Entscheidungsstichwort (Thema)

Analoge Anwendung des § 63 SGB 10

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Erstattungsfähigkeit der Kosten des Vorverfahrens bei Drittbeteiligungen (§ 63 SGB 10).

 

Orientierungssatz

1. Es macht die Interessenlage nicht unterschiedlich, wenn nicht der Widerspruch, sondern das Rechtsbegehren erfolgreich iS des § 63 SGB 10 war, das der sich dem Erfolg entgegenstellenden Drittbehörde entgegengesetzt wurde. In beiden Fällen wehrt sich der Einzelne in einem Widerspruchsverfahren gegen einen ihm ungünstigen Verwaltungsakt und in beiden Fällen droht dem Einzelnen durch das Eingreifen der Behörde ein endgültiger Rechtsnachteil, den er in dem Verfahren erfolgreich abzuwehren versucht. Nur in diesem engen Sinne der Durchsetzung eines Rechtsbegehrens ist eine analoge Gleichstellung der Vorschrift des § 63 SGB 10 (hier: für das Zulassungsrecht) geboten.

2. "Erfolgreich" ist ein Widerspruchsführer auch, wenn die Behörde einer dem Widerspruchsführer günstigen förmlichen Entscheidung über den Widerspruch durch Rücknahme bzw entsprechende Verpflichtung zur Neubescheidung zuvorkommt. In solchen Fällen kann § 63 SGB 10 analog angewendet werden. Zu weiteren Fragen der Erstattungsfähigkeit der Kosten des Vorverfahrens bei Drittbeteiligung (Abgrenzung zu BVerwG vom 23.2.1982 7 C 72/79 = NJW 1982, 1827 und vom 5.9.1984 6 C 30/83 = NVwZ 1985, 335).

 

Normenkette

SGB 10 § 63 Fassung: 1980-08-18

 

Verfahrensgang

SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 11.07.1984; Aktenzeichen S 5 Ka 78/82)

 

Tatbestand

Streitig ist die Erstattungsfähigkeit von Kosten des Vorverfahrens der Klägerin.

Die Klägerin ist als Ärztin für Allgemeinmedizin niedergelassen. Sie war bis zum 19. September 1979 sowohl für die RVO-Kassen als auch als Vertragsärztin zugelassen. Auf ihren Antrag hat der Zulassungsausschuß der Beigeladenen zu Ziffer 1) das Ruhen ihrer RVO-Kassenzulassung zunächst für ein Jahr ausgesprochen und dann um weitere sieben Monate bis zum 31. März 1980 verlängert. Im September 1979 - vor Ablauf der Verlängerungsfrist - hat die Klägerin auf die RVO-Kassenzulassung verzichtet. Durch Bescheid vom 9. Oktober 1979 hat der Zulassungsausschuß festgestellt, daß die RVO-Kassenzulassung der Klägerin mit dem Zugang ihrer Verzichtserklärung am 19. September 1979 beendet worden sei. Gegen diesen Feststellungsbescheid hat der Beigeladene zu Ziffer 2) Widerspruch eingelegt und die Rechtsansicht vertreten, daß ein Verzicht allein auf die RVO-Kassenzulassung rechtlich nicht möglich sei. Die Klägerin ließ sich in dem Widerspruchsverfahren anwaltschaftlich vertreten. Nachdem das Bundessozialgericht (BSG) dahin entschieden hatte, daß der Verzicht auf die RVO-Kassenzulassung den Status als Vertragsarzt dann nicht berühre, wenn die Kassenzulassung vor dem 1. Januar 1977, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Krankenversicherungs-Weiterentwicklungsgesetzes (KVWG), erfolgt sei (vgl BSG SozR 5503 Nr 1 zu Art 2 § 6 KVWG), hat der Beigeladene zu Ziffer 2) seinen Widerspruch zurückgenommen. Die Klägerin beantragte daraufhin, dem Beigeladenen zu Ziffer 2) die Kosten des Widerspruchsverfahrens gemäß § 63 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - Zehntes Buch, (SGB X) aufzuerlegen, da sie - die Klägerin - insoweit erfolgreich gewesen sei. Der Beklagte hat den Antrag abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen. Eine analoge Anwendung des § 63 SGB X habe auszuscheiden, da keine Gesetzeslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit vorliege. Hiergegen richtet sich die Sprungrevision der Klägerin. Sie beantragt, unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und des Beschlusses des Beklagten vom 12. Mai 1982 dem Beigeladenen zu Ziffer 2) die Kosten des Widerspruchsverfahrens aufzuerlegen.

Die Beigeladenen zu Ziffer 2), 3), 4), 5) und 7) sind der Revision entgegengetreten. Die Beigeladene zu Ziffer 1) hat sich dem Vorbringen der Klägerin angeschlossen. Der Beklagte und die Beigeladene zu Ziffer 6) haben keinen Antrag gestellt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet.

§ 63 Abs 1 Satz 1 SGB X lautet: "Soweit der Widerspruch erfolgreich ist, hat der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten". Diese Vorschrift ist im Kassenarztrecht jedenfalls für den hier vorliegenden Bereich des Zulassungsrechts anwendbar (vgl § 368c Abs 2 Ziffer 7 der Reichsversicherungsordnung -RVO-, §§ 44 f der Zulassungsordnung für Kassenärzte -ZOÄ-). Ob die Bestimmung auch für den Bereich der Wirtschaftlichkeitsprüfung Geltung beanspruchen kann, braucht hier nicht geprüft zu werden.

Eine analoge Anwendung dieser Bestimmung auf gesetzlich nicht umfaßte Sachverhalte ist geboten, wenn die Regelungsabsicht des Gesetzgebers wegen der Gleichheit der zugrundeliegenden Interessenlage auch den nichtgeregelten Fall hätte einbeziehen müssen. Dieses Gebot beruht letztlich auf der Forderung normativer Gerechtigkeit, Gleichartiges gleich zu behandeln (BSGE 57, 195, 196; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl, S 366). Die genannten Voraussetzungen sind hier gegeben. Bei der Prüfung der Frage, ob die verglichenen Sachverhalte in einer die Analogie fordernden Weise gleich bzw ähnlich sind, ist hier zunächst von einem Sachverhalt auszugehen, wo der Widerspruchsführer insofern erfolgreich ist, als die Behörde den ihn belastenden Verwaltungsakt zurücknimmt bzw sich zu einer ihm günstigen Neubescheidung verpflichtet. Daß der Widerspruchsführer auch in einem solchen Fall eine Kostenerstattung geltend machen kann, ist unmittelbar einsichtig. Der Widerspruch war auch hier, wie es in der genannten Bestimmung heißt, "erfolgreich".

Die Berechtigung zur Gleichstellung beider Sachverhalte wird durch Satz 2 der genannten Vorschrift bestätigt, wo es heißt: "Dies gilt auch, wenn der Widerspruch nur deshalb keinen Erfolg hat, weil die Verletzung einer Verfahrens- oder Formvorschrift nach § 41 unbeachtlich ist". Der Gesetzgeber spricht dem Widerspruchsführer also selbst dann einen Kostenanspruch zu, wenn er mit seinem Widerspruch deshalb nicht erfolgreich war, weil der von ihm gerügte Mangel des Verwaltungsaktes nachträglich behoben worden ist. Wird aber schon in einem solchen Fall eine Kostenentschädigungspflicht der Behörde ausgelöst, so muß das erst recht dann gelten, wenn, wie oben angenommen, die Behörde einer dem Widerspruchsführer günstigen förmlichen Entscheidung über den Widerspruch durch Rücknahme bzw entsprechende Verpflichtung zur Neubescheidung zuvorkommt. Auch dann war der Widerspruchsführer "erfolgreich". Mit der Feststellung der Gleichheit der Interessenlage zwischen dieser Fallkonstellation und dem vom Gesetzgeber formulierten Tatbestand ist aber auch die Gleichheit zum vorliegenden Fall ersichtlich.

Darauf, daß hier nicht der Widerspruch, sondern das Rechtsbegehren erfolgreich war, das einer sich dem Erfolg entgegenstellenden Drittbehörde entgegengesetzt wurde, macht keinen die Ungleichbehandlung rechtfertigenden Unterschied. Denn in beiden Fällen wehrt sich der einzelne in einem Widerspruchsverfahren erfolgreich gegen einen ihm ungünstigen Verwaltungsakt. Daß der Verwaltungsakt im ersten Fall bereits ergangen ist, im zweiten Fall aber dann zu ergehen droht, wenn der Widerspruchsführer durchdringt, macht die Fälle, hat man die Interessenlage im Sinne der gesetzgeberischen Wertung im Auge, nicht ungleich. In beiden Fällen droht dem einzelnen durch das Eingreifen der Behörde ein endgültiger Rechtsnachteil, den er in dem von der Rechtsordnung hierfür angebotenen Verfahren erfolgreich abzuwenden vermag. Eine analoge Anwendung des § 63 SGB X erscheint daher hier geboten. Die Grenze der Wertung des Gesetzgebers ist damit weder tangiert noch gar überschritten. Daß der Gesetzgeber mit der vorliegenden Formulierung des § 63 SGB X eine abschließende Regelung habe schaffen wollen, ist nirgends ersichtlich.

Soweit das SG zur Stützung seiner Rechtsansicht auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 23. Februar 1982 (Az.: 7 C 72/79) verweist (NJW 1982, 1827), übersieht es, daß in der dortigen Entscheidung zu § 80 des (am 1. Januar 1977 in Kraft getretenen) Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG), dem die Vorschrift des § 63 SGB X nachgebildet ist, es ausdrücklich offengelassen wurde, ob § 80 Abs 1 Satz 1 VwVfG "ausnahmsweise dann entsprechend anzuwenden wäre", wenn "durch die Sachentscheidung der Beklagten über den Widerspruch des Dritten zugleich auch über die Rechte der Klägerin mitentschieden worden wäre, so daß die ergangene Widerspruchsentscheidung des Beklagten auch unmittelbar auf die Rechte der Klägerin eingewirkt hätte". Das BVerwG hatte zwar schon in seinem vom SG zitierten Urteil vom 11. Mai 1981 (Az.: 6 C 121/80) sich gegen eine analoge Anwendung des § 80 VwVfG ausgesprochen (NJW 1982, 300). Dabei ging es jedoch um den Fall, wo ein Kriegsdienstverweigerer im Widerspruchsverfahren als "nicht wehrdienstfähig" befunden und das Widerspruchsverfahren dadurch erledigt wurde. Dementsprechend heißt es in dem Urteil, daß "ein außerhalb des Verfahrens liegendes Ereignis hinzugetreten" sei. Darum geht es hier aber nicht. Die Klägerin ist in der Sache, die sie vertreten hat, durchgedrungen; ihre Rechtsmeinung hat sich in der Weise durchgesetzt, daß die Behörde, durch deren Vorgehen ihr - der Klägerin - ein Rechtsnachteil drohte, ihr Rechtsmittel wegen fehlender Erfolgsaussichten zurückgenommen hat. Insofern war die Klägerin im Sinne des § 63 SGB X "erfolgreich". Damit erfolgt keine Gleichstellung mit solchen Fällen, wo von einem Erfolg jedenfalls nicht mehr in diesem engen Sinne der Durchsetzung eines Rechtsbegehrens die Rede sein kann. Auch das Urteil des BVerwG vom 5. September 1984, Az.: 6 C 30/83 (NVwZ 1985, 335) steht der vorgenannten Analogie nicht entgegen. Das BVerwG gründet hier seine Entscheidung auf die Vorschrift des § 163 Abs 3 der Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO- ("Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nur erstattungsfähig, wenn sie das Gericht aus Billigkeit der unterliegenden Partei oder der Staatskasse auferlegt"). Eine solche (beschränkende) Vorschrift gibt es im sozialgerichtlichen Verfahren nicht.

Der Senat konnte hier selbst entscheiden. Die Klägerin war (nicht nur teilweise, sondern) in vollem Umfange erfolgreich; "insoweit" hat sie einen Erstattungsanspruch. Zwar sind nach Absatz 2 des § 63 SGB X die Anwaltskosten im Vorverfahren nur dann erstattungsfähig, wenn die Zuziehung tatsächlich "notwendig" war. Daß diese Voraussetzung vorliegt, ist hier aber unstreitig; der Beklagte hat diese Erforderlichkeit ausdrücklich festgestellt. Da auch sonst keine Gesichtspunkte für eine bloß teilweise Kostenerstattung vorliegen, war unter Aufhebung der entgegenstehenden Entscheidungen der Beigeladene zu Ziffer 2) zur Erstattung der notwendigen Aufwendungen zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 216

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