Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 02.02.1990)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 2. Februar 1990 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten der Revisionsinstanz zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob die Klägerin der Beklagten überzahlte Waisenrente zurückzuerstatten hat.

1972 verstarb der bei der Beklagten versicherte Ehemann der Klägerin. Die Klägerin beantragte am Sterbetag für sich und ihre Kinder Hinterbliebenenrente. Das Antragsformular wurde bei der örtlichen Stadtverwaltung von einer Verwaltungsangestellten ausgefüllt und von ihr und der Klägerin unterschrieben. Im Antrag waren sechs Kinder aufgeführt, darunter auch eine bereits 1967 verstorbene Tochter der Klägerin. Im Verwaltungsverfahren wurde später das Sehvermögen der Klägerin von einem Augenarzt untersucht. Die beratende Ärztin der Beklagten gelangte aufgrund des Berichts des Augenarztes zu dem Schluß, die Klägerin habe die Schrift im Antragsformular und in dem später ergangenen Waisenrentenbescheid nicht lesen können. Im August 1972 erinnerte die Klägerin an ihren Rentenantrag und schrieb: „Ich stehe mit meinen fünf Kindern mittellos da”. Am 13. September 1972 erließ die Beklagte einen an die Klägerin gerichteten Bescheid, mit dem sie für sechs namentlich bezeichnete Kinder, darunter auch für die schon 1967 verstorbene Tochter Waisenrente gewährte. Die Waisenrente wurde in der Folge laufend ausgezahlt. Die in ihrer Sehfähigkeit beeinträchtigte Klägerin ließ den Bescheid der Beklagten durch ihren Schwiegervater überprüfen, der ihr erklärte, der Bescheid sei in Ordnung. 1981 stellte die Beklagte ihren Irrtum fest. Sie forderte die überzahlte Waisenrente zurück und bezifferte den Betrag zunächst auf über 27.000,00 DM und später auf 24.956,60 DM (Bescheide vom 26. November 1981; 22. Juni 1982; Widerspruchsbescheid vom 2. September 1982). Das Sozialgericht (SG) hob die Rückforderungsbescheide auf (Urteil vom 30. März 1984). Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung mit der Begründung zurück, die Voraussetzungen für die Rückforderungen seien zwar gegeben (§ 45 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch -≪SGB X≫), die Beklagte habe jedoch nicht beachtet, daß sie ihr Ermessen ausüben müsse (Urteil vom 23. Oktober 1984).

Die Beklagte stellte darauf Ermittlungen über die wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin an und gab der Klägerin Gelegenheit zur Stellungnahme. Dann forderte sie die überzahlte Waisenrente erneut zurück (Bescheid vom 6. November 1985; Widerspruchsbescheid vom 17. März 1986). Auch unter den bei der Ermessensausübung zu berücksichtigenden Umständen, darunter den Vermögensverhältnissen der Klägerin, sei die Rückforderung berechtigt.

Das SG hat die dagegen wiederum erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 26. Mai 1989). Das LSG hat auf die Berufung der Klägerin das Urteil des SG abgeändert und den Bescheid der Beklagten vom 6. November 1985 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 1986 aufgehoben (Urteil vom 2. Februar 1990). Zwar lägen die Voraussetzungen der Rückforderung vor, insbesondere habe die Klägerin grob fahrlässig die Überzahlung nicht erkannt. Doch sei die „gemäß § 50 Abs 2 Satz 2 SGB X zu beachtende Jahresfrist des § 45 Abs 4 SGB X bei Erteilung des Rückforderungsbescheides am 6. November 1985 bereits abgelaufen gewesen. Denn die Beklagte habe bereits 1981 davon Kenntnis gehabt, daß das eine Kind schon 1967 gestorben gewesen sei und daß deshalb ein Waisenrentenanspruch nur für fünf und nicht für sechs Kinder bestanden habe. Die frühere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach die Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X gewahrt sei, wenn nach Aufhebung eines rechtswidrigen Bescheides „alsbald” – wenn auch erst nach Ablauf der Frist – ein rechtmäßiger Rücknahmebescheid ergangen sei (BSGE 62, 103, 108; 63, 37, 43) sei aufgegeben worden (BSGE 65, 221; SozR 1300 § 45 Nr 45). Dieser neueren Auffassung schließe sich der Senat an.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§ 50 Abs 2 Satz 2 SGB X iVm § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 26. Mai 1989 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten gegen das angefochtene Urteil ist zurückzuweisen. Die Beklagte kann, wie das LSG zu Recht entschieden hat, von der Klägerin die zuviel bezahlte Waisenrente nicht zurückverlangen.

Die Beklagte hat die ursprüngliche Bewilligung der Waisenrente für das Kind, das beim Tod des Versicherten schon gestorben war, aufgehoben und die überzahlte Waisenrente zurückverlangt. Nach § 45 Abs 4 Satz 1 SGB X wird der (bewilligende) Verwaltungsakt nur in den Fällen von Abs 2 Satz 3 und Abs 3 Satz 2 mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen, dh nur, wenn sich der Begünstigte deshalb nicht auf sein Vertrauen in den begünstigenden Verwaltungsakt berufen kann, weil ihn selbst ein erheblicher Vorwurf trifft, also etwa wenn er die Rechtswidrigkeit des begünstigenden Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Auch in diesem Fall kann die Behörde den begünstigenden Verwaltungsakt indes nur innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen zurücknehmen, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen (§ 45 Abs 4 Satz 2 SGB X).

Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen indes nicht vor. Dabei kann offenbleiben, ob § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X iVm § 50 Abs 1 SGB X direkt oder ob – wie das LSG ohne nähere Begründung meint – § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X gemäß § 50 Abs 2 SGB X entsprechend anzuwenden ist. Die vom LSG festgestellten Tatsachen ergeben nämlich, daß die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X bei Erlaß des – erneuten – Rücknahmebescheides vom 6. November 1985 schon abgelaufen war.

Die Rechtsprechung des BSG, daß ein zweiter Aufhebungsbescheid schon dann rechtzeitig erlassen ist, wenn er nach Aufhebung eines fristgemäß erlassenen ersten Aufhebungsbescheides „alsbald” ergangen ist (vgl BSGE 62, 103, 108 und BSGE 63, 37, 43) ist aufgegeben worden (Urteil des 11. Senats des BSG vom 27. Juli 1989 in BSGE 65, 221 = SozR 1300 § 45 Nr 45). Der erkennende Senat, der die Auslegung des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X in seinem Urteil vom 13. Juli 1988 (SozR 1300 § 45 Nr 39) noch offen gelassen hat, schließt sich der vom 11. Senat im Urteil vom 27. Juli 1989 vertretenen Rechtsauffassung an. Danach bezieht sich die für den Fristbeginn erforderliche Kenntnis nicht darauf, daß die Rücknahme eine Ermessensausübung voraussetzt.

Der 11. Senat hat in dieser Entscheidung allerdings nichts zu der Frage gesagt, wie zu verfahren ist, wenn die den begünstigenden Bescheid zurücknehmende Behörde die Tatsachen noch nicht kannte, die für ihre dann später nachgeholte Ermessensentscheidung maßgebend geworden sind. Der 11. Senat hat vielmehr ausgeführt, in dem von ihm entschiedenen Falle seien die Tatsachen zur Vertrauensabwägung und zur Ermessensausübung, die nach dem nachgeholten Rücknahmebescheid die Rücknahme rechtfertigen sollten, bereits so früh bekannt gewesen, daß die Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X schon abgelaufen sei. So ist es aber auch im vorliegenden Fall.

Weder vom LSG sind verspätet bekannt gewordene Tatsachen festgestellt worden, die das Ermessen der Beklagten bestimmt haben, noch hat die Beklagte behauptet, daß sie ihr Ermessen erst nach Kenntnis von Tatsachen ausüben konnte, die sie erst nach Ablauf der Jahresfrist in Erfahrung bringen konnte. Die Beklagte wendet sich dementsprechend mit ihrer Revision auch nur gegen die vom 11. Senat im Urteil vom 27. Juli 1989 aaO vertretene und vom erkennenden Senat geteilte Rechtsauffassung, daß für den Fristbeginn im Sinne des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X die Kenntnis der rechtlichen Bedeutung aller der die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen nicht erforderlich ist. Allein der Umstand, daß die Beklagte noch einmal ermittelt hat, nachdem ihr erster Bescheid wegen Nichtausübung des Ermessens aufgehoben wurde, reicht nicht aus, die Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X als nicht abgelaufen anzusehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174047

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