Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz. Abgrenzung des häuslichen Wirkungsbereichs von dem Weg zur Arbeitsstätte

 

Leitsatz (amtlich)

Zum Unfallversicherungsschutz auf dem Weg zur Arbeitsstätte, wenn sich jemand beim Schließen der Haustür verletzt.

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Weg zur Arbeitsstätte beginnt mit dem Verlassen des häuslichen Bereichs, also mit dem Durchschreiten der Außentür des Gebäudes, in dem der Versicherte wohnt; dabei hängt das Schließen der Haustür rechtlich wesentlich mit dem Zurücklegen des Weges zur Arbeitsstätte zusammen.

 

Normenkette

RVO § 550 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. März 1969 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 20. Februar 1968 sowie der Bescheid der Beklagten vom 17. Mai 1967 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Unfallentschädigung zu gewähren.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten sämtlicher Rechtszüge zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger wohnt in einem Mehrfamilienhaus, dessen Haustür unmittelbar auf die Straße führt. Als er am 25. Oktober 1966 etwa um 6.10 Uhr das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen, zog er sich beim Schließen der Haustür eine Verletzung zu. Trotz mehrmaliger Reparaturen klemmte die Haustür bei bestimmter Witterung. Dies war auch am Morgen des 25. Oktober 1966 der Fall. Als der Kläger, der sich bereits außerhalb des Hauses befand, die klemmende Haustür zuziehen wollte, gab diese plötzlich nach und schlug so schnell zu, daß der linke Kleinfinger zwischen Tür und Türrahmen eingeklemmt wurde. Wegen der Verletzungsfolgen war der Kläger bis zum 12. Februar 1967 arbeitsunfähig.

Die Beklagte versagte durch Bescheid vom 17. Mai 1967 die begehrte Unfallentschädigung, weil sich der verletzte Körperteil und der Ort der auf diesen einwirkenden Gewalt noch im Bereich des häuslichen Wirkungskreises befunden hätten, die Voraussetzungen für die Entschädigung eines Wegeunfalls somit nicht gegeben seien.

Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 20. Februar 1968, Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Nordrhein-Westfalen vom 6. März 1969).

Das Berufungsgericht hat zur Begründung ausgeführt: Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) beginne der Weg zur Arbeitsstätte, auf dem Versicherungsschutz bestehe, mit dem Verlassen des häuslichen Bereichs; dieser werde durch die Außentür des Wohnhauses begrenzt. Obwohl der Kläger, als er sich die Verletzung zugezogen habe, die Haustür bereits durchschritten gehabt habe und nur noch die Haustür habe zu schließen brauchen, liege kein rechtlich wesentlicher Zusammenhang der Verletzung mit dem beabsichtigten Weg zur Arbeitsstätte vor, weil die Verletzungsgefahr, welcher der Kläger durch die fehlerhafte Beschaffenheit der Haustür erlegen sei, aus dem häuslichen und somit unversicherten Bereich stamme. Der Versicherungsschutz werde allerdings bejaht, wenn eine Gefahr den Versicherten bereits auf dem Weg von der Arbeitsstätte bedroht habe, mit ihm in seinen häuslichen Bereich eingedrungen sei und sich erst dort ausgewirkt habe. In dem hier vorliegenden umgekehrten Fall, daß eine auf Verhältnissen des häuslichen Bereichs beruhende Gefahr erst außerhalb des Hauses zu einer Verletzung geführt habe, müsse somit der Versicherungsschutz verneint werden, obwohl der Kläger den Weg zur Arbeitsstätte bereits angetreten habe. Entscheidend sei, daß die rechtlich wesentliche Ursache des Unfalls ein dem privaten Bereich des Verletzten zuzurechnender Umstand sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger und die Beigeladene haben dieses Rechtsmittel eingelegt.

Der Kläger hat es wie folgt begründet:

Der vom LSG als entscheidend angesehenen Erwägung, daß die vorliegende Streitsache im umgekehrten Sinn wie bei "nachgegriffener Wegegefahr" beurteilt werden müsse, könne nicht gefolgt werden. Vielmehr biete sich ein Vergleich mit der Entscheidung in BSG 11, 156 an. Um sich zur Arbeitsstätte zu begeben, sei es notwendig gewesen, die Haustür zu schließen; bei dieser Tätigkeit habe daher Versicherungsschutz bestanden.

Die Beigeladene teilt die Meinung des Klägers. Der verletzte Finger sei an der unmittelbaren Grenze zwischen häuslichem und versicherten Bereich zu Schaden gekommen. Deshalb komme es darauf an, daß sich der Verletzte bereits außerhalb des häuslichen Bereichs befunden habe.

Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Kläger und die Beigeladene beantragen,

unter Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und des Bescheides der Beklagten diese zu verpflichten, dem Kläger Unfallentschädigung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revisionen sind begründet.

Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats beginnen der Weg zur Arbeitsstätte und damit der Versicherungsschutz nach § 550 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) mit dem Verlassen des häuslichen Bereichs, d.h. mit dem Durchschreiten der Außentür des Gebäudes, in dem der Versicherte wohnt (BSG 2, 239, 244; 22, 10, 11; 22, 240, 242). Das Berufungsgericht hat allerdings mit Recht darauf abgestellt, daß der Versicherungsschutz auf einem solchen Weg nicht nur einen örtlichen und zeitlichen, sondern auch einen inneren Zusammenhang mit dem Weg voraussetzt, welcher zur Arbeitsstätte führen soll (BSG 1, 171, 172; 8, 53, 55). Dies erfordert in der vorliegenden Sache eine rechtliche Wertung der verschiedenen Umstände, welche zu dem Unfall beigetragen haben. Hierbei ist nicht zu verkennen, daß das Schließen der Haustür zwar noch mit dem Verlassen des häuslichen - unversicherten - Bereichs, aber auch rechtlich wesentlich mit der Zurücklegung des Weges zur Arbeitsstätte zusammenhängt; der Kläger hatte den häuslichen Bereich bereits verlassen und befand sich schon auf dem nach § 550 Satz 1 RVO geschützten Weg. Der innere Zusammenhang dieses Weges mit der versicherten Tätigkeit ist - anders als in der dem Urteil des erkennenden Senats vom 28. Juli 1967 (2 RU 214/65; veröffentlicht SozSich 1967, Rechtspr. Nr. 2078) zugrundeliegenden Streitsache - nicht durch eine dem privaten Lebensbereich zuzurechnende Handlungsweise ausgeschlossen worden. Bei dem Unfall hat zwar auch der Umstand, daß die Haustür schadhaft gewesen und plötzlich zugeschlagen ist, mitgewirkt. Dies hat jedoch entgegen der Auffassung des LSG nicht die rechtliche Bedeutung, daß dadurch der mit der Zurücklegung des Weges begründete innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit als rechtlich unwesentlich in den Hintergrund gedrängt worden ist. Die fehlerhafte Beschaffenheit hat sich beim Schließen der Haustür ausgewirkt. Diese Betätigung hat sich jedoch auch aus der Notwendigkeit ergeben, den Weg zur Arbeitsstätte zurückzulegen.

Das Berufungsgericht hat seine gegenteilige Rechtsauffassung auch auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats zur Frage des UV-Schutzes in Fällen gestützt, in denen eine zum Unfall führende Gefahr den Beschäftigten bereits auf dem Weg von der Arbeitsstätte bedroht hat, die Gefahr aber erst im Haus wirksam geworden ist. Die vom Senat entschiedene Streitsache (SozR Nr. 37 zu § 543 RVO aF) war dadurch gekennzeichnet, daß es einer Versicherten zwar gelungen war, sich vor zwei Unbekannten, welche sie auf dem Heimweg überfallen wollten, in das Haus zu flüchten, diese ihr jedoch nacheilten und ihr innerhalb des häuslichen Bereichs Schaden zufügten. In einem solchen Fall, in dem die auf den Heimweg zurückzuführende Gefahr nicht durch neue, auf den Verhältnissen des häuslichen Bereichs beruhende Gegebenheiten beeinflußt worden ist, ist nach der Auffassung des erkennenden Senats der Umstand, daß die für den UV-Schutz nach § 550 Satz 1 RVO maßgebliche Grenze bereits überschritten war, ohne rechtliche Bedeutung. Ein - wie das Berufungsgericht annimmt - vergleichbarer Fall dieser Art im umgekehrten Sinn, daß eine im häuslichen Bereich einsetzende, hierauf beruhende Gefahr sich erst zu einem Zeitpunkt ausgewirkt hat, als sich der Versicherte bereits auf dem dem UV-Schutz unterliegenden Weg zur Arbeitsstätte befand, liegt hier indessen nicht vor. In der vorliegenden Streitsache ist die Gefahr erst entstanden, als der Kläger diesen Weg schon angetreten hatte, und die zum Unfall führende Betätigung des Klägers war nicht durch eine wesentlich dem privaten Bereich zuzurechnende Handlungsweise, sondern durch die Notwendigkeit bestimmt, den versicherungsrechtlich geschützten Weg zur Arbeitsstätte zurückzulegen.

Der Kläger hat daher, als ihm beim Schließen der Haustür der Unfall zustieß, nach § 550 Satz 1 RVO unter UV-Schutz gestanden. Die Voraussetzungen für ein Grundurteil nach § 130 SGG sind gegeben (SozR Nr. 3, 4 zu § 130 SGG).

Die Beklagte war deshalb unter Aufhebung ihres Bescheides sowie der Entscheidungen der Vorinstanzen zur Leistung dem Grunde nach zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669910

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