Leitsatz (amtlich)

Zur Aufklärungspflicht des Tatsachengerichts nach SGG § 103, wenn der Versicherte eine erneute Untersuchung zur Feststellung seiner Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit ablehnt und auf ärztliche Gutachten in Versorgungs- und Strafakten sowie auf Äußerungen seiner behandelnden Ärzte verweist.

 

Normenkette

SGG § 103 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 12. Dezember 1969 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Kläger begehrt Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der Angestelltenversicherung. Die Beklagte lehnte seine "formlosen Anträge" vom 15. November und 17. November 1965 durch Bescheid vom 18. April 1967 ab, weil der Kläger es trotz mehrfacher Aufforderung unterlassen habe, die für die Rentengewährung erforderlichen Antragsvordrucke auszufüllen und einzureichen. Das Sozialgericht (SG) Braunschweig hat durch Urteil vom 15. Januar 1968 die gegen den Bescheid gerichtete Klage abgewiesen.

Während des Berufungsverfahrens hat der Kläger unter Verwendung eines Antragsvordrucks der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) am 18. Oktober 1968 Rente beantragt. Die Beklagte hat auch diesen Antrag durch Bescheid vom 1. Oktober 1969 angelehnt, weil die für die Rentengewährung erforderlichen Voraussetzungen nicht hätten geklärt werden können.

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat durch Urteil vom 12. Dezember 1969 die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 1. Oktober 1969 abgewiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen.

Der Kläger hat gleichwohl dieses Rechtsmittel eingelegt. Er rügt vor allem Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) im Verfahren des LSG. Er beantragt, ihm die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsfrist und Revisionsbegründungsfrist zu gewähren, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Braunschweig vom 15. Januar 1968 und die Bescheide der Beklagten vom 18. April 1967 und vom 1. Oktober 1969 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen, hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, als unbegründet zurückzuweisen.

II

Die Revision des Klägers ist zulässig und insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist.

Dem Kläger ist auf seinen Antrag gemäß § 67 iVm §§ 165, 153 SGG gegen die Versäumung der Revisionseinlegungs- und Revisionsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, nachdem er innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Bewilligung des Armenrechts die Revision eingelegt und begründet hat.

Obgleich das LSG die Revision nicht gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat, ist sie nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, weil die Revision ordnungsgemäß als wesentlichen Mangel im Verfahren des Berufungsgerichts Verletzung des § 103 SGG rügt, der auch vorliegt (BSG 1, 150).

In den Gründen seiner Entscheidung hat das Berufungsgericht ausgeführt, nach § 204 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) iVm § 1613 Abs. 3 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) habe die Beklagte den Sachverhalt aufzuklären. Das bedinge aber eine Mitwirkung des Antragstellers, wie sich aus § 1613 Abs. 1 Satz 2 RVO ergebe. Da der Kläger sich beharrlich weigere, an dieser notwendigen Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken, indem er zunächst kein Antragsformular eingesandt und später eine Untersuchung verweigert habe, habe die Beklagte mit Recht den Rentenantrag abgelehnt, weil sie nicht in der Lage gewesen sei, den Sachverhalt aufzuklären. Zur Beurteilung der Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit des Klägers sei die Einholung eines ärztlichen Gutachtens über seinen Gesundheitszustand unerläßlich gewesen. Die im Versorgungsverfahren vorgenommenen Untersuchungen seien für die Frage der Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit im Rentenverfahren nicht zugrunde zu legen, da hier andere Gesichtspunkte Geltung hätten. Alle von dem Kläger im Laufe des Verfahrens gemachten Ausführungen lägen neben der Sache und hätten mit der rechtlichen Beurteilung des hier zu entscheidenden Falles, nämlich ob die Beklagte mit Recht den Antrag auf Rente abgelehnt habe oder nicht, nichts zu tun.

Das LSG hat damit seiner Pflicht nicht genügt, gemäß § 103 SGG den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen.

Dem LSG lagen die Versicherungskarten des Klägers vor. Sie reichten - wie der Tatbestand des angefochtenen Urteils auch zeigt - aus, das Versicherungsleben des Klägers und die Tätigkeiten festzustellen und zu beurteilen, in denen er versicherungspflichtig beschäftigt gewesen ist.

In der Regel ist der Versicherte verpflichtet, bei der Beweiserhebung über seine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit sich von dem ihm bezeichneten Arzt untersuchen zu lassen, soweit die vorgesehenen Untersuchungen zumutbar sind. Er braucht sich schon einer solchen Untersuchung nicht zu unterziehen, wenn er sich für seine Weigerung auf einen triftigen Grund berufen kann (vgl. hierzu BSG 20, 166, 168). Hierzu sind in dem angefochtenen Urteil keine Feststellungen getroffen.

Verweigert der Versicherte die ärztliche Untersuchung ohne berechtigten Grund, so darf ohne die für erforderlich gehaltene Untersuchung nach Lage der im übrigen ausreichend geklärten Akten nur entschieden werden, wenn er nachweislich die Aufforderung zur Untersuchung erhalten hat und ihm die Folgen einer unbegründeten Weigerung angedroht sind. Es ist jedoch nicht zulässig, allein wegen der Weigerung des Versicherten, sich untersuchen zu lassen, in jedem Falle von vornherein auf jede Beweiserhebung zu verzichten und auch den Versuch zu unterlassen, ein Gutachten nach Lage der bereits vorhandenen ärztlichen Untersuchungsbefunde und Gutachten zu erstellen, deren Beiziehung möglich gewesen wäre, oder ohne die behandelnden Ärzte des Versicherten bzw. die von ihm selbst angegebenen Ärzte anzuhören (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. III S. 672 sowie Bd. II S. 244 k VII). Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits ausgesprochen, daß das Gericht seine Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt, wenn es, ohne festzustellen, ob es für die Erstattung eines weiteren Gutachtens einer erneuten Untersuchung des Beschädigten bedarf, allein wegen der Weigerung des Beschädigten, sich erneut untersuchen zu lassen, von der Einholung eines Gutachtens über medizinische Fragen absieht (BSG in SozR Nr. 43 zu § 103 SGG).

In dem vorliegenden Fall hat der Kläger seinem Schreiben vom 29. Dezember 1966 an die BfA eine auszugsweise Abschrift des Bescheides des Versorgungsamts (VersorgA) B vom 13. Dezember 1966 über die von diesem anerkannten Schädigungsfolgen beigefügt. Das LSG hätte ohne Beiziehung der Akten des VersorgA die Sachaufklärung nicht als erschöpft ansehen dürfen. Das LSG hätte prüfen müssen, ob sich die Erwerbsunfähigkeit des Klägers aus den ärztlichen Befunden und Beurteilungen ergeben konnte, die sich in den Strafakten und in den Akten des VersorgA befinden, worauf der Kläger sich berufen hat (Bl. 2 und 8 LSG-Akten).

Schließlich hat sich der Kläger zum Beweis für seine Erwerbsunfähigkeit - so müssen seine Ausführungen in seiner Klageschrift (Bl. 5 und 8 LSG-Akten) aufgefaßt werden - auf die Stellungsnahmen der Ärzte Dr. K und Dr. G II, beide in G, bezogen. Er hat sich bereit erklärt, Dr. G II von der ärztlichen Schweigepflicht zu entbinden. Er hat des weiteren ärztliche Bescheinigungen des Dr. G (Lungenfacharzt) vom 24. Januar 1967 und des Dr. K (praktischer Arzt) vom 21. Januar 1967 in Abschrift vorgelegt (Bl. 22 LSG-Akten). In seinem Schriftsatz vom 1. Januar 1968 hat er nochmals erklärt, daß das LSG von Dr. G II ein Gutachten erhalten könne, wenn ein entsprechender Auftrag erteilt werde (Bl. 54 LSG-Akten).

Es ist nicht auszuschließen, daß anhand der in den Akten des VersorgA und in den Strafakten vorhandenen ärztlichen Befunde und Gutachten Rückschlüsse zur Feststellung der Erwerbsunfähigkeit des Klägers gezogen werden können. Es ist des weiteren möglich, daß die vom Kläger angegebenen Ärzte für die Beurteilung seiner Erwerbsfähigkeit ausreichende Beweise hätten vorbringen können. Das LSG hätte im Rahmen seiner Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, diese möglichen Beweise erheben müssen. Der gerügte Mangel einer Verletzung des § 103 SGG liegt mithin im Verfahren des LSG vor.

Da die Revision schon aus diesem Grunde gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft ist, bedarf es keiner weiteren Prüfung, ob auch die weiteren, von der Revision vorgebrachten Verfahrensrügen durchgreifen.

Die hiernach zulässige Revision ist auch begründet, da nicht auszuschließen ist, daß das LSG zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn es gesetzmäßig verfahren wäre. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben. Dem Berufungsgericht muß zunächst Gelegenheit gegeben werden, die erforderlichen Ermittlungen zur Aufklärung des Sachverhalts durchzuführen. Hierfür muß die Sache gemäß § 170 Abs. 2 SGG an das LSG zurückverwiesen werden.

Bei seiner das Verfahren abschließenden Entscheidung wird das LSG auch über die Erstattung von außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1668906

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