Leitsatz (redaktionell)

Fällt der Beginn des Krankengeldes und des Altersruhegeldes (Erwerbsunfähigkeitsrente) auf denselben Tag, so liegt nicht ein Fall des RVO § 183 Abs 4, sondern der des RVO § 183 Abs 3 vor.

Der Forderungsübergang nach RVO § 183 Abs 3 und 5 geht einer nach RVO § 1299 (AVG § 78) bestehenden Aufrechnungsmöglichkeit vor.

 

Normenkette

RVO § 183 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1961-07-12, Abs. 4 Fassung: 1961-07-12, § 1299 Fassung: 1959-07-23; AVG § 78 Fassung: 1959-07-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 29. Mai 1969 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Beigeladene zu 1) - W K (K.) - erhielt von der klagenden Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) für die Zeit vom 1. Juni 1966 bis 31. März 1967 Krankengeld in Höhe von 5.526,30 DM. Mit Schreiben vom 9. August 1966 machte die AOK bei der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) einen Anspruch aufgrund des Forderungsübergangs nach § 183 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) geltend. Die Beigeladene zu 2) - die AOK B - teilte der LVA mit Schreiben vom 6. März 1967 mit, daß ihr K. Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter in Höhe von 2.407,14 DM schulde. Es handele sich dabei um Rückstände aus den Jahren 1952 und 1953.

Mit Bescheid vom 29. März 1967 bewilligte die LVA dem K. ein Altersruhegeld ab 1. Juni 1966. Die Nachzahlung für die Zeit vom 1. Juni 1966 bis 30. April 1967 belief sich auf 2.421,10 DM. Sie rechnete die Beitragsrückstände zur Arbeiterrentenversicherung in Höhe von 2.407,10 DM gegen die Nachzahlung auf und behielt den verbleibenden Rest von 14,- DM ein. Dieser Bescheid erhält ua. die Rechtsbehelfsbelehrung, daß der Widerspruch zulässig sei, sofern K. glaube, durch die Aufrechnung der Beitragsrückstände beschwert zu sein.

Nachdem die AOK ihren Anspruch für die Zeit vom 1. Juni 1966 bis 31. März 1967 mit 2.201,- DM beziffert hatte, teilte die LVA dem K. am 17. Mai 1967 mit, daß sie die einbehaltenen 14,- DM der Nachzahlung an die AOK abführe, so daß ein Rest für ihn nicht mehr verbleibe.

Auf die Klage der AOK wegen der nur teilweisen Befriedigung ihres Ersatzanspruches hat das Sozialgericht (SG) die LVA verurteilt, an die Klägerin 2.187,- DM zu zahlen. Die Berufung der LVA hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen. Es ist der Auffassung, die Aufrechnung sei nicht zulässig. Es fehle an dem Erfordernis der Gegenseitigkeit. Gläubigerin der Rentennachzahlung sei die AOK gewesen, soweit die Rente für dieselbe Zeit bewilligt worden sei, für die K. Krankengeld bezogen hatte. Der Übergang nach § 183 Abs. 3 Satz 2 RVO trete kraft Gesetzes im Augenblick der Rentenbewilligung ein, so daß K. in diesem Umfang niemals Gläubiger der Rentennachzahlung geworden sei. Aber auch gegenüber der AOK sei die LVA nicht zur Aufrechnung mit den zur Arbeiterrentenversicherung geschuldeten Beitragsrückständen berechtigt gewesen. §§ 406, 412 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) seien nicht entsprechend anwendbar, weil ihre Anwendung dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung des § 183 Abs. 3 Satz 2 und 3 RVO widerspreche; denn wäre eine Aufrechnung mit Beitragsrückständen zulässig, würde der Versicherte wirtschaftlich sowohl Krankengeld als auch Rente erhalten und im wirtschaftlichen Ergebnis die Krankenkasse die Beitragsschuld des Versicherten bezahlen.

Gegen dieses Urteil hat die LVA die zugelassene Revision eingelegt und zur Begründung ausgeführt, die genannten Normen regelten etwas völlig Verschiedenes. § 183 Abs. 3 RVO behandele die Frage, wer Gläubiger des Rentenanspruchs ist, während § 1299 RVO die Aufrechnungsmöglichkeiten gegen den Rentenanspruch regele. Deshalb müsse die Lösung des Problems aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen gefunden werden und hier seien die Vorschriften des BGB (§§ 406, 412) als allgemeine Rechtsgedanken entsprechend anwendbar. Aus ihnen ergebe sich der Vorrang der Aufrechnung vor dem Forderungsübergang.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG Hamburg vom 29. Mai 1969 sowie des SG Hamburg vom 24. Juli 1968 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Nach § 183 Abs. 3 RVO endet der Anspruch auf Krankengeld mit dem Tage, von dem an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit oder Altersruhegeld von einem Träger der Rentenversicherung zugebilligt wird. Ist über diesen Zeitpunkt hinaus Krankengeld gezahlt worden, so geht der Anspruch auf Rente bis zur Höhe des gezahlten Krankengeldes auf die Kasse über. Wie der Senat in BSG 24, 285 näher dargelegt hat, ist § 183 Abs. 3 Satz 2 RVO (Übergang des Rentenanspruchs) grundsätzlich auf den Fall des § 183 Abs. 4 RVO, daß nämlich während des Bezugs von Erwerbsunfähigkeitsrente oder Altersruhegeld Krankengeld gewährt wird, entsprechend anzuwenden. Hier setzten jedoch beide Leistungen - Krankengeld und Altersruhegeld - am 1. Juni 1966 ein. Der Beginn fiel also auf denselben Tag. Da mithin nicht "während" (vgl. zu diesem Begriff das Urteil des Senats vom 20. März 1969 - 3 RK 96/67 - SozR Nr. 38 zu § 183 RVO) des Bezugs von Altersruhegeld Krankengeld gewährt worden ist, war die Krankenkasse auch nicht verpflichtet, noch für höchstens sechs Wochen weiterhin Krankengeld zu zahlen (§ 183 Abs. 4 RVO).

Die von der LVA erklärte Aufrechnung mit Beitragsrückständen (§ 1299 RVO, 2. Fall) hat, wie das LSG im Ergebnis zutreffend entschieden hat, den Nachzahlungsanspruch auf Rente jedenfalls insoweit nicht zum Erlöschen gebracht, als die AOK die Rentennachzahlung für sich beansprucht; denn der Forderungsübergang nach § 183 Abs. 3 Satz 2 RVO geht einer nach § 1299 RVO bestehenden Aufrechnungsmöglichkeit vor. § 183 Abs. 3 Satz 2 RVO stellt eine unmittelbare Ausgleichsbeziehung zwischen dem - rückschauend betrachtet - nur zur Überbrückung eines Notstandes gezahlten Krankengeld und dem Teil der Rente dar, der anstelle dieses Krankengeldes von vornherein hätte gewährt werden müssen. Diese Regelung bezweckt einmal, den doppelten Bezug von Leistungen mit Lohnersatzfunktion auszuschließen; zum anderen soll die Krankenkasse dafür entschädigt werden, daß sie für den eigentlich verpflichteten Träger der Rentenversicherung eingesprungen ist, nämlich über den Rentenbeginn hinaus Krankengeld zahlen mußte, weil die Rente noch nicht bewilligt war. Könnte der Rentenversicherungsträger uneingeschränkt auch den von dem Forderungsübergang nach § 183 Abs. 3 Satz 2 RVO erfaßten Zeitraum in seine Aufrechnung einbeziehen, so würde der Versicherte für diesen Zeitraum letztlich doch Krankengeld und Rente nebeneinander beziehen; denn die Tilgungswirkung der Aufrechnung (§ 389 BGB) würde ihn in Höhe des aufgerechneten Teils des Rentenanspruchs von seiner Verbindlichkeit gegenüber dem Träger der Rentenversicherung befreien. Die Rente würde insoweit in Gestalt einer Schuldbefreiung in sein Vermögen gelangen. Daneben verbliebe dem Versicherten das Krankengeld, da der Forderungsübergang nach § 183 Abs. 3 Satz 2 RVO dem Entschädigungsinteresse der Krankenkasse abschließend Rechnung trägt; § 183 Abs. 3 Satz 2 RVO bestimmt ausdrücklich, daß die Kasse, wenn das Krankengeld die Rente übersteigt, den überschießenden Betrag nicht vom Versicherten zurückfordern kann. Eine den Forderungsübergang nach § 183 Abs. 3 Satz 2 RVO vereitelnde Aufrechnung würde also dem Versicherten den Doppelbezug von Krankengeld und Rente auf Kosten des berechtigten Entschädigungsinteresses der Krankenkasse ermöglichen.

Diese Umkehrung der dem § 183 Abs. 2 Satz 2 RVO zugrunde liegenden Interessenwertung - die um so unbilliger erschiene, als die Krankenkasse gleichsam stellvertretend für den Träger der Rentenversicherung leisten muß, ohne sich dessen Befugnis zur Aufrechnung zunutze machen zu können - würde auch dem Sinn des § 1299 RVO nicht gerecht. Sie würde nämlich das systemwidrige Ergebnis zeitigen, daß - wirtschaftlich gesehen - die Krankenkasse als Träger der Sozialversicherung für die aufrechnungsweise getilgte Verpflichtung des Versicherten aufkäme (vgl. Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Teil II/1, Stand März 1970, Anm. 6 c zu § 183; Pohl, WzS 1965, 39, 43). Nur schwerwiegende Belange des Trägers der Rentenversicherung - etwa ein schutzwürdiges Interesse daran, für die Aufrechnung gerade (auch) auf die in § 183 Abs. 3 Satz 2 RVO ausgesprochene Rentennachzahlung zurückzugreifen - könnten dieses Ergebnis möglicherweise rechtfertigen. Solche Belange sind aber nicht ersichtlich. Vielmehr kann sich der Rentenversicherungsträger uneingeschränkt noch an die laufende Rente halten; § 1299 RVO verweist ihn nicht - wie § 183 Abs. 3 Satz 2 RVO die Krankenkasse - auf den Nachzahlungsanspruch. Für diesen Teil des Rentenanspruchs enthält § 183 Abs. 2 Satz 3 RVO mithin die "speziellere" Regelung (im Ergebnis ebenso LSG Bremen, Breithaupt 1969, 8 = SGb 1969, 389 mit zustimmender Anmerkung von Godemann; Peters aaO; Pohl aaO; vgl. auch Urteil des Senats vom 25. Oktober 1968, BSG 28, 255, 257, wo entschieden ist, daß der Forderungsübergang nach § 183 Abs. 3 RVO einer Abtretung des Rentenanspruchs vorgeht; a. A. die Spitzenverbände der Krankenkassen in ihrer gemeinsamen Besprechung vom 15. Januar 1964, BKK 1964, 248 f; Hanisch, Ang. Vers. 1964, 95, 98). Nach alledem ist die Aufrechnung der LVA in dem genannten Umfang nicht wirksam geworden.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670289

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