Entscheidungsstichwort (Thema)

Entscheidung über Vorfragen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Jugendamt - Amtsvormundschaft - ist eine Behörde iS des SGG § 166 Abs 1.

2. Eine Behörde ist auch dann von dem Vertretungszwang nach SGG § 166 Abs 1 befreit, wenn sie im Rahmen ihrer Aufgaben als gesetzlicher Vertreter eines Beteiligten diesen vor dem BSG vertritt.

3. Die nach RVO § 1258 Abs 2 Nr 5 erforderliche Feststellung der Vaterschaft haben die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit selbst zu treffen; sie haben dabei zu prüfen, ob und inwieweit auf andere Weise getroffene Feststellungen der Vaterschaft für sie bindend sind.

4. Ein uneheliches Kind hat keinen Anspruch auf Waisenrente nach RVO § 1258 Abs 2 Nr 5, wenn nicht nachzuweisen ist, daß ein bestimmter - inzwischen verstorbener - Versicherter sein Erzeuger ist, wenn vielmehr lediglich festgestellt ist, daß von zwei inzwischen verstorbenen Versicherten der eine oder der andere der Erzeuger ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

Nach allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsätzen hat das Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, den gesamten Prozeßstoff in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zu würdigen und über etwaige Vorfragen selbst zu entscheiden, soweit nicht gesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Es hat hierbei jedoch zu prüfen, ob und inwieweit auf andere Weise getroffene Feststellungen etwa bindend sind.

 

Normenkette

SGG § 166 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1258 Abs. 2 Nr. 5 Fassung: 1955-12-23; JWG § 32; SGG § 114

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 21. Januar 1955 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Die am 20. Januar 1941 geborene Klägerin ist das uneheliche Kind der landwirtschaftlichen Gehilfin ... St. Es kann nicht festgestellt werden, wer ihr Erzeuger ist. Entweder ist dies der Kupferschmied ... P aus Essen oder der Bauarbeiter ... W aus Waltrop i. W.. Ein Dritter kommt als Erzeuger nicht in Frage. Sowohl P als auch W sind im letzten Krieg gefallen. Eine Feststellungsklage nach § 256 der Zivilprozeßordnung (ZPO) gegen die Witwe des P ist von dem Amtsgericht in Essen abgewiesen worden. Das Amtsgericht hat festgestellt, daß sowohl P als auch W innerhalb der gesetzlichen Empfängniszeit der Mutter der Klägerin beigewohnt haben und daß keiner von beiden als Erzeuger der Klägerin ausgeschlossen werden kann. Die Klägerin begehrt mit der jetzt erhobenen Klage die Gewährung einer Waisenrente aus der Invalidenversicherung. Sowohl P als auch W hatten zur Zeit ihres Todes die Wartezeit für die Invalidenrente erfüllt und die Anwartschaft erhalten.

Das Kreisjugendamt - Amtsvormundschaft - in Lauf beantragte als gesetzlicher Vertreter der Klägerin am 28. Dezember 1950 bei der Beklagten die Gewährung der Waisenrente aus der Invalidenversicherung mit der Begründung, als Vater des Kindes kämen nach dem amtsgerichtlichen Urteil und der eidlichen Zeugenaussage der Kindesmutter nur P und W in Frage. Da beide invalidenversichert gewesen und während des Krieges gefallen seien, habe das Kind einen Anspruch auf Waisenrente, unabhängig davon, welcher der beiden Versicherten wirklich der Vater sei. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 1. Februar 1951 ab.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Berufung bei dem Oberversicherungsamt in Nürnberg ein, das durch Urteil vom 3. März 1953 die Berufung zurückwies.

Gegen dieses Urteil legte die Klägerin Revision bei dem Bayerischen Landesversicherungsamt in München ein, die am 1. Januar 1954 nach § 215 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung auf das Bayerische Landessozialgericht in München überging. Durch Urteil vom 21. Januar 1955 wies das Landesozialgericht die Berufung zurück, weil weder die Vaterschaft des P noch die des W festgestellt werden könne. Da beide gefallen seien, sei auch von einem erbbiologischen Gutachten keine Klärung der Vaterschaft mehr zu erwarten. Es ließ die Revision zu.

Gegen dieses Urteil, das der Klägerin am 28. April 1955 zugestellt wurde, hat sie durch ihren Amtsvormund, das Kreisjugendamt des Landratsamts in Lauf, am 11. Mai 1955 Revision eingelegt und diese am 31. Mai 1955 begründet. Sie ist der Ansicht, daß ihr eine Waisenrente aus der Invalidenversicherung zustehe, weil es gleichgültig sei, wer von den beiden möglichen Erzeugern ihr tatsächlicher Erzeuger sei; denn bei beiden seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt. Es könne ihr nicht zum Schaden gereichen, daß aus Gründen, die sie nicht zu vertreten habe, nicht mehr festgestellt werden könne, wer von den beiden Versicherten ihr leiblicher Vater sei. Sie meint allerdings, es könne - entgegen der Auffassung des Landessozialgerichts - auch heute noch ein erbbiologisches Gutachten eingeholt werden, weil die noch lebenden Eltern des ... W zum Vergleich herangezogen werden könnten.

Sie beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. Januar 1955, das Urteil des Oberversicherungsamts Nürnberg vom 3. März 1953 und den Bescheid der Beklagten vom 1. Februar 1951 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr die Waisenrente aus der Invalidenversicherung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie als unbegründet zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, daß die Revision unzulässig sei, da sie nicht durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten eingelegt und begründet worden sei; denn das Kreisjugendamt sei keine Behörde. Zudem seien nach § 166 Abs. 1 SGG Behörden oder Körperschaften des öffentlichen Rechts beziehungsweise Anstalten des öffentlichen Rechts nur dann vom Vertretungszwang befreit, wenn sie Beteiligte des sozialgerichtlichen Verfahrens seien. Dies sei hier jedoch nicht der Fall, da nur die Klägerin Beteiligte sei. Sie ist im übrigen der Ansicht, daß das angefochtene Urteil in materiell-rechtlicher Hinsicht richtig sei und der Klägerin nach Wortlaut und Sinn des § 1258 Abs. 2 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) eine Waisenrente nicht zustehe.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist das Jugendamt eine Behörde im Sinne des § 166 Abs. 1 SGG. Abgesehen davon, daß das Jugendwohlfahrtsgesetz vom 9. Juli 1922 (RGBl. I 633) selbst (vgl. § 2) die Kreisjugendämter als Behörden bezeichnet, ist als Behörde in diesem Sinne jede mit Aufgaben der öffentlichen Verwaltung betraute Stelle anzusehen (vgl. dazu Urteil des Bundessozialgerichts vom 17.2.1956 - 6 RKa 14/55 - zur Auslegung des § 70 Nr. 3 SGG).

Die Beklagte irrt weiter, wenn sie annimmt, daß das Kreisjugendamt nicht von dem Vertretungszwang nach § 166 Abs. 1 SGG befreit sei. Zwar ist die Klägerin und nicht das Kreisjugendamt, wenn es auch gesetzlicher Vertreter der Klägerin ist, Beteiligte dieses Verfahrens. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß der gesetzliche Vertreter, obwohl er nicht Beteiligter ist, im Verfahren weitgehend die Rechte und Pflichten eines Beteiligten hat. Der prozeßunfähige Kläger hat nicht die Fähigkeit, den Rechtsstreit als Beteiligter selbst zu führen oder ihn durch einen selbst bestellten Prozeßbevollmächtigten führen zu lassen (vgl. dazu Stein-Jonas, Kommentar zur ZPO, 18. Aufl., Anm. I, 1 zu § 51), diese Fähigkeit hat vielmehr kraft Gesetzes allein der gesetzliche Vertreter. Seine Stellung im Prozeß unterscheidet sich in dieser Hinsicht von der des gewillkürten Vertreters, durch dessen Bestellung die Fähigkeit des Vollmachtgebers, den Rechtsstreit führen zu können, nicht berührt wird. Träger der Beteiligtenrechte ist insoweit also der gesetzliche Vertreter. Er hat, obwohl er nicht Beteiligter ist, dem Prozeßgegner und dem Gericht gegenüber die Befugnisse und Pflichten des Beteiligten, soweit nicht das Gesetz etwas anderes bestimmt (vgl. Stein-Jonas, Komm. zur ZPO, 18.Aufl., Anm. IV, 1 zu § 51; RG 66, 242; vgl. dazu auch Baumbach-Lauterbach, Komm. zur ZPO, 22.A., Anm. 2 B zu § 51; Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 6.A., § 49 II 4 b). Dies hat auch bei Anwendung des § 166 Abs. 1 SGG zu gelten. Auch dem gesetzlichen Vertreter steht daher die in § 166 Abs. 1 SGG gewährte Befreiung von dem Vertretungszwang zu, wenn in seiner Person die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind, d.h. wenn er eine Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ist. Dies entspricht auch dem Zweck, den der Gesetzgeber mit dieser Ausnahmeregelung verfolgt; denn er hat die Behörden, Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts deshalb vom Vertretungszwang befreit, weil er davon ausgegangen ist, daß sie die erforderlichen Fachkräfte besitzen, welche in der Lage sind, einen Sozialrechtsstreit ordnungsgemäß zu führen. Dies ist aber auch dann der Fall, wenn sie im Rahmen ihrer Aufgaben als gesetzliche Vertreter fremde Prozesse führen.

Die Revision ist auch statthaft, weil das Landessozialgericht sie zugelassen hat.

Sie ist jedoch nicht begründet. Nach § 1258 Abs.2 Nr.5 RVO i.d.F. des Kindergeldergänzungsgesetzes vom 23. Dezember 1955 (BGBl. I S. 841) erhält das uneheliche Kind eines männlichen Versicherten Waisenrente aus der Invalidenversicherung, wenn seine Vaterschaft festgestellt ist. Es war zunächst zu prüfen, ob diese Feststellung von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit oder aber auf andere Weise getroffen werden muß. Nach allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsätzen hat das Gericht, bei welchem das Verfahren anhängig ist, den gesamten Prozeßstoff in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zu würdigen und über etwaige Vorfragen selbst zu entscheiden, soweit nicht gesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Das Wort "feststellen" im § 1258 Abs. 2 Nr. 5 RVO sagt nichts darüber aus, wer diese Feststellung zu treffen hat, besagt also auch nicht etwa, daß die Vaterschaft in einem besonderen Verfahren vor den ordentlichen Gerichten entschieden werden müßte (vgl. hierzu auch E. des RVA. v. 7.10.1925 Nr. 2915, AN.1925 S. 386; v. 24.11.1925, Nr. 2935, AN. 1926 S. 204). Die erforderlichen Feststellungen haben also die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zu treffen. Sie haben hierbei jedoch zu prüfen, ob und inwieweit auf andere Weise getroffene Feststellungen der Vaterschaft etwa für sie bindend sind. Hier bedurfte es allerdings dieser Prüfung nicht, da das Landessozialgericht schon auf Grund seiner eigenen Untersuchung zu demselben Ergebnis gekommen ist wie das Amtsgericht.

Es bedurfte hier ebenfalls keiner Untersuchung, welche Anforderungen an den Nachweis der Vaterschaft zu stellen sind, ob also auch der nach den Grundsätzen des § 1717 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) geführte Nachweis der Vaterschaft als ausreichend angesehen werden kann, da das Landessozialgericht festgestellt hat, daß selbst unter Anwendung dieser Grundsätze weder die Vaterschaft des P noch die des W nachgewiesen werden könne, daß vielmehr nur festzustellen sei, daß entweder der eine oder der andere der Erzeuger der Klägerin ist. Es fehlt hier also selbst unter Anwendung dieser Grundsätze an dem erforderlichen Nachweis der Vaterschaft. Die Klägerin irrt, wenn sie meint, es genüge die getroffene Alternativfeststellung, weil sowohl P als auch W zur Zeit ihres Todes die Versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt hätten. Es bedarf keiner Untersuchung, ob bei schuldrechtlichen Ansprüchen allgemeiner Art eine solche Alternativfeststellung unter Umständen ausreichen würde, hier jedenfalls genügt sie nicht, da ein solches Verfahren mit dem Wesen der Waisenrente nicht vereinbar wäre. Die Waisenrente hat - wie jede Hinterbliebenenrente - den Zweck, an die Stelle des infolge Todes des Ernährers fortgefallenen Unterhalts zu treten. Ein entsprechender Unterhaltsanspruch hat aber im vorliegenden Fall zu keiner Zeit bestanden. Während normalerweise durch den Tod des Vaters eine Schlechterstellung des Kindes eintritt, weil der Unterhaltsanspruch entfällt und das Kind nun lediglich auf die Waisenrente angewiesen ist, würde es, wenn man der Ansicht der Klägerin zustimmen würde, in dem vorliegenden Fall überhaupt erst durch den Tod der als ihr Erzeuger in Betracht kommenden Personen einen entsprechenden Anspruch - in der Form der Waisenrente - erhalten. Eine solche Entscheidung würde nach Ansicht des erkennenden Senats eindeutig dem Zweck, den das Gesetz mit der Waisenrente verfolgt, widersprechen. Ein Anspruch der Klägerin kann schon aus diesem Grunde nicht anerkannt werden.

Die Rüge der Klägerin, das Landessozialgericht habe noch ein erbbiologisches Gutachten einholen müssen, ist nicht begründet. Bereits in dem amtsgerichtlichen Verfahren hatte Prof. P die Erstattung eines erbbiologischen Gutachtens deshalb abgelehnt, weil ohne ein gutes Lichtbild der als Erzeuger in Frage kommenden Person die Erstattung des Gutachtens nicht möglich sei. Auch in diesem Verfahren ist nichts dafür vorgebracht worden, daß nunmehr ein solches Lichtbild zur Verfügung gestellt werden kann. Dem Landessozialgericht kann daher keine Verletzung der Amtsermittlungspflicht vorgeworfen werden, wenn es von einem erneuten Versuch, ein erbbiologisches Gutachten einzuholen, Abstand genommen hat. Auch der Umstand, daß inzwischen angeblich festgestellt sein soll, die Eltern des W lebten noch und ständen daher einem erbbiologischen Gutachter zur Verfügung, brauchte dem Landessozialgericht keine Veranlassung zu geben, erneut zu versuchen, ein erbbiologisches Gutachten einzuholen, da aus der früheren Stellungnahme des Prof. P entnommen werden muß, daß er ohne ein gutes Bild der als Erzeuger in Frage kommenden Person auf keinen Fall das Gutachten erstatten könne.

Die Revision mußte aus diesen Gründen zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung ergeht auf Grund des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1984311

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