Leitsatz (redaktionell)

1. Das Tatbestandsmerkmal der "Aufnahme in den Haushalt der Großeltern" ist nicht erfüllt, solange auch die Eltern oder die Mutter des Kindes mit Großeltern im selben Haushalt leben.

2. Wer keinerlei Lasten für die Unterhaltung, Erziehung und Beaufsichtigung von Kindern zu tragen hat, bedarf keiner Förderung (hier: Pflegekind bei Großeltern).

 

Normenkette

RVO § 1262 Abs. 2 Nr. 7 Fassung: 1957-02-23; KGG § 2 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1957-07-27

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. Mai 1964 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Es ist streitig, ob das Altersruhegeld des Klägers um den Kinderzuschuß für ein unehelich geborenes Enkelkind - als Pflegekind im Sinne des § 1262 Abs. 2 Nr. 7 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Satz 3 des Kindergeldgesetzes (KGG) in der Fassung vom 27. Juli 1957 - zu erhöhen ist.

In der von dem Kläger gemieteten Wohnung leben mit ihm zusammen sein Schwager, seine beiden - erwachsenen - Söhne, seine Tochter M und deren uneheliche Kinder, die im August 1955 geborene A und die im November 1957 geborene Renate. Bis zum Jahre 1959 wohnte mit ihnen zusammen auch die damals gestorbene Ehefrau des Klägers. M E war bis 1956 berufstätig; dann gab sie - wegen der Krankheit ihrer Mutter - die Arbeit auf und versieht seitdem den Haushalt für die genannten Personen. Die Wohnung besteht aus zwei Zimmern und einer Küche; in dem einen Zimmer schlafen die vier männlichen Personen, in dem anderen die Tochter M und ihre Kinder. Der Erzeuger des Kindes A zahlt für dieses an die Mutter einen Unterhaltsbetrag von anfänglich 40,- DM, später 45,- DM, 55,- DM und seit Juni 1961 65,- DM im Monat.

Im August 1960 beantragte der Kläger, das Altersruhegeld, das er seit 1. September 1958 bezieht, um den Kinderzuschuß für das Kind A zu erhöhen. Er gab an, er habe das Kind von der Geburt an in seinen Haushalt aufgenommen und unterhalte es vollständig.

Mit Bescheid vom 28. April 1961 lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil der Kläger den Unterhalt des Kindes nicht überwiegend bestreite und es auch nicht in seinen Haushalt aufgenommen sei.

Auf die Klage hin hat das Sozialgericht (SG) Augsburg am 12. Dezember 1961 die Beklagte verurteilt, dem Kläger vom 1. September 1958 an den Kinderzuschuß für A E zu gewähren. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 12. Mai 1964 zurückgewiesen. Es hat sich in seinen Entscheidungsgründen mit dem Urteil des erkennenden Senats vom 25. April 1963 (BSG 19, 106) auseinandergesetzt und zum 2. Halbsatz des § 2 Abs. 1 Satz 3 KGG in der Fassung des Gesetzes vom 27. Juli 1957 - "Kinder, die in den Haushalt von Großeltern oder Geschwistern aufgenommen sind ..., gelten als Pflegekinder" - folgendes ausgeführt: Der Wortlaut des Gesetzes sei so klar, daß jede durch ihn nicht gedeckte Einschränkung ausgeschlossen sei. Wenn Großeltern Mieter einer Wohnung seien und diese auch bewohnten, handele es sich immer um den Haushalt der Großeltern. Dabei sei es rechtlich unerheblich, ob diesem Haushalt noch weitere Personen angehörten, vor allem auch ob die Mutter des Pflegekindes hierzu gehöre. Einschränkungen des Gesetzeswortlauts seien auch deswegen nicht am Platze, weil es in der Absicht des Änderungsgesetzes vom 27. Juli 1957 gelegen habe, den Kreis der Pflegekinder gegenüber dem früheren Recht zu erweitern. Der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) habe zu Unrecht dem Akkusativ "in den Haushalt aufgenommen" eine für die Auslegung der Vorschrift wesentliche Bedeutung beigemessen. Die Formulierung des Gesetzes trage lediglich der sprachlichen Tendenz Rechnung, bei Präpositionen, die sowohl mit dem Dativ als auch mit dem Akkusativ verbunden werden, den Akkusativ zu bevorzugen. - Das LSG hat unentschieden gelassen, ob ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band zwischen dem Kläger und seinem Enkelkind Annemarie besteht und der Kläger zu dessen Unterhalt nicht unerheblich beiträgt (§ 2 Abs. 1 Satz 3, 1. Halbsatz KGG), ferner auch, ob das Kind von seinem Großvater "überwiegend unterhalten" wird (Satz 3, 2. Halbsatz, 2. Alternative).

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat Revision eingelegt und sich zur Begründung auf die bereits angeführte Entscheidung des BSG bezogen.

Sie beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger ist im Verfahren vor dem BSG nicht durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten.

Die Revision ist zulässig und begründet.

Da der Versicherungsfall im Jahre 1958 eingetreten ist, sind für die Beurteilung des Anspruchs auf einen Kinderzuschuß die zu jener Zeit geltenden Vorschriften maßgebend, nämlich § 1262 Abs. 2 Nr. 7 RVO in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 und Satz 3 KGG in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 27. Juli 1957. Danach sind Pflegekinder solche "Kinder, die in den Haushalt von Personen aufgenommen sind, mit denen sie ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verknüpft, wenn diese zu dem Unterhalt der Kinder nicht unerheblich beitragen; Kinder, die in den Haushalt von Großeltern oder Geschwistern aufgenommen worden sind oder von ihnen überwiegend unterhalten werden, gelten als Pflegekinder".

Von den mehreren, in § 2 Abs. 1 KGG alternativ normierten Anspruchsvoraussetzungen hat das LSG nur diejenige der Aufnahme eines Kindes in den Haushalt von Großeltern (Satz 3, 2. Halbsatz, 1. Alternative) geprüft und als gegeben angesehen. Es hat in dieser Hinsicht die Erfordernisse des Gesetzes in allen Fällen als erfüllt bezeichnet, in denen Großeltern Mieter einer Wohnung sind, diese tatsächlich bewohnen und ein Enkelkind mit ihnen zusammen lebt. Rechtlich unerheblich ist es nach seiner Meinung, ob und welche weiteren Personen dem Haushalt angehören. Das LSG hat es auch nicht als bedeutsam angesehen, ob die Großeltern in die Sorge für die Person des Enkelkindes eingeschaltet sind und ob sie für die Wohnungsgewährung in irgendeiner Weise von dem Enkelkind, seiner Mutter oder von dritter Seite entschädigt werden. Die Konsequenz dieser weitgehenden Auffassung wäre, daß in jedem gemeinsamen Haushalt von Eltern und verheirateten Kindern ein Pflegekindschaftsverhältnis zwischen Großeltern und Enkelkindern bestände, wenn die Großeltern Mieter oder Eigentümer der Wohnung sind. Dies wäre auch dann der Fall, wenn die Großeltern an der Erziehung und der Beaufsichtigung der Enkelkinder in keiner Weise teil hätten und sie aus der gemeinsamen Haushaltsführung mehr wirtschaftliche Vorteile als Nachteile hätten. Entsprechendes müßte folgerichtig gelten, wenn ein Ehepaar mit einem jüngeren Kind im Haushalt eines bereits verheirateten Kindes lebt und das verheiratete Kind die Wohnung gemietet hat. Dann bestände trotz Zusammenlebens mit den Eltern ein Pflegekindschaftsverhältnis im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 3, Halbsatz 2 zwischen dem jüngeren Kind und dem - verheirateten - Bruder oder der Schwester. Ein solches Ergebnis entspricht weder der natürlichen Betrachtungsweise noch dem Sinn und Zweck des Gesetzes. Durch die Kindergeldzahlungen nach dem KGG und die Kinderzuschüsse nach der RVO sollen demjenigen, der die Lasten des Unterhalts einer Familie mit Kindern - nach dem Kindergeldrecht einer kinderreichen Familie - trägt, zusätzliche Leistungen als Förderung gewährt werden (vgl. BSG 20, 91). Wer keinerlei Lasten für die Unterhaltung, Erziehung und Beaufsichtigung von Kindern zu tragen hat, bedarf keiner Förderung. Um diesem Grundgedanken der gesetzlichen Regelung Rechnung zu tragen, hat der erkennende Senat in seiner bereits erwähnten Entscheidung (BSG 19, 106) für die Erfüllung des Merkmals der Aufnahme in den Haushalt von Großeltern mehr verlangt als das rein äußerliche Zusammenleben eines Enkelkindes mit den Großeltern in einer Wohnung; es muß mit Wissen und Willen seiner leiblichen Eltern aus deren Obhut und Fürsorge ausgeschieden und in die Fürsorge und den Haushalt der Pflegeeltern übergetreten sein. Diese Rechtsprechung hat der Senat durch Urteil vom 24. Februar 1965 - 4 RJ 277/63 - bestätigt. Sie findet eine Stütze darin, daß der 7. Senat des BSG auch das Merkmal der Aufnahme in den Haushalt von Stiefeltern (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 KGG) einschränkend dahin ausgelegt hat, es sei hierunter nicht nur die tatsächliche Zugehörigkeit, sondern die im Rahmen des Haushalts zugewendete Obsorge zu verstehen (BSG 20, 91 ff.). Die Ausführungen des LSG in dem angefochtenen Urteil geben dem erkennenden Senat keine Veranlassung, von seiner bisherigen Rechtsprechung abzuweichen. Er hält auch daran fest, daß neben dem Grundgedanken des Gesetzes auch die Fassung "in den Haushalt von Großeltern aufgenommen" die Forderung rechtfertigt, daß das Kind aus dem Haushalt der Eltern - oder eines Elternteils - gelöst und in den Haushalt der Großeltern überführt worden sein muß. Entgegen der Auffassung des LSG steht diese Auslegung nicht im Widerspruch zu der Tatsache, daß mit dem Änderungsgesetz vom 27. Juli 1957 eine Erweiterung des Kreises der Pflegekinder bezweckt worden ist; auch vom Rechtsstandpunkt des Senats her hat das Änderungsgesetz den Kreis der Pflegekinder gegenüber dem früheren Rechtszustand erweitert.

Annemarie E. ist folglich nicht schon deshalb ein Pflegekind des Klägers, weil es in dessen Wohnung lebt. Nach den getroffenen Feststellungen fehlt es an der zu fordernden Lösung aus dem Haushalt der Mutter. Das Kind lebt in gleicher Weise mit ihr wie mit dem Kläger zusammen im Haushalt. Die häuslichen Verhältnisse bieten auch keinen Anhalt für die Annahme, daß das Kind in sonstiger Weise von der Familiengemeinschaft mit der Mutter getrennt worden wäre. Es wird ganztägig von ihr betreut, verpflegt, erzogen und schläft auch mit ihr zusammen. Die Beziehungen des Klägers zu dem Kind erschöpfen sich in der Gewährung von Wohnung. Diese Leistung vermag - in Verbindung mit etwaigen sonstigen Zuwendungen - allenfalls in Anwendung der zweiten Alternative des § 2 Abs. 1 Satz 3, Halbsatz 2 KGG zur Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses zu führen. Insoweit kann über den Klageanspruch jedoch nicht abschließend entschieden werden, weil es an ausreichenden tatsächlichen Feststellungen fehlt.

Ob das Enkelkind Annemarie "in den Haushalt des Klägers aufgenommen" wäre, wenn die Mutter noch minderjährig und infolgedessen der elterlichen Gewalt des Klägers unterworfen wäre, bedarf keiner Entscheidung; denn zur Zeit des Versicherungsfalles - im Jahre 1958 - war M E bereits 23 Jahre alt.

Nach alledem muß das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.

Über die Kosten wird im abschließenden Urteil zu entscheiden sein.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325542

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