristenbestimmung zuwiderlaufen. Die Zehnjahresfrist ist nach dem System des § 45 SGB X als Ausnahmeregelung ausgestaltet und dient der Sanktion für ein vom Gesetzgeber mißbilligtes Verhalten des Leistungsempfängers (vgl § 45 Abs 3 Satz 3 iVm Abs 2 Satz 3 Nrn 2 und 3 SGB X). Das mißbilligte Verhalten führt zum Verlust der in § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X festgelegten Vergünstigung, wonach ein Dauerbescheid bereits nach Ablauf von zwei Jahren nicht mehr zu Lasten des Betroffenen geändert werden kann. Dieser Aufschub der Bestandskraft durch die Ausnahmeregelung des § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X endet 10 Jahre nach Bescheidserteilung; von da ab wird der Betroffene wieder wie im Regelfall des § 45 Abs 3 Satz 1 behandelt, dh als ob er sich richtig verhalten hätte. Auch in § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X wird an ein pflichtwidriges Verhalten des Begünstigten (Abs 1 Satz 2 Nrn 2 und 4) eine nachteilige Ausnahmeregelung geknüpft: Der Leistungsträger soll den Dauerbescheid hiernach rückwirkend, dh schon ab dem Zeitpunkt der (anspruchsschädlichen) Änderung der Verhältnisse, aufheben. Eine folgerichtige Übertragung der Regelung des § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X auf diejenige des § 48 SGB X führt daher ebenfalls nur zum Wegfall dieser Ausnahmeregelung, so daß 10 Jahre nach Änderung der Verhältnisse die Tatbestände des § 48 Abs 1 Satz 2 Nrn 2 und 4 SGB X keine Sanktion mehr nach sich ziehen. Das bedeutet, daß nach Ablauf von 10 Jahren die in § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X für pflichtwidriges Verhalten vorgesehene nachteilige Regelung unanwendbar wird. Die rückwirkende Aufhebung des Dauerbescheides zu Lasten des Begünstigten ist dann ausgeschlossen. Dagegen verbleibt es weiterhin bei dem Regeltatbestand des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X, wonach wegen Änderung der Verhältnisse eine Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft zeitlich unbeschränkt möglich ist.

Dafür spricht auch § 48 Abs 3 SGB X, wonach Leistungen, die auf rechtswidrigen, aber nach § 45 SGB X nicht mehr rücknehmbaren Verwaltungsakten beruhen, an zukünftigen Leistungsverbesserungen nur in den Grenzen des materiell Zutreffenden teilnehmen. Denn sonst würde bei einer zehn Jahre lang unbeachteten Änderung der Verhältnisse der einzig denkbare Fall eintreten, in welchem dem Begünstigten eine nach dem materiellen Recht nicht zustehende Leistung für alle Zeiten verbleibt und auch an Leistungsverbesserungen teilnimmt. Denn es fehlt für diesen Fall eine Bestimmung, die es erlauben würde, die dem Begünstigen zu Unrecht verbliebenen Leistungen wenigstens „abzuschmelzen”, dh von zukünftigen Erhöhungen auszunehmen. Eine analoge Anwendung des § 48 Abs 3 SGB X auf diesen Fall erscheint unmöglich, weil sich der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ausdrücklich auf ursprünglich unrichtige Bescheide beschränkt.

Der Rücknahmebescheid des Beklagten vom 13. Januar 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. September 1987 war somit nur teilweise, dh mit Wirkung für die Zukunft, aufrechtzuerhalten, so daß die Revision des Beklagten insoweit nur teilweise Erfolg hatte. Im übrigen war die Revision zurückzuweisen. Eine weitergehende Rücknahme nach § 45 Abs 3 Satz 2 SGB X verbot sich schon deswegen, weil nur § 48 SGB X anwendbar war, und diese Vorschrift nicht auf § 45 Abs 3 Satz 2 SGB X verweist.

Der ebenfalls angefochtene Bescheid vom 6. August 1987 ist, soweit er die Klägerin belastet, im Ergebnis nicht zu beanstanden, insbesondere nicht insoweit, als der Beklagte mit ihm einen Anspruch der Klägerin auf Abfindung nach § 44 Abs 1 BVG verneint hat. Der Anspruch auf Abfindung ist zwar nicht durch Aufrechnung erloschen, denn eine Gegenforderung des Beklagten bestand nicht. Der Anspruch, der nur an die Stelle des Witwenrentenanspruchs hätte treten können und das Fünfzigfache der monatlichen Grundrente betrug, ist aber nach der Wiederheirat durch die über 15 Jahre lange Weiterzahlung der Witwenrente kraft Gesetzes vollständig entfallen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 1

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