Entscheidungsstichwort (Thema)

Feststellungen iS des § 3 Abs 2 SchwbG. Besitzstand im Schwerbehindertenrecht

 

Orientierungssatz

1. Amtsärztliche Bescheinigungen des Gesundheitsamtes sind keine Feststellungen iS des § 3 Abs 2 SchwbG (vgl BSG vom 19.8.1981 9 RVs 5/81 = USK 81316 und vom 8.12.1982 9a RVs 2/82).

2. Entscheidungen, die nach § 3 Abs 2 SchwbG eine Feststellung nach § 3 Abs 1 SchwbG ersetzen, müssen inhaltlich genau den Anforderungen des Schwerbehindertenrechts gerecht werden, so die Behinderung im einzelnen bezeichnen und außerdem einen bestimmten Grad der MdE erkennbar nach den gleichen Maßstäben festlegen, die in diesem Rechtsgebiet gelten (vgl BSG vom 30.1.1980 9 RVs 11/78 = SozR 3870 § 3 Nr 7). Der Pensionsfestsetzungsbescheid erfüllt diese Voraussetzungen nicht, da in ihm weder Behinderungen genannt sind, noch die MdE ziffernmäßig bestimmt ist.

3. Ebensowenig rechnet der von der Fürsorgestelle ausgestellte Schwerbehindertenausweis zu den Entscheidungen iS des § 3 Abs 2 SchwbG. Er diene als Nachweis über das Vorliegen einer Behinderung und über den Grad der auf ihr beruhenden MdE für die Übergangszeit und verlor mit Ablauf des Geltungszeitraumes seine Wirkung (ständige Rechtsprechung des 9. Senats: vgl Urteile vom 19.8.1981 9 RVs 5/81 und 8.12.1982 9a RVs 2/82).

4. Die in Art 2 Abs 1 Nr 1 UnBefG 1979 enthaltene Besitzstandsregelung bezieht sich, wie die Gesetzesbezeichnung, aber auch der Hinweis auf den 11. Abschnitt des SchwbG (§§ 57 ff SchwbG) verdeutlichen, lediglich auf die genannte Vergünstigung der "unentgeltlichen Beförderung". Die MdE-Festsetzung bleibt davon unberührt. Die Besitzstandswahrung des § 62 Abs 3 S 1 BVG setzt eine wesentliche Änderung der Verhältnisse voraus; sie ist nicht anwendbar, wenn die erstmalige Festsetzung der MdE nach den Grundsätzen des nun mehr geltenden SchwbG in Streit steht.

 

Normenkette

SchwbG § 3 Abs 1; SchwbG § 3 Abs 2; SchwbG § 3 Abs 5 S 1; UnBefG 1979 Art 2 Abs 1 Nr 1; BVG § 62 Abs 3 S 1; SchwbG § 57

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 19.11.1982; Aktenzeichen L 2 Vsb 60/81)

SG Kiel (Entscheidung vom 01.04.1981; Aktenzeichen S 7 Vsb 340/79)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt, ihm einen Schwerbehindertenausweis mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 vH auszustellen; hilfsweise die MdE im Zugunstenwege auf 80 vH festzusetzen.

Er war Berufssoldat. Wegen dauernder Dienstunfähigkeit gilt er nach § 35 G 131 mit Wirkung vom 1. Juli 1957 an als im Ruhestand befindlich (Bescheid des Leiters des Pensionsamtes . vom 30. November 1957). Hierzu hatte der Amtsarzt der Stadt N.  in seinem Gutachten vom 18. November 1957 die MdE mit 80 vH beurteilt und dauernde Dienstunfähigkeit angenommen.

Der Kläger war Inhaber eines Schwerbehindertenausweises mit einer MdE um 80 vH, der von der Fürsorgestelle ausgestellt worden war. Dieser Anerkennung lag eine amtsärztliche Stellungnahme des Gesundheitsamtes N. vom 22. März 1960 zugrunde. Der Schwerbehindertenausweis war zunächst bis Ende des Jahres 1976 und sodann vom Versorgungsamt bis zum 31. Dezember 1977 vorläufig verlängert worden. Eine weitere Verlängerung lehnte die Versorgungsverwaltung ab; sie setzte mit Bescheid vom 12. Juli 1977 die MdE auf 50 vH fest und erteilte einen entsprechenden Schwerbehindertenausweis.

Dem Antrag des Klägers, die MdE im Zugunstenwege auf 80 vH anzuheben, entsprach die Versorgungsverwaltung nicht (Bescheid vom 8. Mai 1979; Widerspruchsbescheid vom 25. September 1979).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat unter Abänderung des Urteils des SG sowie der angefochtenen Verwaltungsbescheide die Beklagte verurteilt, weitere Behinderungen anzuerkennen und die MdE ab 1. November 1981 auf 70 vH festzusetzen; im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Berufungsgericht im wesentlichen ausgeführt, das Klagebegehren sei nach § 3 Abs 1 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) teilweise begründet. Hingegen könne der Kläger sich auf § 3 Abs 2 SchwbG nicht berufen. Die amtsärztliche Bescheinigung des Gesundheitsamtes der Stadt N. vom 25. März 1960, die zur Vorlage beim Finanzamt - Abteilung Kraftfahrzeugstelle - diente, die amtsärztliche Stellungnahme vom 22. März 1960 dieser Dienststelle sowie das amtsärztliche Gutachten dieser Behörde vom 18. November 1957 seien nicht als Bescheinigung iS dieser Vorschrift zu werten. Gleiches gelte für die vom Leiter des Pensionsamtes . verfügte Ruhestandsversetzung. Auf den Schwerbehindertenausweis könne der Kläger sich nicht berufen; er habe mit Ende der Geltungsdauer seine Wirkung verloren. Auch unter dem Gesichtspunkt der Besitzstandswahrung finde das Klagebegehren keine Stütze.

Der Kläger rügt mit der - vom LSG zugelassenen - Revision insbesondere eine Verletzung des § 3 Abs 1 bis 3 SchwbG sowie des § 62 Abs 3 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG). Die Versorgungsbehörde sei nicht befugt gewesen - meint der Kläger -, die MdE auf 50 vH herabzusetzen. Nach den amtsärztlichen Beurteilungen sei die MdE übereinstimmend mit 80 vH bewertet. Insoweit handele es sich ebenso wie bei dem Bescheid der Pensionsfestsetzungsbehörde um eine gleichwertige Feststellung iS des § 3 Abs 2 SchwbG. Zudem habe das Versorgungsamt den im Verwaltungsrecht geltenden Grundsatz der Besitzstandswahrung nicht beachtet; mit dem Schwerbehindertenausweis sei bereits eine MdE um 80 vH anerkannt gewesen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG abzuändern und der Klage in vollem Umfange stattzugeben; hilfsweise, den Rechtsstreit zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das Berufungsgericht hat den Beklagten im anhängigen Zugunstenverfahren nach § 44 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - SGB 10 - (zur Geltung dieser Vorschrift in Übergangsfällen: vgl BSGE 54, 223, 226 = SozR 1300 § 44 Nr 3) verpflichtet, die MdE auf 70 vH festzusetzen. Das LSG hat damit dem Begehren des Klägers zu Recht nur teilweise entsprochen.

Die Versorgungsverwaltung ist nicht verpflichtet, einen Schwerbehindertenausweis auszustellen, der die MdE mit 80 vH ausweist. Das darauf gerichtete Klagebegehren ist nach § 3 Abs 5 Satz 1 des Gesetzes zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (SchwbG idF des Art 2 Nr 1 Buchst c des 8. Anpassungsgesetzes vom 14. Juni 1976 -BGBl 1481- in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. Oktober 1979 -BGBl I 1649-) davon abhängig, daß aufgrund einer unanfechtbar gewordenen Feststellung nach Abs 1 bis 3 die Erwerbsfähigkeit nicht nur vorübergehend in entsprechender Höhe gemindert ist. Diese Voraussetzung liegt nicht vor.

Die Feststellung des LSG, die vorhandenen Behinderungen seien mit 70 vH zu bewerten, ist nicht zu beanstanden. Die MdE ist nach den Auswirkungen der ermittelten Behinderungen "in ihrer Gesamtheit" entsprechend § 30 Abs 1 BVG zu bemessen (§ 3 Abs 1 Satz 1 und Abs 3 SchwbG). Dabei ist das Ausmaß aller körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen unabhängig von ihrer Ursache zu berücksichtigen (BSGE 48, 82, 83 f = SozR 3870 § 3 Nr 4). Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht beachtet.

Auch der unabhängig davon auf § 3 Abs 2 SchwbG gestützte Klageanspruch ist nicht begründet. Nach dieser Vorschrift ist dem zuständigen Versorgungsamt eine eigene Feststellung nach § 3 Abs 1 SchwbG verwehrt, wenn eine solche über das Vorliegen einer Behinderung und den Grad einer auf ihr beruhenden MdE schon in einem Rentenbescheid, einer entsprechenden Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung oder einer vorläufigen Bescheinigung der für diese Entscheidungen zuständigen Dienststelle getroffen worden ist. Entgegen der Meinung des Klägers sind weder das amtsärztliche Gutachten vom 18. November 1957, die amtsärztliche Stellungnahme vom 22. März 1960 noch die amtsärztliche Bescheinigung vom 25. März 1960 als derart bindender Nachweis zu werten. Wie der erkennende Senat schon mehrfach entschieden hat, kommen nach § 3 Abs 2 SchwbG nur echte "Entscheidungen" ("Feststellungen") einer zuständigen Verwaltungsbehörde oder des Gerichts in Betracht, worin mit bindender Wirkung festgelegt ist, welche Gesundheitsstörungen als Behinderungen anzuerkennen sind und in welchem Ausmaß sie die Erwerbsfähigkeit gemäß § 3 Abs 1 Satz 2 SchwbG mindern (BSG SozR 3870 § 3 Nr 7; ebenso Urteile des Senats vom 17. September 1980 - 9 RVs 2/80 -, vom 19. August 1981 - 9 RVs 5/81 - = USK 81316 und vom 8. Dezember 1982 - 9a RVs 2/82 -). Die Äußerungen des Gesundheitsamtes enthalten lediglich eine sachkundige Beurteilung über Art und Ausmaß der Behinderung; sie sind lediglich im Wege der Amtshilfe erteilt worden. Ein solches verwaltungsinternes Handeln hat keine "Außenwirkung", ihm kommt keine Regelungsbedeutung zu. Verwaltungsäußerungen dieser Art dienen ausschließlich als Grundlage einer hoheitlichen Einzelfallgestaltung und sind dieser nicht gleichzusetzen. Dies gilt selbst dann, wenn amtsärztliche Meinungsäußerungen in bezug auf das SchwbG erstellt oder etwa dem Betroffenen bekannt gegeben werden (BSG Urteil vom 19. August 1981).

Ebensowenig entspricht der Pensionsfestsetzungsbescheid den Erfordernissen des § 3 Abs 2 SchwbG. Entscheidungen, die nach dieser Vorschrift eine Feststellung nach § 3 Abs 1 SchwbG ersetzen, müssen inhaltlich genau den Anforderungen des Schwerbehindertenrechts gerecht werden, so die Behinderung im einzelnen bezeichnen und außerdem einen bestimmten Grad der MdE erkennbar nach den gleichen Maßstäben festlegen, die in diesem Rechtsgebiet gelten (BSG SozR 3870 § 3 Nr 7). Daran fehlt es gerade. Weder sind Behinderungen genannt, noch ist die MdE ziffernmäßig bestimmt. Die Zurruhesetzung erfolgte wegen dauernder Dienstunfähigkeit; sie wird bei einer MdE um mindestens 2/3 angenommen (§ 53 Abs 1 Satz 5 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art 131 des Grundgesetzes fallenden Personen - G 131 - iVm § 42 Abs 1 Bundesbeamtengesetz).

Der von der Fürsorgestelle ausgestellte Schwerbehindertenausweis rechnet nicht zu den Entscheidungen iS des § 3 Abs 2 SchwbG. Er diente als Nachweis über das Vorliegen einer Behinderung und über den Grad der auf ihr beruhenden MdE für die Übergangszeit und verlor mit Ablauf des Geltungszeitraumes seine Wirkung (ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats: Urteile vom 19. August 1981 und 8. Dezember 1982; zu Gleichstellungsbescheiden vgl Urteil des erkennenden Senats vom 20. April 1983 - 9a RVs 3/82 -, zur Veröffentlichung bestimmt). Gleiches gilt für die mit Vorbehaltsbescheid bewirkte Verlängerung der Gültigkeitsdauer bis Ende des Jahres 1977 (Urteil des Senats vom 8. Dezember 1982). Die dem Kläger ehemals zuerkannte günstige Rechtsposition, die das frühere Schwerbehindertenrecht gewährte, ist ihm gerade nicht auf Dauer erhalten geblieben. Die ergangenen "Übergangs- und Schlußvorschriften" geben hierfür deutliche Hinweise (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 20. April 1983). Danach ist die dem Schwerbehindertenausweis zuerkannte Geltungsdauer maßgebend. Ein Vertrauen darauf, daß ebenso auch künftig weitere Verlängerungen zugestanden werden, läßt sich nicht ableiten (Urteil des Senats vom 8. Dezember 1982).

Der Kläger kann sich nicht auf einen erworbenen Besitzstand berufen. Die in Art II Abs 1 Ziffer 1 des Gesetzes über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr enthaltene Besitzstandsregelung bezieht sich, wie die Gesetzesbezeichnung, aber auch der Hinweis auf den 11. Abschnitt des SchwbG (§§ 57 ff SchwbG) verdeutlichen, lediglich auf die genannte Vergünstigung der "unentgeltlichen Beförderung". Die MdE-Festsetzung bleibt davon unberührt. Überdies ist der in Betracht kommende Personenkreis, wie das LSG zutreffend angemerkt hat, auf Kriegsbeschädigte und Verfolgte beschränkt, deren "anerkannte Schädigung" auf wenigstens 70 vH festgestellt ist. Dazu rechnet der Kläger nicht. Zudem kommt die in § 62 Abs 3 Satz 1 BVG vorgesehene Besitzstandswahrung dem Kläger nicht zugute. Diese Vorschrift findet zwar auch im Schwerbehindertenrecht entsprechende Anwendung (§ 3 Abs 1 Satz 1 SchwbG) und ist durch das SGB 10 nicht außer Kraft getreten (vgl hierzu Art II § 15 Nr 1 der Übergangs- und Schlußvorschriften zum SGB 10, wonach ua lediglich § 62 Abs 1 Satz 1 BVG gestrichen wurde). Indessen geht es hier nicht um eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen, wie dies die genannte Bestimmung voraussetzt. Vielmehr ist die erstmalige Festsetzung der MdE nach den Grundsätzen des nunmehr geltenden SchwbG in Streit.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655940

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