Leitsatz (amtlich)

Die Zeit des in der DDR abgeleisteten Grundwehrdienstes, die nach dortigem Recht als versicherungspflichtige Tätigkeit gilt, ist eine zurückgelegte Beitragszeit iS des FRG § 15 Abs 1 S 1 (Anschluß an BSG 1971-12-10 11 RA 64/71 = SozR Nr 16 zu § 15 FRG, BSG 1977-08-31 1 RA 155/75 = SozR 5050 § 15 Nr 8, BSG 1979-03-15 11 RA 46/78 = SozR 5050 § 15 Nr 11; Abgrenzung zu BSG 1980-03-19 11 RA 29/79 = SozR 5050 § 15 Nr 14 und BSG 1980-09-29 4 RJ 51/79 = SozR 5050 § 15 Nr 18).

 

Normenkette

FRG § 15 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25, § 17 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25; RVO § 1227 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 Fassung: 1965-06-09, § 1385 Abs. 4 Buchst. d Fassung: 1965-06-09; AVG § 2 Abs. 1 Nr. 8 Fassung: 1965-06-09, § 112 Abs. 4 Buchst. d Fassung: 1965-06-09; FRG § 15 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1960-02-25, § 17 Abs. 1 Buchst. a Fassung: 1960-02-25

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 24.10.1980; Aktenzeichen L 5 J 175/79)

SG Berlin (Entscheidung vom 25.09.1979; Aktenzeichen S 22 J 599/79)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Grundwehrdienstzeit des Klägers bei der Nationalen Volksarmee der DDR vom 3. Mai 1973 bis zum 30. Oktober 1974 Beitragszeit iS des § 15 Abs 1 Satz 1 des Fremdrentengesetz (FRG) ist.

Der 1954 geborene Kläger kam 1976 aus der DDR und nahm seinen ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West). Die Beklagte erteilte ihm unter dem 7. Juni 1977 einen Versicherungsverlauf für die Zeit bis zum 31. Dezember 1976 sowie einen Zuordnungsbescheid für die bis zum 9. August 1975 in der DDR zurückgelegten Beitragszeiten und lehnte zugleich die Anerkennung der Wehrdienstzeit als Versicherungszeit ab. Im August 1978 berief sich der Kläger auf ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG), aus dem sich ergebe, daß die Zeit seines Grundwehrdienstes in der DDR zu Unrecht nicht als Beitragszeit anerkannt worden sei. Die Beklagte erließ hierauf am 6. November 1978 erneut einen ablehnenden Bescheid. Den hiergegen eingelegten Widerspruch leitete die Beklagte mit Einverständnis des Klägers nach § 85 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) dem Sozialgericht (SG) als Klage zu. Dieses verpflichtete die Beklagte, unter Abänderung des Bescheides vom 7. Juni 1977 und Aufhebung des Bescheides vom 6. November 1978 die genannte Zeit des Grundwehrdienstes als Beitragszeit gem § 15 Abs 1 FRG anzuerkennen (Urteil vom 25. September 1979).

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen: Die Beklagte habe über die Anerkennung der Zeit des Grundwehrdienstes des Klägers erneut sachlich entschieden, obwohl sie bereits früher einen bindenden Bescheid erteilt gehabt habe. Damit habe sie die Frage der erneuten sachlichen Prüfung unterworfen (voll anfechtbarer Zweitbescheid). Doch habe die Beklagte zu Recht die Anerkennung der Zeit des Grundwehrdienstes als Beitragszeit abgelehnt. § 15 Abs 1 FRG begünstige nur Beitragszeiten. Nach der in der DDR geltenden gesetzlichen Regelung sei der Wehrsold lohnsteuerfrei und unterliege nicht der Beitragspflicht in der Sozialversicherung. Für die Dauer des Grundwehrdienstes ruhe die Beitragszahlung zur Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten bzw zur Sozialversicherung bei der Deutschen Versicherungsanstalt. Fremde beitragslose Zeiten könnten jedenfalls dann nicht Beitragszeiten iS des § 15 Abs 1 FRG sein, wenn ihre von dem fremden Recht vorgesehene Anrechenbarkeit in Ziel und Ausgestaltung den innerstaatlichen Vorschriften über Ersatz- oder Ausfallzeiten entsprächen oder ihnen nahe kämen. Letzteres treffe hier zu, zumal auch Zahlungen der DDR, die als Beiträge zum Grundwehrdienst angesehen werden könnten, nicht ersichtlich seien (Urteil vom 24. Oktober 1980).

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 15 Abs 1 FRG durch das Berufungsgericht.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Berlin vom 25. September 1979 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet.

Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Beklagte unabhängig von der Bindungswirkung des ablehnenden Verwaltungsaktes vom 7. Juni 1977 durch den angefochtenen Bescheid vom 6. November 1978 erneut über das Begehren des Klägers sachlich entschieden hat, so daß die Nichtanerkennung der geltend gemachten Zeit im Rahmen des Klageantrags der uneingeschränkten gerichtlichen Nachprüfung unterliegt (vgl BSG in SozR 5050 § 15 Nr 9 mwN).

Bei dieser rechtlichen Ausgangslage kann indes der Entscheidung des LSG nicht zugestimmt werden. Vielmehr hat der Kläger während seines Grundwehrdienstes bei der Nationalen Volksarmee der DDR Beitragszeiten iS des § 15 Abs 1 Satz 1 FRG zurückgelegt, die in Verbindung mit § 17 Abs 1 Buchst a FRG den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichstehen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG, der sich der erkennende Senat anschließt, liegt eine derartige Beitragszeit auch dann vor, wenn der Versicherte während der streitigen Zeit - wenngleich ohne konkrete Beitragsleistung - in ein grundsätzlich auf Beitragsentrichtung beruhendes soziales Sicherungssystem einbezogen war (vgl Urteil des 1. Senats vom 31. August 1977 in BSGE 44, 221 = SozR 5050 § 15 Nr 8 sowie Urteile des 11. Senats vom 10. Dezember 1971 - SozR Nr 16 zu § 15 FRG - und 15. März 1979 in SozR 5050 § 15 Nr 11). Diese Voraussetzungen sind im Falle des Klägers nach den hierfür maßgeblichen Vorschriften der DDR gegeben. Zwar handelt es sich hierbei gem § 162 SGG grundsätzlich um nicht revisibles Recht. Gleichwohl kann der Senat dieses Recht, das wegen der durch § 15 FRG bundesgesetzlich vorgeschriebenen Ermittlung der DDR-"Beitragszeiten" Vorfrage für die Anwendung bundesdeutschen Fremdrentenrechts ist, - erstmals - selbst feststellen, soweit es das LSG nicht getan hat (ebenso BSG in SozR 5050 § 15 Nr 21 mwN).

Gem § 4 Abs 2 Buchst b der Rentenverordnung (Renten-VO) vom 15. März 1968 (GBl DDR II 135) und § 2 Abs 2 Buchst b der - am 1. Juli 1974 in Kraft getretenen - Renten-VO vom 4. April 1974 (GBl DDR I 201) gilt der vom Kläger abgeleistete Grundwehrdienst in der DDR vom 3. Mai 1973 bis 30. Oktober 1974 als versicherungspflichtige Tätigkeit iS der Verordnungen. Der Kläger war damit - ebenso wie ein Vollstipendiat (vgl § 4 Abs 2 Buchst e Renten-VO 1968, § 2 Abs 2 Buchst e Renten-VO 1974) "vollberechtigtes Mitglied einer Sozialversicherungseinrichtung", was nach der Entscheidung des BSG vom 10. Dezember 1971 aaO für das Zurücklegen einer Beitragszeit iS des § 15 Abs 1 Satz 1 FRG ausreicht, weil trotz der unterbliebenen Beitragsleistung die versicherungsrechtliche Position des Klägers nicht beeinflußt wurde. Diese unterschied sich nämlich während des - als versicherungspflichtige Tätigkeit geltenden - Grundwehrdienstes in keiner Weise von der eines beitragspflichtigen Arbeitnehmers, der der Kläger vor und nach der Wehrdienstleistung war. Nach § 3 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 der Besoldungsverordnung vom 24. Januar 1962 (GBl DDR II 49) ruht zwar die Beitragszahlung zur Sozialversicherung für die Dauer des Grundwehrdienstes; nach Halbsatz 2 der Vorschrift bleiben jedoch "die Leistungsansprüche erhalten". Damit im Einklang ist Grundlage für die Rentenberechnung neben der Anzahl der Jahre der versicherungspflichtigen Tätigkeit - und damit auch der Wehrdienstleistung - der in den letzten 20 Kalenderjahren vor Beendigung der letzten versicherungspflichtigen Tätigkeit erzielte beitragspflichtige monatliche Durchschnittsverdienst (§ 6 Abs 1 Buchst a und b Renten-VO 1968, § 5 Abs 1 Buchst a und b Renten-VO 1974). Letzterem werden indes die Wehrdienstzeiten versicherungsrechtlich grundsätzlich dadurch gleichgestellt, daß die in den Berechnungszeitraum fallenden Wehrdienstzeiten bei der Errechnung des beitragspflichtigen monatlichen Durchschnittsverdienstes unberücksichtigt bleiben, wenn es für den Versicherten günstiger ist (§ 4 Abs 2 der 1. Durchführungsbestimmung zur Renten-VO 1968, GBl DDR II 149; § 11 Abs 3 der 1. Durchführungsbestimmung zur Renten-VO 1974, GBl DDR I 215). Auf diese Weise wird eine - nachteilige - Beeinflussung der versicherungsrechtlichen Position durch die Ableistung der Wehrpflicht vermieden (vgl Weiße/Roßbach, Rentenrecht der DDR, 1970 RdNr 2.7 zu § 6 Renten-VO 1968). Im Hinblick auf die während der Wehrdienstzeit tatsächlich fehlende Beitragsentrichtung wird dieses Ergebnis, ohne daß es zu Lasten der Versichertengemeinschaft geht, gleichwohl erreicht, weil in der DDR Mittel aus dem Staatshaushalt zur Deckung der Leistungen aufgebracht werden (Weiße/Roßbach, aaO, RdNr 1.2 zu § 4 Renten-VO 1968).

Eine gegenteilige, für den erkennenden Senat bindende Feststellung (§§ 162, 163 SGG) ist im angefochtenen Urteil nicht getroffen worden. Das LSG hat lediglich ein konkretes Beitragsaufkommen der DDR für den Grundwehrdienst verneint. Eine zurückgelegte Beitragszeit iS des § 15 Abs 1 Satz 1 FRG erfordert aber - wie der 11. und der 1. Senat des BSG in den Entscheidungen vom 10. Dezember 1971 und 31. August 1977 aaO übereinstimmend betont haben - eine gezielte Leistung des Staates für die beitragsfreie, aber versicherungspflichtige Tätigkeit gerade nicht. Es genügt vielmehr, wenn der Staat an der Deckung der späteren Rentenleistungen allgemein mitwirkt (so Urteil vom 31. August 1977 aaO unter Hinweis auf BSGE 6, 263, 265, 266).

Da eine derartige staatliche Beteiligung an der Finanzierung des sozialen Sicherungssystems der DDR zu bejahen ist, unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt bereits insoweit wesentlich von demjenigen, der der Entscheidung des 11. Senats des BSG vom 19. März 1980 (BSGE 50, 55 = SozR 5050 § 15 Nr 14) zugrunde liegt und der sich der 4. Senat des BSG mit Urteil vom 29. September 1980 (SozR 5050 § 15 Nr 18) angeschlossen hat. Nach diesen Entscheidungen kann ein nach Beendigung des 2. Weltkrieges in Rumänien geleisteter Militärdienst eine Beitragszeit iS des § 15 Abs 1 FRG nicht begründen. Anders als im vorliegenden Fall hat der 11. Senat in seiner Entscheidung vom 19. März 1980 staatliche Zahlungen und damit ein "irgendwie gestaltetes Beitragsaufkommen" nicht als festgestellt angesehen und bei jener Sachlage die Auffassung vertreten, daß eine spätere Mithonorierung auch der Wehrdienstzeiten im Versicherungsfall allein aus den dann verfügbaren Mitteln des Versicherungsträgers einer Beitragszahlung nicht gleichstehe. Er ist deshalb der Frage einer im Rahmen des § 15 Abs 1 FRG rechtserheblichen Einbeziehung des rumänischen Wehrdienstes in die dortige Rentenversicherung nicht weiter nachgegangen, hat aber an seinem das soziale Sicherungssystem der DDR betreffende Urteil vom 10. Dezember 1971, aaO, dem der erkennende Senat - ua - folgt, ausdrücklich festgehalten.

Im übrigen wird in den Entscheidungen vom 19. März und 29. September 1980, aaO eine rumänische Militärdienstzeit als "beitragslose Beitragszeit" übereinstimmend mit der Begründung abgelehnt, daß ihre vom rumänischen Recht im Versicherungsfall vorgesehene Anrechenbarkeit in Ziel und Ausgestaltung den innerstaatlichen Vorschriften über Ersatz- oder Ausfallzeiten entspreche oder doch nahekomme. Dieses Argument stützt im vorliegenden Fall die Rechtsauffassung des erkennenden Senats, weil nach dem im hier streitigen Zeitraum im Bundesgebiet geltenden Recht (§ 1227 Abs 1 Nr 6 Reichsversicherungsordnung -RVO-, § 2 Abs 1 Nr 8 Angestelltenversicherungsgesetz -AVG-) die Wehrpflichtigen ebenso versicherungspflichtig sind wie die Wehrpflichtigen in der DDR nach dortigem Recht (§ 4 Abs 2 Buchst b Renten-VO 1968, § 2 Abs 2 Buchst b Renten-VO 1974). Ersatzzeiten kommen aber schon rein begrifflich nicht für Zeiten in Betracht, in denen Versicherungspflicht bestanden hat (ebenso bereits BSG in SozR Nr 19 zu § 15 FRG). Unter Berücksichtigung der in beiden Staaten bestehenden Versicherungspflicht für die Dauer des Wehrdienstes kann für die Qualifizierung der streitigen Zeit als Beitragszeit iS des § 15 Abs 1 Satz 1 FRG nicht entscheidend sein, daß der Bund für die Wehrdienstleistenden Pflichtbeiträge zu entrichten hat (§ 1385 Abs 4 Buchst d RVO, § 112 Abs 4 Buchst d AVG), während in der DDR pauschal Mittel aus dem Staatshaushalt zur Deckung der auch auf den Wehrdienst als versicherungspflichtige Tätigkeit gestützten Rentenleistungen (§§ 4 Abs 2 Buchst b, 6 Abs 1 Buchst a und b Renten-VO 1968, §§ 2 Abs 2 Buchst b, 5 Abs 1 Buchst b und b Renten-VO 1974) erbracht werden. Insoweit handelt es sich um Besonderheiten des anderen Sozialversicherungssystems, die gerade im Rahmen des § 15 Abs 1 FRG unbeachtlich zu bleiben haben, weil nach der ratio legis dieser Gleichstellungsvorschrift die nach inländischem Recht selbstverständliche enge Verbindung von Beitrag und Rentenanspruch für das fremde Versicherungssystem weder bei der Entstehung noch bei der Höhe des Anspruchs verlangt werden kann (so ausdrücklich BSG-Urteile vom 10. Dezember 1971 und 31. August 1977 aaO jeweils mwN).

Schließlich setzt sich der Senat mit dieser Entscheidung auch nicht in Widerspruch zum Urteil des 1. Senats des BSG vom 18. Februar 1981 (SozR 5050 § 15 Nr 21). Jene Entscheidung beruht schon deswegen auf einem vom vorliegenden Fall abweichenden Sachverhalt, weil dort die Berücksichtigung einer nach DDR-Recht ausdrücklich von der Beitragspflicht befreiten Beschäftigung während des Bezugs einer Vollrente als Beitragszeit iS des § 15 Abs 1 Satz 1 FRG mit dem Gleichstellungszweck der Vorschrift nicht zu vereinbaren gewesen wäre. Wie bereits dargelegt, steht indes im vorliegenden Fall die Anerkennung des in der DDR geleisteten Grundwehrdienstes als "zurückgelegte Beitragszeit" mit der ratio legis des § 15 Abs 1 FRG im Einklang.

Nach alledem kann das mit der Revision angefochtene Urteil keinen Bestand haben, und das dem Klagebegehren entsprechende Urteil des SG ist zu bestätigen (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 93

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