Orientierungssatz

Die Umstellung des Klageantrages dahingehend, statt der Versicherungspflicht nunmehr die Versicherungsberechtigung festzustellen, stellt eine Klageänderung dar, die im Revisionsverfahren nicht mehr zulässig ist (SGG § 168).

 

Normenkette

SGG § 168

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 15.03.1960)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. März 1960 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Klägerin ist seit dem 1. Mai 1956 als kaufmännische Angestellte im Betriebe ihres Ehemannes, eines Steuerbevollmächtigten, tätig. Sie beantragte durch ihren Ehemann bei der beklagten Ersatzkasse zum 1. Mai 1956 ihre Aufnahme als versicherungspflichtiges Mitglied. Der Antrag wurde unter Hinweis auf § 175 der Reichsversicherungsordnung (RVO), wonach die Beschäftigung eines Ehegatten durch den anderen keine Versicherungspflicht begründet, zunächst mündlich und dann durch Bescheid der Widerspruchsstelle der beklagten Ersatzkasse vom 9. August 1956 abschlägig beschieden.

Die Klägerin ist der Meinung, daß diese Vorschrift gegen das Grundgesetz (GG) verstoße: Sowohl der Gleichberechtigungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 2) als auch der den Schutz von Ehe und Familie verbürgende Art. 6 Abs. 1 GG seien verletzt. Mit der Klage vor dem Sozialgericht (SG) Detmold hat sie beantragt,

unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 9. August 1956 festzustellen, daß sie vom 1. Mai 1956 an kranken-, angestellten- und arbeitslosenversicherungspflichtig und berechtigt ist, Pflichtmitglied der Beklagten seit diesem Tag zu sein.

Die beklagte Ersatzkasse hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, § 175 RVO trage dem Gedanken Rechnung, daß zwischen Ehegatten wegen der sittlichen Grundlagen ihrer Lebensgemeinschaft kein Arbeitsverhältnis bestehen könne. Der Ehegatte werde als "Arbeitsunternehmer", nicht als Gehilfe des anderen Ehegatten betrachtet. Im übrigen bestehe ein besonderer Grund, den im Betrieb des anderen Ehegatten tätigen Ehegatten von der Versicherungspflicht auszunehmen; denn der den Betrieb führende Ehegatte sei ohnehin auf Grund des Familienrechts zur Gewährung von Unterhalt und somit von Leistungen an den Ehegatten verpflichtet, die sonst die Sozialversicherung im Versicherungsfall erbringen würde.

Durch Urteil vom 15. März 1957 hat das SG die Klage abgewiesen.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung bei dem Landessozialgericht (LSG) mit dem Antrag eingelegt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 9. August 1956 und den zugrundeliegenden mündlichen Bescheid aufzuheben und festzustellen, daß die Beklagte die Aufnahme der Klägerin als versicherungspflichtiges Mitglied nicht deshalb ablehnen darf, weil die Klägerin in einem Beschäftigungsverhältnis zu ihrem Ehemann steht.

Die beklagte Ersatzkasse hat unter Aufrechterhaltung ihres Rechtsstandpunkts beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die beigeladene Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) hat sich diesem Antrag angeschlossen, während der Beigeladene Horst K den Antrag seiner Ehefrau unterstützt hat.

Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 15. März 1960). Das LSG hat offengelassen, ob § 175 RVO vorkonstitutionelles Recht sei. Hierauf wäre es nach Art. 100 Abs. 1 GG i. V. m. § 80 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) nur dann angekommen, wenn die genannte Vorschrift verfassungswidrig wäre. § 175 RVO verletze aber nicht das GG. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 GG liege schon deshalb nicht vor, weil § 175 RVO gleichermaßen für Männer wie für Frauen gelte. Art. 3 Abs. 1 GG sei gleichfalls nicht verletzt. Zwar werde ein im Betriebe des anderen Ehegatten beschäftigter Ehegatte gegenüber solchen verheirateten Personen, die nicht im Betrieb ihres Ehegatten, sondern anderweitig abhängig beschäftigt seien, insofern schlechter gestellt, als er von Sozialeinrichtungen des Staates durch § 175 RVO ausgeschlossen sei. Diese unterschiedliche Behandlung sei aber dadurch gerechtfertigt, daß der Ehegatte ohnehin für den anderen Ehegatten in den Fällen zu sorgen habe, in denen sonst Versicherungsleistungen zu gewähren seien. Der Ausschluß des Ehegatten von der Versicherungspflicht liege im Rahmen der Freiheit des Gesetzgebers zur sozialpolitisch zweckmäßigen Regelung der Sozialversicherung. Auch nach anderen Vorschriften -zB bei Angestellten im Falle des Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze - bestehe Versicherungsfreiheit, obwohl ein Beschäftigungsverhältnis und damit grundsätzlich soziale Schutzbedürftigkeit gegeben sei. Die Festlegung der Grenze der Schutzbedürftigkeit, die Versicherungspflicht auslösen solle, sei Sache des Gesetzgebers. Sachlich liege auch kein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG vor. Gerade dadurch, daß der Gesetzgeber durch § 175 RVO darauf verzichtet habe, den Zwang zur Sozialversicherung in die Beziehung zwischen Ehegatten hineinzutragen, habe er dem Gedanken des Schutzes von Ehe und Familie Rechnung getragen.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt und ursprünglich beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Sie wendet sich gegen die Auffassung des LSG, daß § 175 RVO den Schutzgedanken des Art. 6 Abs. 1 GG verwirkliche. Die Sozialversicherungspflicht sei keine "negative Belastung". Sie stelle die ihr unterworfenen Personen nicht schlechter, sondern sichere die Familie gegen Notfälle des Lebens. Durch § 175 RVO sei die Klägerin schlechter gestellt, als wenn sie nicht verheiratet oder nicht im Betrieb ihres Ehemannes tätig wäre. Eine Benachteiligung liege auch darin, daß das ihr gewährte Gehalt steuerlich nicht als Betriebsausgabe gebucht werden könne. Ferner könnten die Aufwendungen für eine freiwillige Sozialversicherung nur begrenzt - im Rahmen der Höchstbeträge für Sonderausgaben - steuerlich berücksichtigt werden.

Die beklagte Ersatzkasse hat um

Zurückweisung der Revision

gebeten.

Die beigeladene Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BfArb) und die beigeladene BfA haben sich diesem Antrag angeschlossen.

Mit Aussetzungs- und Vorlagebeschluß vom 25. April 1962 hat der Senat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) darüber eingeholt, ob § 175 RVO und § 4 Abs. 1 Nr. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) idF des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) mit dem GG vereinbar sind. Das BVerfG hat mit Beschluß vom 26. November 1964 - 1 BvL 14/62 - entschieden:

1. § 175 RVO in der im Gebiet der ehemaligen Britischen Besatzungszone geltenden Fassung der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17. März 1945 - RGBl I 41 - ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

2. § 1 Abs. 2 Nr. 1 AVG in der im Gebiet der ehemaligen Britischen Besatzungszone geltenden Fassung der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17. März 1945 - RGBl I 41 - war mit dem Grundgesetz vereinbar. Mit dem Grundgesetz war es nicht vereinbar, daß das AVG in dieser Fassung die bei ihrem Ehegatten in Beschäftigung stehenden Angestellten, die infolge der Verweisung auf die Krankenversicherungspflicht versicherungsfrei waren, von der freiwilligen Versicherung ausschloß.

3. § 4 Abs. 1 Nr. 2 AVG in der Fassung des AnVNG vom 23. Februar 1957 - BGBl I 88 - ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Mit dem Grundgesetz ist es nicht vereinbar, daß das AVG die bei ihrem Ehegatten in Beschäftigung stehenden Angestellten, die gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 2 versicherungsfrei sind, von der freiwilligen Versicherung ausschließt.

Die Klägerin hält nunmehr ihren Revisionsantrag mit der Maßgabe aufrecht, ihre Versicherungs berechtigung zur Kranken- und Angestelltenversicherung während ihres Beschäftigungsverhältnisses bei ihrem Ehemann festzustellen.

Die beklagte Ersatzkasse weist darauf hin, daß Streitgegenstand allein die Frage sei, ob die Klägerin als versicherungspflichtiges Mitglied aufgenommen werden könne. Diese Frage sei durch die Entscheidung des BVerfG dahin geklärt, daß dies nicht möglich sei. Demnach müsse die Klage abgewiesen werden. - Einem Beitritt als versicherungsberechtigtes Mitglied stehe grundsätzlich nichts im Wege. Doch könne sie, die beklagte Ersatzkasse, "den Abschluß des Vertrages" nach ihren Versicherungsbedingungen von der Vorlage eines ärztlichen Gesundheitszeugnisses abhängig machen.

II

Die Revision ist unbegründet.

Die Klägerin hat vor dem Revisionsgericht erklärt, sie halte ihren ursprünglichen Klageantrag - festzustellen, daß sie während ihres Beschäftigungsverhältnisses bei ihrem Ehemann in der Kranken-, Angestellten- und Arbeitslosenversicherung versicherungs pflichtig sei - nicht mehr aufrecht. Sie begehrt nunmehr die Feststellung, daß sie während ihres Beschäftigungsverhältnisses bei ihrem Ehemann in der Kranken- und in der Angestelltenversicherung versicherungs berechtigt sei.

In dieser Umstellung des Klageantrags liegt eine Klageänderung, die im Revisionsverfahren nicht mehr zulässig ist (§ 168 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Zu Unrecht meint die Klägerin, der nunmehr von ihr gestellte Feststellungsantrag sei bereits in ihrem ursprünglichen Klageantrag enthalten. Ihr Klageantrag war in diesem Rechtsstreit bis zur Entscheidung des BVerfG auf den Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des erkennenden Senats allein auf die Feststellung der Versicherungspflicht gerichtet. Das Klagevorbringen war ausschließlich diesem Klageziel gewidmet. Zwar hätte die Klägerin im Rahmen eines Hilfsantrags auch die Feststellung ihrer Versicherungsberechtigung als zweites Klageziel betreiben können. Doch hätte insofern ein neuer Klagegrund geltend gemacht werden müssen; denn die Mitgliedschaftsverhältnisse auf Grund der Pflichtversicherung und auf Grund freiwilligen Beitritts sind wesentlich verschieden, sowohl was die Voraussetzungen ihrer Begründung als auch die Beiträge und Leistungen betrifft. Die Klägerin hat jedoch erst in der Revisionsinstanz im Hinblick auf die Entscheidung des BVerfG ihre Versicherungsberechtigung geltend gemacht und dementsprechend auch ihren Klageantrag umgestellt. Der in der jetzigen Form gestellte Klageantrag ist unzulässig. Im Ergebnis ist daher das angefochtene Urteil richtig, wenn auch die Abweisung der Klage nicht mehr auf Sachgründen, sondern auf dem Fehlen einer Prozeßvoraussetzung - Zulässigkeit der Klageänderung - beruht.

Demnach war die Revision der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380532

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