Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 16.03.1993)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 16. März 1993 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten um die Höhe des der Klägerin bewilligten Arbeitslosengeldes (Alg).

Die Klägerin war von Mai 1987 bis zum 30. Juni 1990 bei der Firma N … C … AG (AG) als Sachbearbeiterin beschäftigt. Am 8. Juni 1990 meldete sie sich beim zuständigen Arbeitsamt (ArbA) zum 1. Juli 1990 arbeitslos und beantragte Alg. Unter Zugrundelegung der von der AG erteilten Arbeitsbescheinigung bewilligte das ArbA ihr Alg nach einem gerundeten wöchentlichen Arbeitsentgelt von 680,00 DM. Der Widerspruch der Klägerin, mit dem sie geltend machte, ihre Firma habe ihr im Juni eine Gehaltserhöhung für die Monate April und Mai nachgezahlt, blieb erfolglos. Der dagegen erhobenen Klage gab das Sozialgericht (SG) statt und verurteile die Beklagte, der Klägerin Alg ausgehend von einem gerundeten wöchentlichen Arbeitsentgelt von 700,00 DM zu gewähren (Urteil vom 10. April 1992). Die vom SG zugelassene Berufung der beklagten Bundesanstalt für Arbeit (BA) blieb erfolglos. Zur Begründung seines Urteils vom 16. März 1993 führte das Landessozialgericht (LSG) im wesentlichen aus: Die Beklagte sei zutreffend von dem in der Arbeitsbescheinigung der AG aufgeführten Bemessungszeitraum vom 1. März bis 30. Juni 1990 ausgegangen. Dem in diesem Zeitraum erzielten bescheinigten Bruttoarbeitsentgelt von 10.643,72 DM sei die im Juni 1990 der Klägerin gezahlte Summe von 337,84 DM hinzuzurechnen. Bei dieser Zahlung handele es sich nicht um eine einmalige Zuwendung iS des § 112 Abs 1 Satz 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG), sondern um eine aufgrund des Gehaltsabkommens zwischen dem Verband der Metallindustrie Nordrhein-Westfalen eV und der IG Metall vom 6. Mai 1990 rückwirkend vereinbarte tarifliche Gehaltserhöhung. Nach dem Gehaltsabkommen seien Tarifgehälter nach dem Stand vom 31. März 1990 mit Wirkung vom 1. April 1990 um 6 vH zu erhöhen. Für Angestellte sehe die Abmachung für die Monate April und Mai 1990 eine pauschalierte Zahlung eines Festbetrages von je 215,00 DM brutto, allerdings in Abhängigkeit von der in dem genannten Monat tatsächlich ausgeübten Tätigkeit vor. Aufgrund einer Fehlzeit im April 1990 sei der Klägerin im Juni 1990 der Betrag von 337,84 DM abgerechnet und ausgezahlt worden, so daß er bei der Berechnung des im Bemessungszeitraum erzielten Entgeltes zu berücksichtigen sei.

Die BA hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 112 Abs 1 Satz 2 AFG. Der Klägerin sei eine Zuwendung, dh ein einmalig gezahltes Arbeitsentgelt, wie es in § 227 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) definiert sei, zugeflossen. Dabei habe es sich nicht um neues laufendes Arbeitsentgelt gehandelt, so daß die Nachzahlung bei der Bemessung außer Betracht bleiben müsse. Zwar habe der 7. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 15. Februar 1990 (SozR 3-7825 § 3 Nr 1) die Nachzahlung einer rückwirkend tariflich vereinbarten Lohnerhöhung während des Bemessungszeitraums nicht als Zuwendung angesehen. Nach dem diesem Fall zugrundeliegenden Sachverhalt sei das Arbeitsentgelt aber auch von Anfang an in monatlich gleichem Umfang erhöht worden und somit ein neuer laufender Gehaltsanspruch entstanden. Ausdrücklich dahingestellt sei die Frage hinsichtlich der Vereinbarung einer pauschalen Zahlung für die vor der Tarifvereinbarung liegende Zeit geblieben.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts und das des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend und trägt ergänzend vor, daß es keinen Unterschied machen könne, ob eine tarifliche Gehaltserhöhung durch rückwirkende lineare Anhebung oder durch eine Pauschalierung erfolge. Insbesondere müsse dies gelten, weil in ihrem Falle das Gehaltsabkommen so gestaltet gewesen sei, daß bei Fehlzeiten eine Kürzung der pauschalierten Zahlungen vorgesehen sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Das angefochtene Urteil verletzt nicht, wie die BA meint, § 112 Abs 1 Satz 2 AFG. Ob der Klägerin höheres Alg zusteht, kann jedoch nur nach Prüfung aller für den Anspruch maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte entschieden werden (BSGE 67, 20, 21 = SozR 3-4100 § 138 Nr 3). Die insoweit noch fehlenden Feststellungen wird das LSG nachzuholen haben.

Zutreffend hat das LSG gemäß § 112 Abs 2 Satz 1 AFG den für die Feststellung des Arbeitsentgelts der Klägerin iS des § 112 Abs 1 maßgeblichen Bemessungszeitraum ermittelt. Er umfaßt bei ihr nicht nur die gemäß § 112 Abs 2 Satz 1 AFG bei ihrem Ausscheiden abgerechneten Lohnabrechnungszeiträume der letzten drei Monate der die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung vor der Entstehung des Anspruchs, in denen der Arbeitslose Entgelt erzielt hat, sondern wegen der Fehlzeiten der Klägerin im April 1990 gemäß Abs 2 Satz 3 der Vorschrift auch den Monat März 1990, insgesamt also den Zeitraum von März bis einschließlich Juni 1990. Erforderlich ist nämlich, daß die Lohnabrechnungszeiträume mindestens 60 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt ergeben. Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) hat die Klägerin in diesem Zeitraum 10.643,72 DM als Bruttoarbeitsentgelt erzielt. Dem LSG ist darin zuzustimmen, daß der der Klägerin im Juni 1990 zugeflossene Betrag von 337,84 DM dem genannten Bruttoarbeitsentgelt hinzuzurechnen ist. Bei diesem Betrag handelte es sich nämlich um laufendes Arbeitsentgelt für die Monate April und Mai 1990, das der Klägerin im Juni des Jahres in Form einer Nachzahlung ausgezahlt wurde. Mangels Rüge der beklagten BA ist der Senat an die vom LSG durch Auslegung des Gehaltsabkommens zwischen dem Verband der Metallindustrie Nordrhein-Westfalen eV und der IG Metall vom 6. Mai 1990 erfolgte Feststellung gebunden, daß es sich bei der Zahlung um eine tarifliche Gehaltsnachzahlung für die Monate April und Mai 1990 handelte, nach dem Gehaltsabkommen die monatliche Gehaltserhöhung für sämtliche Angestellten einheitlich 215,00 DM betrug und für den Monat April wegen anteiliger Fehlzeiten der Klägerin bei ihr dieser Betrag entsprechend gekürzt worden war.

Bei dieser Nachzahlung handelte es sich nicht um eine „einmalige oder wiederkehrende Zuwendung” iS des § 112 Abs 1 Satz 2 AFG, die bei der Festsetzung des Bemessungsentgelts außer Betracht zu bleiben hätte. Zuwendungen im Sinne dieser Bestimmung stehen nach der Rechtsprechung des BSG im Gegensatz zum fortlaufend gezahlten Arbeitsentgelt. Fortlaufend gezahltes Arbeitsentgelt sind die Lohnbestandteile, die als Gegenleistung für im Abrechnungszeitraum erbrachte Arbeit – zumeist im Anschluß an den einzelnen Abrechnungszeitraum – gezahlt werden (Senatsurteil, SozR 3-4100 § 112 Nr 11; BSG SozR 4100 § 112 Nr 25; BSGE 66, 34, 42 = SozR 2200 § 385 Nr 22). Unter Zuwendung im Sinne der Vorschrift ist nichts anderes zu verstehen als das in § 227 Abs 1 Satz 1 SGB V definierte einmalige Arbeitsentgelt. Einmalig gezahlte Arbeitsentgelte sind danach Zuwendungen, die dem Arbeitsentgelt zuzurechnen sind und nicht für die Arbeit in einem einzelnen Entgeltabrechnungszeitraum gezahlt werden. Entscheidendes Merkmal hierfür ist nicht etwa, wie der 12. Senat des BSG (BSGE 66, 34, 42) mit Recht betont hat, der Zeitpunkt der Auszahlung, sondern es kommt darauf an, ob das gezahlte Entgelt Vergütung für die in einem einzelnen, dh in einem bestimmten Abrechnungszeitraum geleistete Arbeit ist, die Vergütung also individualisiert einem bestimmten Abrechnungszeitraum zuzuordnen ist, oder ob Lohnbestandteile als Gegenleistung für die Arbeit in mehreren Lohnabrechnungszeiträumen ohne Zuordnung zu einem einzelnen Lohnabrechnungszeitraum, gleichsam als „aufgestautes Arbeitsentgelt”, in einer Summe entweder im Laufe eines Jahres nur einmal oder in mehrmonatigen Abständen wiederkehrend ausgezahlt werden. In diesem Sinne hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 17. Oktober 1991 (SozR 3-4100 § 112 Nr 11) ausgeführt, daß der Gesetzgeber zu erkennen gegeben habe, daß er aufgestautes Arbeitsentgelt unberücksichtigt lassen wolle und er damit allein auf die Zahlungsweise abgestellt habe. Dem entspricht auch die Auffassung des 7. Senats des BSG (vgl SozR 4100 § 112 Nr 25 und SozR 3-7825 § 3 Nr 1). Auch die Beklagte räumt im Hinblick auf das letztgenannte Urteil des 7. Senats ein, daß eine Nachzahlung einer rückwirkend tarifvertraglich vereinbarten Lohnerhöhung während des Bemessungszeitraums keine Zuwendung ist, wenn das Arbeitsentgelt von Anfang an in monatlich gleichem Umfang erhöht worden und damit ein neuer laufender Gehaltsanspruch entstanden sei. In jenem Fall hat der 7. Senat in einer Gehaltsnachzahlung für einen Monat im Bemessungszeitraum aufgrund einer rückwirkend tarifvertraglich vereinbarten prozentualen Lohnerhöhung keine Zuwendung iS des § 112 Abs 1 Satz 2 AFG erblickt, sondern die Zahlung laufenden Arbeitsentgelts, das bei der Bemessung zu berücksichtigen sei. Er hat jedoch die Frage offengelassen für den Fall, daß die Tarifvertragsparteien eine „pauschale” Gehaltsnachzahlung für die vor der Tarifvereinbarung liegende Zeit vereinbart hätten. Welche Fälle dafür im einzelnen in Betracht kommen mögen, hat der 7. Senat nicht erläutert, auch nicht, wie die Revision meint, in dem Urteil vom 26. November 1992 – 7 RAr 28/92 – DStR 1993, 1076. In jenem Fall hat er eine jährliche Bonuszahlung als einmalige oder wiederkehrende Zuwendung bei der Bemessung des Alg außer Betracht gelassen und dabei zur Definition dieses Begriffes insbesondere auf die hier bereits angeführte Rechtsprechung verwiesen und ist davon nicht abgewichen. Auch hier besteht kein Anlaß, sich mit der Frage von pauschalierten Nachzahlungen näher zu befassen, denn im vorliegenden Fall ist die Gehaltsnachzahlung spezifiziert für die Monate April und Mai 1990 nach den Vorgaben des Gehaltsabkommens erfolgt und damit jeweils eine Zurechnung der Gehaltserhöhung zu den für die Klägerin maßgeblichen monatlichen Abrechnungszeiträumen April und Mai 1990 möglich. Anstelle der nach dem Gehaltsabkommen für die Zukunft vorgesehenen 6%igen Gehaltserhöhung wurde diese für die Vergangenheit mit einer einheitlichen Summe von monatlich 215,00 DM für jeden Angestellten, gleich welcher Gehaltsgruppe er angehörte, abgegolten, wie es bei rückwirkenden tarifvertraglichen Lohnerhöhungen vielfach geschieht. Die Spezifizierung für jeden einzelnen Angestellten lag darin, daß die ihm zustehende Summe – darauf kommt es hier an – von dem zeitlichen Umfang der geleisteten Arbeit im einzelnen Abrechnungszeitraum abhängig war, bei reduzierter Arbeitsleistung deshalb die entsprechenden Abzüge von 215,00 DM zu erfolgen hatten. Dementsprechend ist im Fall der Klägerin verfahren worden. Die Nachzahlung für April 1990 ist infolge der Fehlzeiten der Klägerin nach den Feststellungen des LSG entsprechend gekürzt worden, während ihr für Mai 1990 die volle Summe von 215,00 DM brutto geleistet wurde. Wie in dem vom 7. Senat (SozR 3-7825 § 3 Nr 1) entschiedenen Fall ist damit auch der Klägerin eine individualisiert dem einzelnen Abrechnungszeitraum zugeordnete tarifvertraglich vereinbarte Gehaltserhöhung im Bemessungszeitraum zugeflossen. Daß sie wegen der Abgeltung der Lohnerhöhung durch den monatlichen „Festbetrag” von 215,00 DM möglicherweise eine höhere tarifliche Lohnerhöhung bezogen hat, als ihr aufgrund ihrer bisherigen tariflichen oder vertraglichen Einstufung bei einer prozentualen Lohnerhöhung von 6 vH zugeflossen wäre, ist in diesem Zusammenhang unschädlich; denn dieser Umstand widerspricht dem Zweck der Berechnung des Bemessungsentgelts für die Gewährung von Alg nicht. Dem Arbeitslosen soll nämlich in Höhe der Nettolohnersatzquote der Nettolohn ersetzt werden, den er erzielen würde, hätte er während des Leistungsbezugs Arbeit (BSG SozR 4100 § 113 Nr 7 sowie das zur Veröffentlichung vorgesehene Senatsurteil vom 21. April 1993 – 11 RAr 37/92 –). Da es grundsätzlich Sache der Tarifvertragsparteien ist, die Art der Lohnerhöhung zu bestimmen, ist es für die Höhe des zu berücksichtigenden Bemessungsentgelts eines arbeitslosen Arbeitnehmers ohne Belang, daß ihm anstelle einer individuell errechneten prozentualen Lohnerhöhung eine geringfügig höhere Summe infolge einer Abgeltung der Lohnerhöhung durch einen einheitlichen Betrag für alle Arbeitnehmer ausgezahlt wird.

Nach alledem ist die Rechtsauffassung des LSG insoweit zu bestätigen.

Dennoch kann der Senat – wie oben bereits erwähnt – die Sache nicht abschließend entscheiden, denn das für die Höhe des Alg maßgebende Arbeitsentgelt (Bemessungsentgelt) ist nicht allein von der Höhe des im Bemessungszeitraum erzielten Bruttoarbeitsentgelts, sondern auch von der Anzahl der zurückgelegten Arbeitsstunden und der wöchentlichen regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit abhängig. Im übrigen ist die Höhe des der Klägerin zustehenden Alg außerdem von den in § 111 Abs 1 und 2 AFG – hier idF des Gesetzes vom 20. Dezember 1985 (BGBl I 2484) – genannten Voraussetzungen abhängig. Entsprechende Feststellungen des LSG dazu (Arbeitsstundenzahl, Arbeitszeit, ferner, ob mindestens ein Kind bei der Klägerin zu berücksichtigen ist und welche Steuerklasse auf ihrer Lohnsteuerkarte für 1990 eingetragen war und in welcher Höhe ihr tatsächlich Alg geleistet worden ist) fehlen. Ohne die Kenntnis dieser maßgeblichen Tatsachen läßt sich nicht nachvollziehen, ob es zutrifft, daß das Bemessungsentgelt der Klägerin auf 700,00 DM zu erhöhen ist und der Klägerin höheres Alg zusteht.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1172841

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