Leitsatz (amtlich)

Die Bindungswirkung eines Rentenbescheids erfaßt nur den Verfügungssatz; der Eintritt des Versicherungsfalles gehört auch dann nicht dazu, wenn er in einem ablehnenden Bescheid negativ festgestellt wird (Weiterentwicklung von BSG vom 26.1.1978 - 5 RJ 120/76 = SozR 2200 § 1268 Nr 10; BSG vom 22.9.1981 - 1 RA 109/76 = SozR 1500 § 77 Nr 56).

 

Normenkette

SGG § 77 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1247 Abs 1 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG für das Saarland (Entscheidung vom 11.05.1988; Aktenzeichen L 1 J 3/87)

SG für das Saarland (Entscheidung vom 03.12.1986; Aktenzeichen S 14 J 53/84)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte der Klägerin Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit gemäß § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu gewähren hat.

Die 1958 geborene Klägerin wurde wegen eines Hirntumorleidens 1966, 1974 und am 27. Mai 1982 operiert. Nach der letzten Operation trat eine gemischte Sprachstörung und eine hochgradige Halbseitenlähmung auf. Vom 27. Juli bis 15. August 1982 befand sich die Klägerin in krankengymnastischer und beschäftigungstherapeutischer Behandlung, mit der nur eine leichte Besserung der Sprachstörung und Halbseitenparese erzielt wurde. Nach einem ambulanten Kontrolluntersuchungsbericht vom Oktober 1982 hatte sich zwar die Sprachfindung wesentlich gebessert, unverändert bestehen geblieben war jedoch eine schwere armbetonte Hemiparese. Nachuntersuchungen im März und September 1983 ergaben keine wesentliche Befundänderung mehr.

Einen ersten Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom April 1983 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Juni 1983 ab, weil die Wartezeit mit 57 Kalendermonaten anrechnungsfähiger Versicherungszeiten nicht erfüllt sei; nach den getroffenen Feststellungen bestehe im übrigen auch keine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Im Oktober 1983 stellte die Klägerin erneut einen Antrag auf Versichertenrente mit der Begründung, durch den Bezug von Krankengeld bis einschließlich Juni 1983 seien weitere Pflichtbeiträge entrichtet worden und nunmehr die Wartezeit erfüllt. Mit Bescheid vom 2. März 1984 lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil zwar unter Annahme eines Versicherungsfalles vom 7. Mai 1982 die Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit erfüllt seien, jedoch bis zum Eintritt des Versicherungsfalles lediglich 56 Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen belegt seien.

Das Sozialgericht (SG) verurteilte am 3. Dezember 1986 die Beklagte, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit unter Annahme eines Versicherungsfalles im November 1983 zu gewähren. Mit Urteil vom 11. Mai 1988 hob das Landessozialgericht (LSG) die Entscheidung des SG auf und wies die Klage ab. Der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit sei bei der Klägerin mit ihrer stationären Aufnahme in die Neurochirurgische Universitätsklinik und nachfolgende Operation im Mai 1982 eingetreten und trotz versuchter Rehabilitationsmaßnahmen unverändert bestehengeblieben. Die Feststellung der Beklagten im Bescheid vom 28. Juni 1983, Erwerbsunfähigkeit läge nicht vor, stehe nicht entgegen. Aus dieser - objektiv unrichtigen - Feststellung könne die Klägerin keine für sie günstigen Rechtsfolgen ableiten, da einzig der für die Klägerin negative Bescheidtenor, Rente sei nicht zu gewähren, nicht jedoch Begründungselemente in Rechtskraft erwachsen seien und Vertrauensschutzfolgen nach sich ziehen könnten.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen und formellen Rechts.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts für das Saarland vom 11. Mai 1988 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 3. Dezember 1986 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil des LSG für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreites ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die kraft Zulassung durch das LSG statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Revision der Klägerin ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Nach § 1247 Abs 1 RVO in der bis zum 31. Dezember 1983 geltenden Fassung (aF) erhält Rente wegen Erwerbsunfähigkeit der Versicherte, der erwerbsunfähig ist, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Nach Absatz 3 der Vorschrift ist die Wartezeit für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erfüllt, wenn a) vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten oder b) vor der Antragstellung insgesamt eine Versicherungszeit von 240 Kalendermonaten zurückgelegt ist.

Diese Voraussetzung der Rentengewährung ist bei der Klägerin nicht erfüllt. Sie hat bis zum Eintritt des Versicherungsfalls der Erwerbsunfähigkeit weniger als 60 Monate anrechnungsfähiger Versicherungszeiten iS von § 1250 Abs 1 RVO zurückgelegt. Nach den vom LSG getroffenen, von der Klägerin nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsgründen angegriffenen und damit gemäß § 163 SGG für das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen ist der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit bei der Klägerin im Mai 1982 eingetreten. Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits in seinem Urteil vom 23. März 1977 - 4 RJ 49/76; SozR 2200 § 1247 Nr 16 - entschieden hat und worauf das LSG zu Recht hinweist, ist hierfür keine Vorausschau über einen möglichen Heilungsverlauf entscheidend und der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit nicht erst von dem Zeitpunkt an anzunehmen, in dem eine wesentliche Besserung des Leidenszustandes nicht mehr zu erwarten ist. Vielmehr ist die gesundheitsbedingte Unfähigkeit, eine Erwerbstätigkeit auf nicht absehbare Zeit auszuüben, ein objektives Merkmal der Erwerbsunfähigkeit als Voraussetzung eines Rentenanspruchs; das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit ist nach dem objektiv gegebenen Sachverhalt zu beurteilen. Daß das LSG diese Beurteilung unzutreffend vorgenommen hat, ist nicht ersichtlich.

Die Klägerin kann sich hiergegen nicht mit Erfolg darauf berufen, in dem bestandskräftig gewordenen Bescheid der Beklagten vom 28. Juni 1983 sei bindend festgestellt worden, es bestehe im übrigen bei ihr auch keine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Es kann offenbleiben, ob hierin überhaupt eine tragende Erwägung der Beklagten für ihre Antragsablehnung mit Entscheidungsqualität lag oder nicht vielmehr bloß eine beiläufige, für die Sache unerhebliche Anmerkung zu sehen ist, da die Beklagte ja gegenständlich über das Bestehen oder Nichtbestehen des Rentenanspruchs zu befinden hatte und dafür die Nichterfüllung der Wartezeit ausschlaggebend war. Denn in jedem Fall wird die damit inhaltlich getroffene negative Feststellung eines Versicherungsfalles von der Bindungswirkung des Bescheids nicht erfaßt. Nach der Rechtsprechung des BSG erstreckt sich die Bindungswirkung des § 77 SGG bei einem Rentenbescheid eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung lediglich auf den Verfügungssatz, dh die Entscheidung über die Höhe, die Dauer und die Art der Rente, nicht dagegen auch auf die Begründung, zu der die rechtliche Beurteilung von Vorfragen sowie die dem Bescheid zugrunde gelegten Erwägungen gehören (s BSG in SozR 2200 § 1268 Nr 10; SozR 1500 § 77 Nr 56 mwN; erkennender Senat zuletzt im Urteil vom 28. April 1989, 5 RJ 39/88). Der Eintritt des Versicherungsfalles gehört nicht zum Verfügungssatz des die Rente ablehnenden Bescheids. Der vom 4. Senat des BSG am 29. Juni 1984 (SozR 1500 § 54 Nr 61) in einem anderen Sinn entschiedene Fall betraf, wie der erkennende Senat bereits im Urteil vom 28. April 1989 aaO im einzelnen dargelegt hat, einen Rentenbescheid, mit dem eine Rente gewährt worden war, und der demzufolge eine andere Ausgangslage bot, als sie in dem vom erkennenden Senat am 28. April 1989 entschiedenen Rechtsstreit und im Prozeß der Klägerin gegeben ist.

Zwar hat der erkennende Senat im Urteil vom 31. Mai 1978 (BSGE 46, 236, 237 ff; vgl auch BSGE 49, 296, 297) gegen die Eingrenzung der Bindungswirkung Bedenken geäußert; diese betrafen aber nur eine Ausdehnung der Verbindlichkeit von Rentenbescheiden auf solche Elemente des Bescheides, die außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens gesondert durch einen der Bindung fähigen Verwaltungsakt geregelt werden können. Für den Eintritt des Versicherungsfalles bei einer Rentenablehnung gilt gleiches nicht. Insoweit ist auch ein Vertrauen des Versicherten in einzelne Tatsachenfeststellungen in dem den Anspruch verneinenden Bescheid nicht zu schützen.

Freilich darf nicht übersehen werden, daß der vorliegende Fall sich von dem Sachverhalt, über den der erkennende Senat in seinem Urteil vom 28. April 1989 aaO zu befinden hatte, insofern unterscheidet, als damals der Eintritt des Versicherungsfalles positiv festgestellt wurde, im jetzigen Rentenbescheid der Beklagten dagegen eine negative Aussage - "Nichteintritt" der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit - getroffen wird. Für die Frage des Umfanges der Bindungswirkung von Rentenbescheiden ist es jedoch gleichbedeutend, ob die Aussage über den Versicherungsfall inhaltlich eine bejahende oder verneinende Feststellung darstellt. Beide Möglichkeiten sind lediglich der rechtsmethodisch zutreffende Ausdruck der grundsätzlichen Denkalternative, die in Form von "Tatbestand erfüllt" oder "Tatbestand nicht erfüllt" jeder Rechtsanwendung zugrunde liegt und sich für das spezielle Merkmal des Versicherungsfalles dahin konkretisiert, daß entweder "der Versicherungsfall am Tag X eingetreten ist" oder "der Versicherungsfall (noch) nicht eingetreten ist". Für die vom erkennenden Senat zur Bindungswirkung von Rentenbescheiden bisher vertretene Rechtsauffassung ergibt sich hieraus folgerichtig, daß sie auch für den Fall einer negativen Erklärung über den Versicherungsfall gilt. Eine solche Verneinung ist für die Beteiligten ebenfalls nicht verbindlich.

Konnte das LSG damit, ohne insoweit an den früheren Bescheid der Beklagten vom 28. Juni 1983 gebunden zu sein, den von der Beklagten im nunmehr angefochtenen Bescheid zugrunde gelegten Eintritt des Versicherungsfalles im Mai 1982 bestätigen, so scheidet damit die Möglichkeit aus, zugunsten der Klägerin die Zeiten der Entrichtung weiterer Pflichtbeiträge während des Bezuges von Krankengeld bis zum Juni 1983 zu berücksichtigen. Der Klägerin steht daher schon mangels Erfüllung der Wartezeit eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht zu.

Da sich nach allem die Revision als unbegründet erweist, ist sie gemäß § 170 Abs 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655091

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