Leitsatz (amtlich)

Der Weg nach dem Ort der versicherten Tätigkeit beginnt auch dann mit dem Durchschreiten der Außentür des Hauses, wenn der Versicherte die im Kellergeschoß gelegene, aber vom Wohnhaus nicht direkt zugängliche Tiefgarage aufsuchen will, um mit dem Personenkraftwagen zur Arbeitsstätte zu fahren.

 

Normenkette

RVO § 550 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 4. April 1973 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin ist als Unternehmerin eines Textil-Einzelhandelsgeschäftes bei der Beklagten versichert. Sie wohnt in einem Mehrfamilienhaus. Zu dem Haus gehören fünf Garagen, von denen zwei im Kellergeschoß in der Rückseite des Hauses untergebracht sind. Die übrigen drei stehen etwas weiter über den Hof vom Haus getrennt. Eine der Garagen im Kellergeschoß benutzt die Klägerin zum Unterstellen ihres Pkw. Diese beiden Garagen sind unmittelbar durch das Haus nicht erreichbar. Der Klägerin stehen zwei Wege zur Verfügung, um zu ihrer Garage zu gelangen. Der eine führt durch die Haustür um das Haus herum zu ihrer Garage. Dieser Weg ist ca. 30 bis 40 m lang. Der zweite Weg führt durch die zum Hofgelände führende Kellertür über den Hof zur Garage.

Als sich die Klägerin am 5. Januar 1970 gegen 8 Uhr auf dem Weg durch die Haustür zur Garage befand, um mit dem Wagen zum Ladengeschäft zu fahren, stolperte sie unmittelbar vor ihrer Garage und fiel hin. Nach dem Durchgangsarztbericht erlitt sie hierbei eine Distorsion des rechten Fußgelenkes sowie eine Prellung des linken Knies.

Mit Bescheid vom 12. März 1970 lehnte die Beklagte Entschädigungsleistungen mit der Begründung ab, daß sich der Unfall im unversicherten häuslichen Bereich ereignet habe, weil die Garage mit dem Wohnhaus eine bauliche Einheit bilde und infolgedessen der Weg von der Haustür zur Garage noch zum häuslichen Bereich gehöre.

Die Klägerin hat Klage erhoben.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 1. März 1972 die Beklagte verurteilt, die Klägerin aus Anlaß des Arbeitsunfalls vom 5. Januar 1970 zu entschädigen, da die Garage in einem Mehrfamilienhaus nach der Verkehrsauffassung nicht zum häuslichen Bereich zähle.

Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 4. April 1973 zurückgewiesen und zur Begründung u. a. ausgeführt: Zwar habe das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, daß bei einer Garage, die im Kellergeschoß eines umzäunten Einfamilienhauses zur Straßenseite hin liege, mit dem Durchfahren der Garagentür der häusliche Bereich erreicht bzw. verlassen werde (BSG 24, 243). Es handele sich dabei aber um einen Fall, in dem die Garage zusammen mit dem Wohngebäude, wie häufig bei Einfamilienhäusern, eine enge bauliche Einheit bildete. Auf der anderen Seite habe das BSG aber entschieden, daß die Garage, wenn sie vom Wohngebäude räumlich und baulich getrennt sei, nicht zum häuslichen Lebensbereich gerechnet werde (BSG SozR Nr. 4 zu § 550 RVO). Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung sei der Senat mit dem SG der Auffassung, daß die von der Klägerin benutzte Garage mit dem Wohngebäude zwar eine bauliche Einheit bilde, diese aber nicht mehr dem häuslichen Bereich der Klägerin zugeordnet werden könne.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt.

Sie trägt vor: Das BSG habe ausdrücklich nicht die Möglichkeit ausgeschlossen, daß nach den Wohnverhältnissen eines Versicherten u. U. auch ein Bereich außerhalb des Mehrfamilienwohngebäudes, z. B. ein Fahrradschuppen oder eine Garage, zur privaten Lebenssphäre gerechnet werden könne. Eine überzeugende Begründung für die unterschiedliche Behandlung des Versicherungsschutzes auf dem Weg zu einer im Haus eingebauten Tiefgarage lasse sich bei Ein- und Mehrfamilienhäusern nicht finden. Bei der ständig wachsenden Zahl der Besitzer von Kraftwagen gehöre dieser nunmehr schon zum persönlichen privaten Bereich des Haushalts des Versicherten. Dann müsse aber auch die für die Unterbringung des Kraftwagens notwendige Garage ebenfalls zum eigenwirtschaftlichen Bereich des Versicherten zählen.

Die Beklagte beantragt,

unter Änderung der angefochtenen Urteile die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die zulässige Revision ist nicht begründet.

Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des angefochtenen Urteils hat die Klägerin am Unfallmorgen den Weg zur Arbeit wie üblich von ihrer Wohnung aus angetreten. In einem solchen Fall beginnt der Weg nach dem Ort der Tätigkeit im Sinne des § 550 S. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) mit dem Verlassen des Bereichs, in dem sich das private Leben des Versicherten abspielt. Soweit innerhalb dieses Bereichs bereits Wegstrecken zurückgelegt werden, welche die Arbeitsstätte zum Ziel haben, treten sie für die ursächlichen Beziehungen zur versicherten Tätigkeit gegenüber solchen Beziehungen zum privaten Leben rechtlich als unwesentlich zurück (BSG 22, 240, 242).

Mit der Begrenzung des Bereichs, der hiernach für den Beginn des Weges im Sinne des § 550 RVO maßgebend ist, hat sich der Senat in dem Urteil vom 13. März 1956 zu der insoweit inhaltsgleichen Vorschrift des § 543 RVO aF befaßt (BSG 2, 239; vgl. - auch mit weiteren Nachweisen auf die ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats - Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-7. Aufl., S. 486 d I; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 550 Anm. 11). Die Grundsätze, die in diesem Urteil zur Bestimmung der Grenze des häuslichen Bereichs entwickelt worden sind, hat das LSG zutreffend berücksichtigt. In der Begründung dieser Entscheidung des erkennenden Senats, auf die im einzelnen verwiesen wird und die sich auf Mehrfamilienhäuser mit abgeschlossenen Etagenwohnungen bezieht, ist ausgeführt, daß der vom Versicherungsschutz nicht erfaßte häusliche Wirkungskreis im allgemeinen nicht schon an der Etagentür endet, sondern sich noch auf das Treppenhaus und alle sonstigen, von den Hausbewohnern gemeinsam benutzten Räumlichkeiten innerhalb des Gebäudes erstreckt und jedenfalls erst mit dem Durchschreiten der Außentür verlassen wird. Hierfür ist der wesentliche Grund darin erblickt worden, daß der Versicherungsschutz nicht von beliebig zu variierenden Verschiedenheiten des einzelnen Falles abhängen soll, daß vielmehr bei der Frage, welche Sphäre noch dem privaten, unversicherten häuslichen Bereich zuzurechnen ist, der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit ausschlaggebende Bedeutung hat. Dies hat das LSG bei seiner Darlegung über den Umfang des häuslichen Bereichs zutreffend berücksichtigt. Im Widerspruch zu den Grundgedanken jener Entscheidung will die Revision gerade die Unterschiede in den tatsächlichen Gegebenheiten der Wohnverhältnisse entscheidend berücksichtigt wissen. Allerdings kann sie sich hierbei auf die Erwägungen des erkennenden Senats in dem Urteil vom 13. März 1956 (aaO) insofern berufen, als die in ihm enthaltenen Grundsätze nicht schematisch anwendbar sein sollen und durch sie die Berücksichtigung von Besonderheiten nicht ausgeschlossen ist, so daß der häusliche Bereich unter besonderen Voraussetzungen an einer anderen Stelle als der Außentür des Wohngebäudes enden kann. Eine solche Abweichung von der Begrenzung des unversicherten Wohnbereichs, die zu einer Einengung dieses Bereiches oder seiner Ausdehnung führen kann, wäre jedoch nur zu rechtfertigen, wenn dadurch die Rechtssicherheit, die sich in der Gewährleistung der zu erstrebenden Einheitlichkeit der Rechtsprechung auswirkt, nicht gefährdet würde. Diese Voraussetzung liegt hier aber bei der von der Revision erstrebten Grenzziehung des häuslichen Bereichs nicht vor.

Die Revision verweist für ihre gegenteilige Auffassung auf das Urteil des erkennenden Senats vom 23. Februar 1966 (BSG 24, 243). Der Senat hat dort unter Berücksichtigung der Besonderheiten dieses Falles entschieden, daß der mit dem Kraftwagen von der Arbeitsstätte kommende Kläger mit dem Durchfahren des Garageneingangs die Grenze seines häuslichen Bereichs als den Endpunkt seines versicherten Heimwegs von der Arbeitsstätte erreicht gehabt habe. Diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben. Sowohl die vom Wohnhaus getrennt liegenden (s. BSG SozR Nr. 4 zu § 550 RVO) als auch die im Kellergeschoß gelegenen, vom Wohnhaus aber nicht direkt, sondern ebenfalls nur nach Durchschreiten einer der Außentüren zu erreichenden Garagen gehören nicht zum häuslichen Bereich. Den Ausführungen der Revision ist nicht zu entnehmen, wo sich nach ihrer gegenteiligen Auffassung nach und vor dem Durchschreiten einer der Außentüren eine klare, den Erfordernissen der Rechtssicherheit entsprechende Abgrenzung (vgl. BSG 22, 240, 242/243; Brackmann aaO S. 486 e) für den Beginn und das Ende des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit finden ließe. Auch die Revision will für die Hausbewohner, die ihre Garage nicht im Keller, sondern getrennt vom Wohngebäude im Hofe haben, mit dem Durchschreiten einer der Außentüren den häuslichen Bereich beendet wissen (s. BSG SozR aaO). Die rein bauliche Verbundenheit der im Kellergeschoß eingebauten, vom Wohnhaus aber nicht unmittelbar, sondern erst nach dem Durchschreiten einer der Außentüren des Wohnhauses zu erreichenden Tiefgarage rechtfertigt jedoch nach Sinn und Zweck des § 550 Satz 1 RVO keine andere Grenzziehung des häuslichen Bereichs als bei einer direkt an das Gebäude anschließenden, aber ebenso von diesem nicht unmittelbar zugänglichen Garage. Gegenüber dieser Fallgestaltung erschiene wiederum eine unterschiedliche Begrenzung des häuslichen Bereichs aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit nicht gerechtfertigt, wenn die Garage nicht unmittelbar an das Mehrfamilienhaus gebaut ist, sondern nur wenige Meter entfernt liegt.

Die von der Revision ebenfalls mit für ihre Meinung angeführte, stark von den Besonderheiten des entschiedenen Einzelfalles getragene Entscheidung des erkennenden Senats vom 30. September 1964 (BSG 22, 10; vgl. auch Brackmann aaO S. 486 d II) betraf die Zugehörigkeit einer Anlage zum häuslichen Bereich, die sich auch innerhalb des Wohngebäudes befinden konnte (BSG 24, 240, 243). Dies ist hier jedoch nicht der Fall.

Das LSG hat somit zu Recht entschieden, daß die Klägerin nach dem Verlassen des häuslichen Bereichs auf dem Wege nach dem Ort ihrer Tätigkeit verunglückt ist.

Die Revision der Beklagten ist deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

 

Fundstellen

BSGE, 36

BSGE, 38

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