Orientierungssatz

Erhaltung der Anwartschaft in der Invalidenversicherung - Anwendung des SVVereinfV 1 Art 19:

Die Anwartschaftsvorschrift des Art 19 der 1. VO zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17.3.1945 ist spätestens am 7.9.1949 im ganzen Bundesgebiet wirksam geworden. Art 19 der SVVereinfV 1 ist daher speziell für Versicherungsfälle, die in der Zeit vom 1.4.1945 bis zum 31.12.1948 eingetreten sind, anzuwenden (Anschluß BSG 1956-07-11 3 RJ 128/54).

 

Normenkette

SVVereinfV 1 Art. 19

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 26.07.1954)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 26. Juli 1954 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß in dem Urteil des Landessozialgerichts anstelle des Datums "22. November 1951" das Datum "25. Februar 1953" tritt.

Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der 1882 geborene Kläger war als Zimmerer, Gelegenheitsarbeiter und Landwirt tätig. Er hat seit dem 24. Dezember 1898 insgesamt 431 Beiträge, davon 119 nach dem 31. Dezember 1923, entrichtet. Die letzte Quittungskarte wurde am 2. Dezember 1939 ausgestellt und am 23. Juli 1950 aufgerechnet. Sie enthält Marken verschiedener Beitragsklassen mit Entwertungsdaten aus den Jahren 1939, 1940 und 1941. Von der Firma Th & St wurde außerdem bestätigt, daß der Kläger auch 1942/43 bei ihr beschäftigt gewesen ist. Von 1943 bis März 1945 wurde der Kläger auf Grund einer Dienstverpflichtung durch das Arbeitsamt bei Aufräumungs- und Wiederinstandsetzungsarbeiten in Nürnberg beschäftigt. Für das Jahr 1949 entrichtete er keine Beiträge.

Am 5. August 1950 stellte er einen Antrag auf Gewährung von Invalidenrente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Die Beklagte lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 29. November 1950 ab, weil bei Eintritt des Versicherungsfalles der Invalidität im Jahre 1950 mangels Beitragsleistung für das Jahr 1949 die Anwartschaft erloschen und auch die Halbdeckung nicht erreicht sei.

Die gegen diesen Bescheid eingelegte Berufung wies das Oberversicherungsamt Nürnberg durch Urteil vom 25. Februar 1953 mit der Begründung zurück, die Anwartschaft sei selbst nach § 4 Abs. 2 des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes (SVAG) nicht erhalten, da der Versicherungsfall der Vollendung des 65. Lebensjahres bereits vor dem 1. Januar 1949 eingetreten sei.

Hiergegen legte der Kläger Revision beim ehemaligen Bayerischen Landesversicherungsamt ein. Diese ging mit Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung auf das Bayerische Landessozialgericht über, welches das Urteil des Oberversicherungsamts und den Bescheid der Beklagten aufhob und die Beklagte verurteilte, dem Kläger die Invalidenrente ab 1. September 1950 zu zahlen. Die Wartezeit für Rentenleistungen aus dem Versicherungsfall der Invalidität sei erfüllt, nicht dagegen die längere Wartezeit für Rentenleistungen aus dem Versicherungsfall der Vollendung des 65. Lebensjahres. Der Antrag des Klägers auf Gewährung der Altersinvalidenrente sei danach umzudeuten in einen Rentenantrag wegen Vorliegens von Invalidität. Der Kläger sei schon vor dem 1. Januar 1949, aber erst nach dem 1. April 1945 invalide geworden, die Anwartschaft aus seinen von 1898 bis 1941 geleisteten Beiträgen sei daher nach Artikel 19 der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17. März 1945 (RGBl. I S. 41) erhalten. Artikel 19 a.a.O. sei auch in Bayern geltendes Recht. Seit Eintritt der Invalidität (1948 oder 1947) seien nach § 1264 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zur Erhaltung der Anwartschaft weitere Beiträge nicht mehr erforderlich gewesen. Da der Versicherungsfall der Invalidität eingetreten sei, stehe dem Kläger die Invalidenrente zu. Das Landessozialgericht hat die Revision zugelassen.

Das Urteil wurde der Beklagten am 8. November 1954 zugestellt. Sie legte durch Schriftsatz vom 10. November 1954 am 16. November 1954 Revision ein und begründete diese durch Schriftsatz vom 6. Dezember 1954 am 7. Dezember 1954. Sie ist der Auffassung, daß die Anwartschaft erloschen sei. Durch § 4 Abs. 2 SVAG könne die Anwartschaft deshalb nicht erhalten sein, weil der Versicherungsfall des Alters bereits vor dem 1. Januar 1949, nämlich im Jahre 1947, eingetreten sei. Artikel 19 der Verordnung vom 17. März 1945 sei in Bayern nicht geltendes Recht. Zudem sei nicht bewiesen, daß der Versicherungsfall der Invalidität tatsächlich vor dem 1. Januar 1949 eingetreten sei.

Sie beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts München vom 26. Juli 1954 aufzuheben und den Bescheid vom 29. November 1950 wiederherzustellen.

hilfsweise: das Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

1.) die Revision mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß das angefochtene Urteil in seinem erkennenden Teil zu I dahin abgeändert wird, daß auf die Berufung des Klägers unter Aufhebung des Urteils des Oberversicherungsamts Nürnberg vom 25. Februar 1953 die Beklagte verurteilt wird, dem Kläger die Invalidenrente ab 1. September 1950 zu zahlen;

2.) die außergerichtlichen Kosten des Revisionsbeklagten der Revisionsklägerin aufzuerlegen.

Er ist der Auffassung, daß das angefochtene Urteil der Rechtslage entspreche.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist auch statthaft, weil das Landessozialgericht sie zugelassen hat; sie ist jedoch unbegründet.

Wie das Landessozialgericht ohne Rechtsirrtum entschieden hat, ist die Wartezeit für die Invalidenrente erfüllt, nicht dagegen die längere Wartezeit für die Altersinvalidenrente. Mit Recht hat daher das Landessozialgericht zugunsten des Klägers den Antrag auf Altersinvalidenrente in einen Antrag auf Invalidenrente umgedeutet.

Der Kläger ist, wie vom Landessozialgericht festgestellt worden ist, nach dem 1. April 1945, aber vor dem 1. Januar 1949 invalide geworden. Zwar rügt die Beklagte, dieser Sachverhalt sei nicht erwiesen; sie hat jedoch zu ihrer Rüge innerhalb der Revisionsbegründungsfrist keine Revisionsgründe vorgebracht, so daß die Rüge keine Berücksichtigung finden konnte. Der Senat ist vielmehr nach § 163 SGG an die Feststellung des Berufungsgerichts gebunden.

Ohne Rechtsirrtum ist das Landessozialgericht davon ausgegangen, daß Artikel 19 der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17. März 1945 (RGBl. I S. 41) auf den vorliegenden Fall anzuwenden ist. Wie bereits der 3. Senat des Bundessozialgerichts durch Urteil vom 11. Juli 1956 (3 RJ 128/54) entschieden hat, ist die Anwartschaftsvorschrift des Artikel 19 a.a.O. spätestens am 7. September 1949 im ganzen Bundesgebiet wirksam geworden, soweit sie infolge des inzwischen erfolgten Inkrafttretens des SVAG überhaupt noch Bedeutung hatte, d.h. für die Versicherungsfälle, die in der Zeit vom 1. April 1945 bis zum 31. Dezember 1948 eingetreten sind. Dieser Entscheidung schließt sich der erkennende Senat an.

Da der Versicherungsfall innerhalb dieser Zeitspanne eingetreten ist und der Kläger bis zum 31. März 1945 für die Zeit nach dem 31. Dezember 1923 mindestens einen Beitrag entrichtet hat, gilt nach Artikel 19 a.a.O. die Anwartschaft aus allen geleisteten Beiträgen erhalten.

Spätestens seit Vollendung des 65. Lebensjahres im Jahre 1947 brauchte der Kläger nach § 1264 Abs. 3 RVO keine Beiträge zur Erhaltung der Anwartschaft mehr zu entrichten. Die nach Artikel 19 a.a.O. erhaltene Anwartschaft konnte daher wegen Nichtentrichtung von Beiträgen nicht mehr verlorengehen.

Der Anspruch des Klägers auf Invalidenrente besteht somit zu Recht, so daß die Revision unbegründet war und zurückgewiesen werden mußte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2297166

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