Leitsatz (amtlich)

1. Die Aufhebung des RVO § 1236 Fassung: 1924-12-15 durch 1. VereinfV Art 4 ist spätestens am Tage des erstmaligen Zusammentritts des Deutschen Bundestages 1949-09-07 im ganzen Bundesgebiet wirksam geworden.

2. Eine Beschäftigung gegen Entgelt, die den Fortbestand der Versicherungspflicht begründet (RVO § 1226 Abs 2 Fassung: 1924-12-15 ), liegt - solange das Arbeitsverhältnis nicht beendet ist - auch dann vor, wenn der Versicherte arbeitsunfähig ist.

 

Normenkette

RVO § 1226 Abs. 2 Fassung: 1924-12-15, § 1236 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15, § 1226 Nr. 1 Fassung: 1945-03-17, § 165 Abs. 2 Fassung: 1945-03-17; SVVereinfV 1 Art. 4

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz in Mainz vom 12. Februar 1958 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte dem Kläger vom 1. Januar 1957 ab eine nach den Vorschriften zu B des 2. Abschnitts des Artikels 2 ArVNG umzustellende Invalidenrente zu gewähren hat.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der ... 1914 geborene Kläger war bis zu seiner Einberufung zum Kriegsdienst in der elterlichen Landwirtschaft tätig, ohne Beiträge zur Rentenversicherung zu entrichten. Vom 30. Oktober 1935 bis zum 30. September 1937 hatte er aktiven Wehrdienst geleistet; am 25. August 1939 wurde er zum Kriegsdienst einberufen. Am 1. August 1942 erlitt er eine Granatsplitterverletzung des rechten Stirnbeines und des rechten Ellenbogens und wurde deshalb nach langer Behandlung am 29. August 1944 aus dem Wehrdienst entlassen. Er erhält seit dem 1. Oktober 1950 eine Kriegsbeschädigtenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 100 v. H., während bis dahin eine MdE. von 80 v. H. anerkannt war.

In der Zeit vom 24. Mai 1946 bis zum 21. August 1952 war der Kläger bei der B in L als Laborarbeiter beschäftigt; während dieser Zeit wurden für ihn Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter entrichtet.

Am 5. September 1952 beantragte der Kläger die Invalidenrente; die Beklagte lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 1. Juli 1953 ab, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei; sie nahm an, daß Invalidität bereits seit dem 1. Februar 1951 bestehe und beanstandete die nach diesem Zeitpunkt entrichteten Beiträge als rechtsunwirksam; rechtswirksam seien demnach nur 57 Monatsbeiträge geleistet.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Berufung ein, die mit dem 1. Januar 1954 als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Speyer überging; das SG. wies durch Urteil vom 14. Oktober 1955 die Klage ab, da es die Auffassung der Beklagten teilt.

Auf die Berufung des Klägers hob das Landessozialgericht (LSG.) in Mainz durch Urteil vom 12. Februar 1958 das Urteil des SG. und den Bescheid der Beklagten auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. Januar 1957 an zu gewähren. Das LSG. ging zwar gleichfalls davon aus, daß im Februar 1951 im Gesundheitszustand des Klägers eine Verschlimmerung eingetreten sei, die seitdem Invalidität und Erwerbsunfähigkeit bedinge, es nahm jedoch an, daß die Wartezeit erfüllt sei, weil nach § 1251 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung neuer Fassung (RVO n. F.) die Zeiten des militärischen Dienstes als Ersatzzeiten anzurechnen seien, da der Kläger innerhalb von zwei Jahren nach Beendigung des militärischen Dienstes eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen habe. Die Vorschrift sei auch auf Versicherungsfälle anzuwenden, die vor dem 1. Januar 1957 eingetreten seien; dies ergebe sich aus Art. 2 § 8 Abs. 1 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG), der § 1249 RVO n. F. auch auf frühere Versicherungsfälle für anwendbar erkläre; § 1249 verweise aber auf § 1250 und dieser wiederum auf § 1251 RVO n. F., so daß auch letzte Bestimmung von Art. 2 § 8 a. a. O. mittelbar erfaßt sei.

Gegen dieses am 11. März 1958 zugestellte Urteil legte die Beklagte am 19. März 1958 unter Antragstellung Revision ein und begründete diese innerhalb der bis zum 14. Juni 1958 verlängerten Revisionsbegründungsfrist am 10. Juni 1958. Sie rügt eine Verletzung des Art. 2 § 8 ArVNG und ist der Ansicht, daß § 1251 RVO n. F. nicht auf Versicherungsfälle anzuwenden sei, die vor dem 1. Januar 1957 eingetreten waren. Art. 2 § 5 ArVNG schreibe für derartige Versicherungsfälle grundsätzlich die Anwendung alten Rechts vor; Art. 2 § 8 a. a. O. erkläre nur § 1249, nicht jedoch die §§ 1250 und 1251 RVO n. F. auf frühere Versicherungsfälle für anwendbar. Die Wartezeit sei auch nicht etwa bereits durch die nach dem Februar 1951 entrichteten Pflichtbeiträge erfüllt, da diese Beiträge jedenfalls deshalb unwirksam seien, weil sie während eines "mißlungenen Arbeitsversuches" entrichtet wären.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG. aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er ist der Ansicht, dass das angefochtene Urteil richtig sei und ihm die Rente seit dem 1. Januar 1957 zustehe.

 

Entscheidungsgründe

I

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist statthaft, weil das LSG. sie im Urteil zugelassen hat. Die zulässige Revision ist jedoch im wesentlichen nicht begründet.

II

Nach den Feststellungen des LSG., die nicht angegriffen sind und die deshalb das Revisionsgericht gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) binden, ist der Kläger seit dem 1. Februar 1951 invalide und erwerbsunfähig; das LSG. geht davon aus, daß er seit diesem Zeitpunkt eine lohnbringende Tätigkeit nicht mehr verrichten kann. Der Versicherungsfall ist demnach nach den §§ 1253, 1254 RVO a. F. bereits am 1. Februar 1951 eingetreten. Da alle sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind, hängt der Anspruch des Klägers, der jetzt nur noch für die Zeit vom 1. Januar 1957 ab geltend gemacht wird, einzig davon ab, ob er die Wartezeit von 60 Monaten erfüllt hat. Erst wenn feststeht, daß dies nicht der Fall ist, kommt es darauf an, ob er für die fehlende Zeit Ersatzzeiten geltend machen kann.

Der Kläger hat insgesamt mehr als 60 Monatsbeiträge entrichtet; die Wartezeit ist also erfüllt, wenn diese Beiträge wirksam sind. Die Beklagte hat jedoch nur 57 Monatsbeiträge als wirksam anerkannt und die für die Zeit vom 1. Februar 1951 als zu Unrecht entrichtet beanstandet, weil der Kläger bereits damals invalide war. Es kommt somit darauf an, ob die beanstandeten Beiträge trotz des bereits eingetretenen Versicherungsfalles wirksam entrichtet werden konnten. Die Wirksamkeit dieser Beiträge richtet sich nach dem Recht, das in dem Zeitraum galt, für den sie entrichtet wurden (vgl. BSG. Bd. 1 S. 52, 54), sie ist also nach dem in den Jahren 1951 und 1952 geltenden Recht zu beurteilen. Nach § 1443 RVO a. F. war damals zwar die Entrichtung freiwilliger Beiträge nach Eintritt der Invalidität untersagt. Pflichtbeiträge mußten jedoch auch von einem Invaliden, der weiterhin noch versicherungspflichtige Arbeiten verrichtete, entrichtet werden, da § 1236 RVO a. F., der bei derartigen Invaliden Versicherungsfreiheit vorschrieb, jedenfalls in den Jahren 1951 und 1952 im gesamten Bundesgebiet außer Kraft gesetzt war. Schon der Art. 4 der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung (VVO) vom 17. März 1945 hatte jenen § 1236 RVO ausdrücklich aufgehoben. Art. 4 ist auch in der gesamten Bundesrepublik geltendes Recht geworden. Der 3. Senat hat in seinem Urteil vom 11. Juni 1956 (BSG. Bd. 3 S. 161) entschieden, daß der Art. 19 der VVO spätestens am 7. September 1949 im gesamten Bundesgebiet wirksam geworden ist. Diesem Urteil hat sich u. a. der erkennende Senat (vgl. Urteil vom 6.9.1956 - 4 RJ 111/54 -) angeschlossen. Die für den Art. 19 maßgebenden Gesichtspunkte treffen gleichermaßen auch auf den Art. 4 a. a. O. zu. Das erklärte rechtspolitische Ziel der in § 29 Abs. 2 des Gesetzes über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlaß des Krieges ("Maßnahmengesetzes") vom 15. Januar 1941 (RGBl. I S. 34) enthaltenen Ermächtigung zu Ergänzungen und Änderungen des Gesetzes war es, möglichst viele Kräfte für den Arbeitseinsatz zu gewinnen. Auch Personen, die bereits invalide waren, sollten im Rahmen ihrer körperlichen Möglichkeiten eingesetzt werden. Das ergibt sich deutlich aus § 21 des Maßnahmengesetzes, wonach eine wegen Invalidität oder Berufsunfähigkeit gewährte Rente nicht mit der Begründung entzogen werden durfte, daß der Berechtigte während des Krieges erneut eine Tätigkeit ausübte. Es sollten also Personen, bei denen der Versicherungsfall bereits eingetreten war, für den Arbeitseinsatz gewonnen werden, ohne daß ihnen dadurch Nachteile entstanden. Dieses Ziel verfolgt auch Art. 4 VVO, indem er den § 1236 RVO a. F. aufhebt und damit auch diejenigen für versicherungspflichtig erklärt, die eine nach § 1226 RVO versicherungspflichtige Beschäftigung ausüben, selbst wenn sie invalide sind. In der Begründung zu dem Entwurf dieser VO heißt es: "Invalide Personen, die bisher nach § 1236 RVO versicherungsfrei waren, sind künftig auch rentenversicherungspflichtig. Es handelt sich hierbei um Personen, die zwar invalide sind, aber die Wartezeit noch nicht erfüllt haben und deshalb keine Rente beziehen. Diese Personen, die bisher schon krankenversicherungspflichtig waren, werden durch die Einbeziehung in die Rentenversicherungspflicht in die Lage versetzt, sich durch nachträgliche Erfüllung der Wartezeit doch noch eine Invalidenrente zu erdienen. Die neue Vorschrift wird damit auch arbeitseinsatzmäßig günstige Auswirkungen haben." Daraus ergibt sich, daß Art. 5 VVO ebenso wie § 21 des Maßnahmengesetzes das Ziel verfolgt, auch solche Personen für den Arbeitseinsatz zu gewinnen, bei denen der Versicherungsfall bereits eingetreten war. Art. 4 hält sich also im Rahmen des ermächtigenden Gesetzes.

Da im übrigen das Inkrafttreten des § 4 VVO ebenso zu beurteilen ist wie das Inkrafttreten des Art. 19, ist mit den vorgenannten Urteilen davon auszugehen, daß der § 1236 RVO a. F. jedenfalls spätestens am 17. September 1949 im gesamten Bundesgebiet außer Kraft getreten ist. Danach konnten die für den Kläger trotz seiner Invalidität nach dem 1. Februar geleisteten Beiträge grundsätzlich ordnungsmäßig auf Grund einer Versicherungspflicht entrichtet werden.

III

Die Voraussetzung für die Wirksamkeit dieser Beiträge ist jedoch weiter, daß nach § 1226 RVO in der damals geltenden Fassung Versicherungspflicht bestand. Nach § 1226 RVO sowohl in seiner ursprünglichen Fassung als auch in der Fassung des Art. 3 der VVO war Voraussetzung, daß der Arbeiter gegen Entgelt beschäftigt war. Grundsätzlich dauert ein durch Arbeitsantritt wirksam gewordenes Beschäftigungsverhältnis auch in den Zeiten fort, in denen tatsächlich keine Beschäftigung stattfindet. Wie § 1267 RVO a. F. in seiner Gegenüberstellung von Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 3 deutlich zeigt, stellte auch der Gesetzgeber bei Unfähigkeit des Versicherten zur Berufsausübung dessen Beitragspflicht allein auf das Fortbestehen des Beschäftigungsverhältnisses ab. In seiner Entscheidung vom 16. Januar 1920 (EuM. Bd. 12 S. 93, 95) hat das Reichsversicherungsamt (RVA.) mit Recht selbst für die Krankenversicherung die Ansicht vertreten, daß ein völlig Arbeitsunfähiger zwar kein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis begründen könne, daß aber andererseits ein bereits begründetes Beschäftigungsverhältnis trotz völliger Arbeitsunfähigkeit fortbestehe, solange es nicht tatsächlich gelöst sei (vgl. auch AN. 1924 S. 84,85).

Die für die Begründung eines versicherungspflichtigen Verhältnisses, insbesondere in der Krankenversicherung, vom RVA. entwickelten Grundsätze über den "mißglückten Arbeitsversuch" (vgl. EuM. Bd. 29 S. 37; AN, 1943 S. 21) betreffen demgegenüber einen ganz anderen Sachverhalt. Es ist verständlich, daß ein bereits arbeitsunfähiger Arbeitnehmer nicht schon allein durch den formalen Dienstantritt ohne jede Arbeits- oder Beitragsleistung neue bzw. weitere Ansprüche aus der Krankenversicherung erwerben soll; diese Grundsätze sind jedoch auch nach Ansicht des RVA. nicht anzuwenden, wenn ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis bereits bestanden hat und es sich um die Beendigung der Versicherungspflicht handelt. Es kann demnach nicht darauf ankommen, ob der Kläger in der Zeit nach dem 31. Januar 1951 noch in der Lage war, Arbeiten von wirtschaftlichem Wert zu verrichten; jedenfalls sind die während eines Zeitraums, währenddessen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, d. h. der Kläger, das Arbeitsverhältnis noch nicht als gelöst ansehen, nach dem 31. Januar 1951 entrichteten Beiträge nicht zu Unrecht geleistet worden.

Es ergibt sich somit, daß die Beklagte die für die Zeit nach dem 1. Februar 1951 entrichteten Beiträge des Klägers zu Unrecht beanstandet hat; sie sind vielmehr wirksam entrichtet und daher auf die Wartezeit anzurechnen, so daß mit der Erfüllung der Wartezeit auch feststeht, daß der Kläger einen Rentenanspruch hat. Da jedoch nur die Beklagte Revision eingelegt hat, kann ein Rentenanspruch für die Zeit vor dem 1. Januar 1957 dem Kläger nicht zugesprochen werden. Da es sich um einen bereits vor dem 1. Januar 1957 eingetretenen Versicherungsfall handelt, war das angefochtene Urteil demnach, entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nur insoweit zu ändern, als dem Kläger nur eine nach den Vorschriften des bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Rechts zu berechnende und nach dem ArVNG umzustellende Invalidenrente zuzusprechen war.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE 10, 156 (LT1-2)

BSGE, 156

RegNr, 885

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