Leitsatz (amtlich)

Der in SGG § 151 geforderten Schriftform für die Berufungseinlegung ist genügt, wenn eine dritte Person eigenhändig die Berufungserklärung für die Berufungsklägerin schreibt und mit deren Namen unter Kennzeichnung des Auftragsverhältnisses unterschreibt.

 

Leitsatz (redaktionell)

Die von der Freundin der Klägerin verfaßte und handschriftlich im Auftrage mit dem Namen der Klägerin (aus Krankheitsgründen) unterzeichnete Berufungsschrift kann noch als formgerecht angesehen werden, wenn die Klägerin ohne ihr Verschulden an der rechtzeitigen Einlegung der Berufung verhindert war, so daß ihrem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entsprochen werden mußte.

 

Normenkette

SGG § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 151 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 5. April 1965 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Gründe

Der Klägerin waren verschiedene Gesundheitsstörungen anerkannt, jedoch eine Rente bisher nicht gewährt worden. Im Jahre 1962 beantragte sie die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen und die Gewährung einer Rente. Der Antrag wurde abgelehnt. Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) Berlin vom 28. August 1964, das ihren Prozeßbevollmächtigten am 1. September 1964 zugestellt worden war, hat die Klägerin mit Schreiben vom 5. Oktober 1964, das am 7. Oktober 1964 beim Landessozialgericht eingegangen ist, Berufung eingelegt mit dem Hinweis, daß ihr dies aus Krankheitsgründen vorher nicht möglich gewesen sei und sie schon seit ca. vier Wochen im Krankenhaus liege. Die Berufungsschrift war von ihrer Freundin, Frau Sch, verfaßt und von dieser handschriftlich im Auftrag der Klägerin mit deren Namen unterzeichnet worden. Im Oktober 1964 hat das LSG die Klägerin auf die verspätete Einlegung der Berufung und die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hingewiesen. Später hat Rechtsanwalt S mit Schriftsatz vom 7. Dezember 1964 unter Beifügung eines ärztlichen Attestes von Dr. M Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und den Antrag damit begründet, daß die damals 72 Jahre alte Klägerin sich seit Mitte September wegen schwerer Gallenkoliken im Krankenhaus befunden habe. Dazu hat die Klägerin auf Befragen des Berichterstatters am 6. Januar 1965 noch angegeben, das Schreiben, mit dem ihre Prozeßbevollmächtigten das Urteil übersandt und auf die Berufungsfrist hingewiesen hatten, sei vom 7. September 1964 datiert gewesen und ihr einige Tage später zugegangen; sie habe sich seit dem 19. September 1964 wegen schwerer Gallenkoliken im Krankenhaus befunden und dort in erheblichem Umfang Beruhigungsmittel erhalten. Durch eine Schwester habe sie ihre Freundin, Frau Sch, schriftlich in das Krankenhaus rufen lassen, die einige Tage später gekommen sei, die Berufungsschrift am 5. Oktober geschrieben und auch unterschrieben habe, wie es mit ihr besprochen worden sei. Das LSG hat sodann mit Urteil vom 5. April 1965 die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Es hat die Schriftform nicht als gewahrt angesehen, weil die Bevollmächtigte die Berufungsschrift nicht mit ihrem Namen, sondern mit dem Namen der Klägerin unterzeichnet habe. Die Wahrung der Schriftform erfordere die eigenhändige Unterschrift der Klägerin oder ihres Prozeßbevollmächtigten. Die Unterschrift könne nach Ablauf der Berufungsfrist nicht mehr nachgeholt werden. Formgerecht und zulässig sei aber nur die mit eigener Unterschrift eingelegte Berufung (vgl. BSG 1, 243). Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) komme nicht in Betracht, da dies nur beim Versäumen einer gesetzlichen Verfahrensfrist, aber nicht bei einer Verletzung der für die Einlegung eines Rechtsmittels geltenden Formvorschriften möglich sei. Eine analoge Anwendung des § 67 SGG sei allenfalls denkbar, wenn die Klägerin wegen ihrer Krankheit die Berufungsschrift nicht selbst hätte unterzeichnen können. Dies sei aber nicht der Fall, da sie nach ihren Angaben trotz ihrer Krankheit imstande war, die Sache mit ihrer Freundin zu besprechen, und offenbar nur in einem nicht geschützten Rechtsirrtum mit ihr vereinbart habe, die Berufungsschrift mit dem Namen der Klägerin zu unterzeichnen. Die sonach nicht formgerecht eingelegte Berufung müsse daher als unzulässig verworfen werden. Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Gegen das am 22. April 1965 zugestellte Urteil des LSG hat die Klägerin durch ihren Prozeßbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 13. Mai 1965, beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen am 14. Mai 1965, form- und fristgerecht Revision eingelegt.

Sie beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils nach den bisher gestellten Anträgen zu erkennen.

In der Revisionsbegründung vom 3. Juni 1965, beim BSG eingegangen am 4. Juni 1965, rügt die Klägerin, daß das LSG ein Prozeßurteil statt eines Sachurteils erlassen habe. Sie ist der Auffassung, die Unterzeichnung der Berufungsschrift mit dem Namen eines anderen nach vorher erteiltem Einverständnis sei zulässig und nicht strafbar, so daß sie auch nicht als rechtsunwirksam angesehen werden könne. Liege eine wirksame Unterschrift vor, so hätte auch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geprüft und erteilt werden müssen. Der Umstand, daß die Klägerin damals bereits 72 Jahre alt gewesen sei, sich wegen einer schweren Erkrankung im Krankenhaus befunden habe und nach ärztlicher Bestätigung in ihrer Handlungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt gewesen sei, rechtfertige die Annahme, daß sie die Berufungsfrist ohne ihr Verschulden versäumt habe.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Er ist der Auffassung, das Urteil des LSG stehe im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG. Die Verfahrensrüge der Klägerin sei nicht gerechtfertigt.

Die Revision der Klägerin ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Da sie vom LSG aber nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen worden ist, und eine Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG hier nicht in Frage kommt, ist die Revision nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG gerügt wird und vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150). Die Klägerin rügt, daß das LSG zu Unrecht ein Prozeßurteil statt eines Sachurteils erlassen habe, weil es die Erfordernisse der Schriftform verkannt und dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht entsprochen habe. Diese Rüge greift durch.

Die von der Freundin der Klägerin verfaßte und handschriftlich im Auftrag mit dem Namen der Klägerin unterzeichnete Berufung ist als formgerecht anzusehen. Nach § 151 Abs. 1 SGG ist die Berufung gegen das Urteil eines SG - von den hier nicht in Betracht kommenden Fällen der Einlegung durch Erklärung zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle und der Einlegung durch Telegramm abgesehen - "schriftlich" einzulegen. Damit ist zunächst zum Ausdruck gebracht, daß die Berufungserklärung handschriftlich unterschrieben sein muß, daß also die Unterschrift nicht auf mechanischem Wege (durch Maschinenschrift oder Stempel) hergestellt sein darf. Nur diese Anforderung ist in den von dem Beklagten angezogenen Entscheidungen des BSG (BSG 1, 243; 5, 110; 6, 256; 8, 142) an den Begriff der "Schriftlichkeit" gestellt und erörtert worden. Im vorliegenden Fall aber ist, wie vom LSG ausdrücklich festgestellt und von den Beteiligten auch nicht bestritten worden ist, die Unterschrift nicht mechanisch, sondern handschriftlich vollzogen worden. Im Streit steht nur, ob die von der Frau Sch handschriftlich geschriebene und unterschriebene Erklärung wirksam ist, weil Frau Sch nicht mit ihrem Namen, sondern mit dem der Klägerin die Erklärung unterzeichnet hat. Diese Frage ist aber bisher vom BSG nicht entschieden worden und insoweit beruft sich der Beklagte zu Unrecht auf die Rechtsprechung des BSG für seine Auffassung, daß eine derartig unterschriebene Berufungserklärung unwirksam sei. Der Auffassung des Beklagten kann auch nicht gefolgt werden. Die Schriftform ist vom Gesetzgeber für die Einlegung der Berufung aus Gründen der Rechtssicherheit gefordert worden. Sie soll, wie schon der Große Senat des früheren Reichsgerichts (RGZ 151, 83) zu der von der Zivilprozeßordnung (ZPO) geforderten Schriftform bei bestimmenden Schriftsätzen ausgeführt hat, klarstellen, "daß es sich bei dem Schriftsatz nicht um einen Entwurf, sondern um eine prozessuale Erklärung handelt, daß sie von dem unterzeichneten Rechtsanwalt herrührt und daß dieser für ihren Inhalt die Verantwortung übernimmt". Dem mit dem Formerfordernis der Schriftlichkeit verfolgten Zweck genügt die Berufungserklärung vom 5. Oktober 1964. Sie läßt klar erkennen, daß die Klägerin selbst Berufung einlegen will, sie läßt auch keinen Zweifel darüber, daß zwar eine andere Person die Erklärung geschrieben und unterschrieben hat, daß aber die Klägerin selbst die Erklärung abgeben und die volle Verantwortung dafür übernehmen will. Die Erklärung läßt somit weder Unklarheiten über den Inhalt noch über die Identität der Person, welche die Erklärung abgeben will, aufkommen. Aus ihr geht auch hervor, daß die Klägerin die Erklärung nicht selbst geschrieben und unterschrieben hat. Einzig und allein darüber gibt das Schreiben vom 5. Oktober 1964 keine Auskunft, wer die Erklärung für die Klägerin geschrieben und unterschrieben hat. Es ist jedoch nicht ersichtlich, warum bei dieser Erklärung, die "schriftlich" abgegeben, d. h. eigenhändig unterschrieben war, auch noch gefordert werden sollte, daß sie von dem Berufungskläger in Person geschrieben und unterschrieben sein muß, um der in § 151 SGG geforderten Form zu genügen. Aus dem Wortlaut des Gesetzes geht dies nicht hervor und Gründe der Rechtssicherheit, die ein solches Erfordernis rechtfertigen könnten, sind nicht erkennbar. Es kann hier dahinstehen, ob Gründe der Rechtssicherheit in anderen Fällen, in denen das Gesetz eine "schriftliche" prozessuale Erklärung fordert, jedoch diese Erklärung von einer besonders qualifizierten (etwa postulationsfähigen) Person abgegeben sein muß (so zB bei der Revisionseinlegung nach § 164 SGG), aus Gründen der Rechtssicherheit auch zu fordern ist, daß in der Erklärung auch die vom Gesetz geforderte besondere Qualifikation der die Erklärung unterzeichnenden Person zum Ausdruck kommt. Für die Einlegung der Berufung ist aber eine besondere Qualifikation der die Erklärung abgebenden Person nicht erforderlich. Somit ist nach der Richtung eine besondere Kennzeichnung der Person, welche die Berufungseinlegung unterzeichnet hat, auch nicht notwendig. Prozeßvorschriften sind Zweckmäßigkeitsnormen und vornehmlich nach ihrem Zweck auszulegen. Die im Interesse der Rechtssicherheit geforderte "Schriftlichkeit" schützt nicht gegen Urkundenfälschung oder Täuschung anderer Art. Soweit mit der Schriftform in § 151 SGG nur sichergestellt werden soll und kann, daß aus der Berufungsschrift hervorgeht, wer die Prozeßerklärung abgibt und wer die Verantwortung für ihren Inhalt übernimmt, so genügt die von einer dritten Person im Auftrag der Klägerin geschriebene und mit dem Namen der Klägerin unterschriebene Erklärung diesem Sicherheitsbedürfnis. Es ist also nicht erforderlich, daß die Berufungsschrift auch von der Rechtsmittelklägerin in Person geschrieben und unterschrieben sein muß.

Damit gelangt der Senat zu einem Ergebnis, zu dem schon das frühere Reichsgericht bei der Auslegung des § 126 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) gelangt ist, in dem für die "schriftliche" Form die eigenhändige Namensunterschrift des Ausstellers gefordert wird. Das Reichsgericht hat (Bd. 81, 1) eine Urkunde als dieser Schriftform entsprechend angesehen, die nicht von dem Erklärenden, sondern von einer anderen Person mit dem Namen des Erklärenden und in dessen Vollmacht unterschrieben worden war. Wenn nun auch grundsätzlich der § 126 BGB als Formvorschrift des materiellen Rechts nicht zur Beurteilung von formgebundenen Prozeßhandlungen herangezogen werden kann, so zeigt die erwähnte Entscheidung doch, daß die Sicherheit im Rechtsverkehr, die durch die im § 126 BGB geforderte eigenhändige Unterschrift ebenfalls gewährleistet werden soll, nicht als beeinträchtigt angesehen wird, wenn die Urkunde zwar eigenhändig aber nicht von dem Aussteller in Person unterschrieben worden ist. Es besteht kein Anlaß, für die im § 151 SGG geforderte Schriftform bei der Berufungseinlegung, die im vorliegenden Fall zu beurteilen ist, strengere Maßstäbe hinsichtlich der Rechtssicherheit anzulegen. Die Berufungsschrift vom 5. Oktober 1964 genügt demnach der im § 151 SGG geforderten Schriftform.

Die sonach formgerechte Berufung ist allerdings nicht innerhalb der Monatsfrist nach § 151 Abs. 1 SGG, die am 1. Oktober 1964 abgelaufen war, eingelegt worden, jedoch war der Klägerin die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) zu gewähren. Das LSG hat zu diesem Antrag keine Entscheidung getroffen, weil nach seiner Auffassung eine Berufung überhaupt nicht wirksam eingelegt worden war. Der Senat kann aber hierüber selbst entscheiden, da die Feststellungen des LSG, welches das Vorbringen der Klägerin unterstellt hat, hierzu ausreichen. Danach hat sich die Klägerin seit dem 19. September 1964 wegen einer schweren Gallenblasenerkrankung mit zeitweise sehr schweren Koliken, einer chronischen Leberstauung mit erheblicher muskulärer Herzinsuffizienz und einer Zwischenrippen-Nervenentzündung zur stationären Behandlung im Krankenhaus befunden, aus dem sie erst am 14. Oktober 1964 entlassen wurde. Die betagte Klägerin hat auch die unter ihren damaligen Verhältnissen bestehenden Möglichkeiten zur Einlegung der Berufung durch Dritte mit der von ihr zu erwartenden Sorgfalt wahrgenommen. Sie hat, weil sie selbst wegen ihrer Erkrankung zur schriftlichen Einlegung der Berufung nicht in der Lage war, durch eine Krankenschwester ihre Freundin ins Krankenhaus rufen lassen, die dann in ihrem Auftrag die Berufungsschrift verfaßt und eingereicht hat. Wenn dabei Verzögerungen eingetreten sind, so können ihr diese unter den damals gegebenen Verhältnissen nicht zur Last gelegt werden. Es trifft somit die Klägerin an der verspäteten Einlegung der Berufung kein Verschulden, so daß ihr die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren war.

Das LSG hat somit zu Unrecht die formgerechte und als rechtzeitig eingelegt geltende Berufung nach § 158 SGG als unzulässig verworfen, statt ein Sachurteil zu erlassen. Das Urteil des LSG war daher aufzuheben. In der Sache selbst, in der es um die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen und um die Gewährung einer Rente geht, konnte der Senat jedoch nicht entscheiden, da insoweit tatsächliche Feststellungen durch das LSG fehlen. Die Sache war daher zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324346

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