Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit eines Lastkraftwagenfahrers

 

Orientierungssatz

Der Beruf des Kraftfahrers hat wie der eines Facharbeiters zu gelten, wenn der Versicherte "über die theoretischen Kenntnisse und praktischen Fertigkeiten eines ausgebildeten Berufskraftfahrers verfügt", auch wenn er eine den Anforderungen der Berufskraftfahrer-Ausbildungsverordnung vom 26. Oktober 1973 entsprechende Ausbildung nicht durchlaufen und eine entsprechende Prüfung nicht abgelegt hat (vgl BSG 1980-11-12 1 RJ 24/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 68).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; KraftfAusbV Fassung: 1973-10-26

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 30.04.1980; Aktenzeichen L 6 J 52/79)

SG Berlin (Entscheidung vom 13.02.1979; Aktenzeichen S 22 J 1645/75)

 

Tatbestand

Streitig ist ein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Der 1925 geborene Kläger war nach Blechschlosserlehre und einer Tätigkeit als Kraftfahrzeugschlosser von 1953 bis 1973 Lastkraftwagenfahrer. Nach einer Bandscheibenoperation 1973 beantragte er im Juni 1974 bei der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Nach Durchführung eines Heilverfahrens stellte die Beklagte das ab 22. April 1974 gewährte Übergangsgeld zum 5. April 1975 ein und lehnte mit dem streitigen Bescheid vom 28. Oktober 1975 den Rentenantrag ab; der Kläger sei nicht mehr berufsunfähig.

Klage und Berufung blieben in den Vorinstanzen ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat in dem angefochtenen Urteil vom 30. April 1980 die klageabweisende Entscheidung des Sozialgerichts (SG) vom 13. Februar 1979 bestätigt und ausgeführt: Der Kläger habe sich von seiner früher ausgeübten Tätigkeit als Blech- und Kraftfahrzeugschlosser gelöst. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Kraftfahrer sei erst mit Wirkung vom 1. Januar 1974, also nach Aufgabe dieser Tätigkeit durch den Kläger Ausbildungsberuf geworden. Daher verfüge dieser über keinen Berufsschutz. Er könne auf alle ungelernte Tätigkeiten mit Ausnahme derjenigen verwiesen werden, die zu den einfachsten Arbeiten zählten. Der nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme durch Anhörung medizinischer Sachverständiger noch zu vollschichtig leichten Arbeiten fähige Kläger könne daher zB als Pförtner und Fahrstuhlführer arbeiten oder leichte Montage-, Verpackungs- und ähnliche Tätigkeiten ausführen. Er sei nicht berufsunfähig. Gegen dieses Urteil hat der erkennende Senat die Revision zugelassen (Beschluß vom 11. September 1980).

Der Kläger hat die Revision eingelegt. Er bringt vor, sein Beruf als Kraftfahrer sei bereits vor Erlaß der Kraftfahrer-Ausbildungsverordnung vom 26. Oktober 1973 wie der eines Facharbeiters schutzwürdig gewesen; der Verordnungsgeber habe dies allein klargestellt. Im übrigen bezeichne die Ausbildung nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nur den Weg, auf dem die den Beruf qualifizierenden Kenntnisse und Fähigkeiten regelmäßig erworben werden. Er könne deshalb nicht auf alle einfachen Tätigkeiten, insbesondere nicht auf die eines Pförtners, verwiesen werden; er sei berufs- und erwerbsunfähig.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der Urteile des Sozialgerichts Berlin vom

13. Februar 1979, des Landessozialgerichts Berlin vom

30. April 1980 sowie - schlüssig - des Bescheides der

Beklagten vom 28. Oktober 1975 diese zu verurteilen, ihm seit dem

6. April 1975 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise

Berufsunfähigkeit zu gewähren,

weiterhin hilfsweise,

unter Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen die Angelegenheit

an einen anderen Senat des Landessozialgerichts zur erneuten

Verhandlung in der Tatsacheninstanz zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt zuletzt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Streitsache an die

Vorinstanz zurückzuverweisen.

Sie führt nach einer Anfrage des erkennenden Senats zuletzt aus, im Hinblick auf die Entscheidung des 5. Senats des BSG vom 12. September 1980 (SozR 2200 § 1246 Nr 67) werde nunmehr als "bisheriger Beruf" im Sinne von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO dem Kläger die Zuordnung in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zugestanden. Diese Feststellung rechtfertige jedoch nicht die Schlußfolgerung, daß der Kläger für die Zeit nach dem 4. April 1975 auch berufsunfähig sei. Er sei vielmehr auf andere berufliche Aufgabenbereiche - zB als Verkaufsfahrer in der Tabak- und Zigarettenindustrie, als Privatchauffeur, als Kassierer auf Selbstbedienungstankstellen und anderes - zumutbar verweisbar und damit in der Lage, die den Rentenanspruch ausschließende Lohnhälfte zu verdienen.

Beide Beteiligte haben erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG ).

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.

Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Nach Satz 2 aaO kommt es bei der Bestimmung des Kreises der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu beurteilen ist und die dem Versicherten unter Verneinung von Berufsunfähigkeit noch "zugemutet werden können", entscheidend auf den "bisherigen Beruf" (= "bisherige Berufsfähigkeit") sowie auf dessen "besondere Anforderungen", dh auf seine positiv zu bewertenden Merkmale, insgesamt also auf den qualitativen Wert des bisherigen Berufs an. Von geringerem Gewicht ist daher die aaO weiter genannte Berufsausbildung; sie kennzeichnet - wie der Kläger zutreffend dargetan hat - allein den Weg, auf dem die den Beruf qualifizierenden "Kenntnisse und Fähigkeiten" (Satz 1 aaO) regelmäßig erworben werden. Deshalb ist dann, wenn ein Versicherter die für einen bestimmten Beruf vorgesehene Ausbildung nicht durchlaufen hat, dieser doch sein "bisheriger Beruf", wenn zuletzt und nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübt hat (vgl zu alledem mit weiteren Nachweisen BSGE 41, 129 = SozR 2200 § 1246 Nr 11; BSGE 43, 243 = SozR 2200 § 1246 Nr 16; der erkennende Senat in SozR 2200 § 1246 Nr 29, 55, 62 und in ständiger Rechtsprechung). Im übrigen kann ein Beruf, für den überhaupt keine Regelausbildung vorgesehen ist, von hoher Qualität sein; auch ein solcher Beruf kann zB der Gruppe mit dem Leitberuf eines Facharbeiters zugeordnet werden.

Was unter diesem Gesichtspunkt speziell den Beruf des Kraftfahrers betrifft, so haben der 5. Senat des BSG am 12. September 1980 (SozR 2200 § 1246 Nr 67) und der erkennende Senat dem 12. November 1980 (Nr 68 aaO) ausdrücklich entschieden, daß dieser wie der eines Facharbeiters zu gelten hat, wenn der Versicherte "über die theoretischen Kenntnisse und praktischen Fertigkeiten eines ausgebildeten Berufskraftfahrers verfügt", auch wenn er eine den Anforderungen der Berufskraftfahrer-Ausbildungsverordnung vom 26. Oktober 1973 (BGBl I, 1518) entsprechende Ausbildung nicht durchlaufen und eine entsprechende Prüfung nicht abgelegt hat. Die Beklagte hat sich, vom erkennenden Senat auf diese Rechtsprechung hingewiesen, dieser Auffassung auch für den vorliegenden Fall ausdrücklich angeschlossen und im Schriftsatz vom 15. Oktober 1981 erklärt, sie anerkenne den "bisherigen Beruf" des Klägers als Berufskraftfahrer als Facharbeiterberuf. Dem kann der Senat ohne Bedenken beitreten.

Da der Kläger unter Zugrundelegung des von der Rechtsprechung des BSG entwickelten Mehrstufenschemas - Tätigkeiten mit den Leitberufen des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters, des Arbeiters im sonstigen Ausbildungsberuf (Angelernten) und des Ungelernten - grundsätzlich nur um eine Stufe nach unten verwiesen werden kann (vgl zB mit weiteren Nachweisen BSG in SozR 2200 § 1246 Nr 41; BSGE 49, 54, 56 = SozR 2200 § 1246 Nr 51 und BSG aaO Nr 55), ist ihm grundsätzlich nur eine Tätigkeit mit dem qualitativen Wert eines Angelernten zuzumuten. Die Verweisung auf durchweg ungelernte Tätigkeiten, wie sie das LSG vorgenommen hat, ist daher rechtlich unstatthaft.

Die nach allem nachzuholende Prüfung, auf welche konkrete Tätigkeiten mit dem qualitativen Wert eines sonstigen Ausbildungsberufs der Kläger unter Berücksichtigung seiner gesundheitlichen Verhältnisse verwiesen werden kann, hängt in weitem Umfang von tatsächlichen Feststellungen ab. Entsprechend den übereinstimmenden Anträgen der Beteiligten war daher das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG an die Vorinstanz zurückzuverweisen; der Zurückverweisung an einen anderen Senat des Berufungsgerichts bedurfte es nicht.

Der Kostenausspruch bleibt der abschließenden Entscheidung in der Sache vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659983

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