Entscheidungsstichwort (Thema)

Prognoseentscheidung. Tatsachenfeststellung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Prognose, daß eine Vermittlung ohne die beabsichtigte Bildungsmaßnahme in dem als absehbar und angemessen bezeichneten Zeitraum nicht ausgeschlossen sei, kann im Revisionsverfahren als Feststellung einer hypothetischen Tatsache nur mit Verfahrensrügen angegriffen werden.

 

Orientierungssatz

Das Stellen einer Prognose ist die Feststellung einer hypothetischen Tatsache; die Prüfung, ob der festgestellte Sachverhalt den Schluß auf die hypothetische Tatsache erlaubt, gehört zur Beweiswürdigung, nicht zur Rechtsanwendung (vgl BSG 30.9.1980 10 RV 57/79 = VersorgB 1981). Tatsachen iS der Beweiserhebung und der das Revisionsgericht bindenden Tatsachenfeststellung (§ 163 SGG) sind konkrete, nach Raum und Zeit bestimmte, vergangene oder gegenwärtige Geschehnisse und Zustände der Außenwelt und des Seelenlebens (vgl BGH 26.3.1981 IVa ZR 141/80 = NJW 1981, 1562). Hierüber nimmt der Richter Urteile der Zeugen entgegen; deshalb können auch hypothetische, negative und unmögliche Tatsachen Beweisgegenstand sein.

 

Normenkette

AFG § 44 Abs 2 S 2 Nr 1 Fassung: 1981-12-22; AFuU § 10 Abs 1 S 2 Fassung: 1982-03-16; SGG §§ 163, 164 Abs 2 S 3

 

Verfahrensgang

LSG Bremen (Entscheidung vom 10.10.1985; Aktenzeichen L 5 Ar 24/85)

SG Bremen (Entscheidung vom 25.03.1985; Aktenzeichen S 22 Ar 432/83)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt anstelle des als Darlehen gewährten Unterhaltsgeldes (Uhg) ein höheres Uhg als Zuschuß.

Der Kläger war nach abgeschlossener Ausbildung zum Maschinenschlosser im erlernten Beruf beschäftigt. Die Beklagte bewilligte ihm Arbeitslosengeld (Alg) für 312 Wochentage ab dem 13. Mai 1982. Im Februar 1983 beantragte der Kläger, sein zweijähriges Maschinenbaustudium an einer Technikerschule ab dem 5. April 1983 zu fördern. Die Beklagte bewilligte Kostenerstattung und in einem weiteren Bescheid vom 19. Mai 1983 Uhg in Höhe von 58 vH des maßgeblichen Arbeitsentgelts als Darlehen. Der auf ein Uhg in Höhe von 68 vH des maßgeblichen Arbeitsentgelts gerichtete Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 5. August 1983).

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine höhere Kostenerstattung zu gewähren, was im Verfahren nicht mehr streitig ist, sowie Uhg als Zuschuß gemäß § 44 Abs 2 des Arbeitsförderungsgesetzes -AFG- (Urteil vom 25. März 1985). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen, soweit die Beklagte zur Zahlung eines Uhg nach § 44 Abs 2 AFG verurteilt worden ist. Es sah die Anspruchsvoraussetzungen des § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 1 AFG iVm § 10 Abs 1 Satz 2 der Anordnung des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit über die individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung (AFuU) vom 23. März 1976 in der Fassung der 12. Änderungsanordnung vom 16. März 1982 (ANBA Seite 567) nicht als erfüllt an. Es fehle an der Voraussetzung, daß dem Antragsteller in absehbarer Zeit kein neuer Arbeitsplatz vermittelt werden könne. Hieran fehle es, wenn der für eine Vermittlung durch das Arbeitsamt (AA) zur Verfügung stehende Zeitraum sechs Monate nicht überschreite und anhand von objektiven Erfahrungswerten nicht festgestellt werden könne, in welchem Zeitraum vergleichbare Arbeitslose nach Lage des Arbeitsmarktes erfahrungsgemäß vermittelt werden. Dabei sei nur der Zeitraum zu berücksichtigen, in dem der Kläger für eine Vermittlung in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zur Verfügung gestanden habe. Dieser Zeitraum habe aufgrund der Erklärung des Klägers gegenüber dem AA am 13. Dezember 1982 geendet. Da in einem arbeitsgerichtlichen Vergleich die Beendigung des letzten Arbeitsverhältnisses auf den 17. Mai 1982 abgeändert worden sei, sei die Arbeitslosigkeit am 18. Mai 1982 eingetreten. Der Zeitraum von knapp sieben Monaten überschreite zwar die zeitliche Untergrenze von sechs Monaten, lasse aber unter den besonderen Umständen des Falles, insbesondere weil dem Kläger in der Zeit vom 7. Juni bis zum 22. September 1982 sechs angemessene und zwei nicht zu berücksichtigende Vermittlungsangebote unterbreitet worden seien, nicht die Feststellung zu, daß eine Vermittlung in absehbarer und angemessener Zeit nicht hätte durchgeführt werden können. Diese mangelnde Feststellbarkeit gehe zu Lasten des Klägers.

Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung des § 44 Abs 2 AFG. Das LSG meine zu Unrecht, daß die Arbeitslosigkeit nur bis zum 13. Dezember 1982 berücksichtigt werden könne, weil er danach nur für eine befristete Beschäftigung zur Verfügung gestanden habe. Tatsächlich sei er bis zum 4. April 1983 arbeitslos geblieben.

Der Kläger beantragt, unter Abänderung des angefochtenen Urteils das Urteil des Sozialgerichts zu bestätigen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers war zurückzuweisen.

Das LSG hat zu Recht die Berufung der Beklagten gegen deren Verurteilung zur Zahlung eines höheren Uhg als Zuschuß anstelle des nur als Darlehen gewährten niedrigeren Uhg als zulässig angesehen. Die Berufung betraf nicht lediglich die Höhe der Leistung im Sinne des § 147 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Als Anspruchsgrundlage kommt allein § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 1 AFG in der Fassung des Gesetzes zur Konsolidierung der Arbeitsförderung (AFKG) vom 22. Dezember 1981 in Betracht. Hiernach ist Voraussetzung, daß die Teilnahme an der Bildungsmaßnahme notwendig ist, damit ein Antragsteller, der arbeitslos ist, beruflich eingegliedert wird. In Ergänzung hierzu bestimmt § 10 Abs 1 Satz 2 AFuU in der Fassung der 12. Änderungsanordnung vom 16. März 1982 als Voraussetzung, daß dem Antragsteller in absehbarer Zeit kein Arbeitsplatz vermittelt werden kann, der mindestens einen Berufsabschluß nach Satz 1 Nr 3 oder eine vergleichbare Qualifikation verlange. Diese Bestimmung der AFuU hält sich im Rahmen der Ermächtigung des § 39 AFG und ist deshalb bei der Anwendung des § 44 AFG zu beachten, was von der Revision nicht angegriffen wird.

Danach kommt es nicht darauf an, daß dem Antragsteller in einer vorangegangenen angemessenen Zeit kein Arbeitsplatz vermittelt werden konnte; Voraussetzung ist vielmehr, daß in absehbarer Zeit kein Arbeitsplatz vermittelt werden kann. Als Entscheidungszeitpunkt kommt nur der Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung in Betracht, wenn die Maßnahme schon vorher begonnen hat, der Beginn der Maßnahme. Es handelt sich also um eine Prognoseentscheidung. Die vergeblichen Vermittlungsbemühungen in der vorangegangenen Zeit haben keine selbständige materiell rechtliche Bedeutung sondern sind nur Grundlage der Prognoseentscheidung. Der Antragsteller hat auch dann keinen Anspruch, wenn er zwar ein Jahr lang nicht vermittelt werden konnte, aber bei Beginn der Maßnahme aus besonderen Gründen feststeht, daß er in absehbarer Zeit einen Arbeitsplatz bekommt.

Dem steht das Urteil des 7. Senats vom 11. Dezember 1979 (SozR 4460 § 12 Nr 5) zu der vergleichbaren Voraussetzung des § 12 Abs 4 Nr 1 AFuU idF vom 19. Dezember 1973, daß die Arbeitslosigkeit ohne die Bildungsmaßnahme nicht beendet werden kann, nicht entgegen. Die dortige Formulierung, vergebliche Vermittlungsbemühungen in der Vergangenheit könnten ausreichen, ist dahin zu verstehen, daß eine derartige Erfahrung die Prognose nicht erübrigt, sondern inhaltlich festlegt.

Das LSG hat zwar nicht ausdrücklich angegeben, welchen Zeitraum es als "absehbar" angenommen hat. Es geht unter Hinweis auf ein Urteil des BSG vom 17. Mai 1983 - 7 RAr 36/82 - (AuB 1983, 347) jedoch davon aus, daß die absehbare Zeit ein Jahr nicht überschreiten dürfe. Die folgende Feststellung, dieser Zeitraum sei bei Beginn der Maßnahme nicht abgelaufen gewesen, zeigt, daß das LSG vom Beginn der Arbeitslosigkeit am 18. Mai 1982 ausging und die Jahresfrist bis zum 17. Mai 1983 rechnete. Für die eigentliche Prognose verblieb damit als angemessene Zeit der Zeitraum vom Beginn der Maßnahme am 5. April 1983 bis zum 17. Mai 1983. Der Revisionskläger macht nicht geltend, daß ein kürzerer Zeitraum angemessen sei, und daß für diesen der in seine Beweislast fallende Negativbeweis geführt sei. Auch nach der Auffassung des Senats kommt eine kürzere Zeitspanne unter Berücksichtigung der Verhältnisse des Einzelfalles (vgl hierzu Urteil vom 7. April 1987 - 11b RAr 5/86 -) hier nicht in Betracht. Auf diesen Zeitraum bezieht sich die Feststellung des LSG, daß die Unmöglichkeit einer Vermittlung als Facharbeiter nicht feststellbar sei.

Dabei handelt es sich um eine Tatsachenfeststellung, an die der Senat mangels durchgreifender Verfahrensrügen gebunden ist. Die Entscheidung, ob der festgestellte Sachverhalt die Prognose erlaubt, daß in absehbarer Zeit ohne die Maßnahme eine angemessene Arbeitsstelle nicht hätte vermittelt werden können, gehört nicht zur Rechtsanwendung, sondern zur Tatsachenfeststellung. Rechtsanwendung ist nur die Entscheidung, was im Einzelfall als absehbare Zeit anzusehen ist. Das Stellen einer Prognose ist die Feststellung einer hypothetischen Tatsache; die Prüfung, ob der festgestellte Sachverhalt den Schluß auf die hypothetische Tatsache erlaubt, gehört zur Beweiswürdigung, nicht zur Rechtsanwendung (vgl BSG Urteil vom 30. September 1980 - 10 RV 57/79 -, VersorgB 1981, 47 zur Feststellung des LSG, der Beschädigte wäre ohne die Schädigung wahrscheinlich Beamter des höheren Dienstes geworden). Tatsachen iS der Beweiserhebung und der das Revisionsgericht bindenden Tatsachenfeststellung (§ 163 SGG) sind konkrete, nach Raum und Zeit bestimmte, vergangene oder gegenwärtige Geschehnisse und Zustände der Außenwelt und des Seelenlebens (BGH NJW 1981, 1562; Peters/Sautter/Wolff, SGG, § 117 Anm 3, a). Hierüber nimmt der Richter Urteile der Zeugen entgegen; deshalb können auch hypothetische, negative und unmögliche Tatsachen Beweisgegenstand sein (Thomas-Putzo, ZPO, 14. Aufl, vor § 284, 6, a). Die Feststellung dieser hypothetischen Tatsache hat die Revision nicht mit Verfahrensrügen unter Angabe der sie begründenden Tatsachen angegriffen (§ 164 SGG). Das Vorbringen, der Kläger habe auch nach dem 13. Dezember 1982 für eine befristete Beschäftigung zur Verfügung gestanden, steht im Widerspruch zu der Feststellung des LSG (auf Seite 11 des Berufungsurteils), aufgrund der Erklärung des Klägers gegenüber dem AA habe der Zeitraum, in dem der Kläger bereit gewesen sei, ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu akzeptieren, am 13. Dezember 1982 geendet, ohne den Anforderungen an eine Verfahrensrüge zu genügen. Überdies kommt es für die Prognose auf die tatsächlichen Vermittlungsbemühungen der BA an; die Bereitschaft des Klägers wäre nur von Bedeutung, wenn das AA diese schuldhaft verkannt und deshalb zu Unrecht die Vermittlungsbemühungen auf Teilzeitbeschäftigungen eingeschränkt hätte, so daß sie sich hierauf nicht berufen könnte.

Ferner wendet die Revision ein, daß es sich nur um theoretische Vermittlungsangebote gehandelt habe. Damit setzt sie sich in Widerspruch zu der Tatsachenfeststellung des LSG, daß dem Kläger sechs angemessene und zwei andere Angebote unterbreitet worden seien, ohne eine Verfahrensrüge zu erheben.

Die Revision war daher mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658512

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