Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsanwaltsgebühr. Erstattungsanspruch. öffentlich-rechtlicher Vertrag. Subordinationsverhältnis. Verzugsschaden

 

Leitsatz (amtlich)

Zum Anspruch auf Erstattung von Aufwendungen, die einem Leistungserbringer nach mehrmaligen Mahnungen des Unfallversicherungsträgers, fällige Rechnungen zu begleichen, durch Inanspruchnahme eines Rechtsanwalts entstanden sind.

 

Normenkette

SGB I § 44 Abs. 1; SGB IV § 27 Abs. 1; SGB X § 61 S. 1, § 63 Abs. 1; BGB § 286 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 26.10.1994; Aktenzeichen L 17 U 174/94)

SG Dortmund (Urteil vom 19.07.1994; Aktenzeichen S 21 U 276/93)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. Oktober 1994 aufgehoben. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 19. Juli 1994 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger vom beklagten Land im Rahmen des Schadensersatzes wegen Verzuges die Erstattung von Rechtsanwaltskosten verlangen kann.

Der Kläger behandelte in seiner Praxis für Krankengymnastik in den Monaten Juni und Juli 1992 auf ärztliche Verordnung zwei Schüler wegen der Folgen von Schulunfällen. Am 2. September 1992 stellte er dem Beklagten für den einen Schüler zweimal 150,60 DM, für den anderen Schüler 77,00 DM in Rechnung und bat, den Gesamtbetrag von 378,20 DM innerhalb von 28 Tagen zu überweisen. Der Beklagte wies am 12. Oktober 1992 den Betrag von 150,60 DM zur Zahlung an. Am 10. Februar 1993 ging beim Beklagten ein mit “4. Zahlungserinnerung” überschriebenes Schreiben des Klägers ein, in dem er um sofortige Überweisung des Restbetrages zuzüglich 20,00 DM Mahngebühren bat. Mit Schreiben vom 9. März 1993 forderten die Prozeßbevollmächtigten des Klägers die Überweisung der Restforderung zuzüglich Mahnkosten und Zinsen sowie der Kosten für die eigene Tätigkeit in Höhe von 39,67 DM (Rechtsanwaltsgebühr, Auslagenpauschale und Mehrwertsteuer). Am 30. März 1993 wies der Beklagte die Restforderung zur Zahlung an, lehnte aber die Begleichung der geltend gemachten übrigen Kosten ab.

Ds Sozialgericht (SG) hat dem letzten Klageantrag des Klägers entsprechend den Beklagten verurteilt, dem Kläger die Rechtsanwaltskosten in Höhe von 39,67 DM zu erstatten (Urteil vom 19. Juli 1994). Der Anspruch folge aus einer analogen Anwendung des § 63 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X), weil der Kläger auch Klage hätte erheben können. Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG geändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 26. Oktober 1994). Der Zahlungsanspruch lasse sich nicht aus § 61 Satz 1 iVm § 63 SGB X herleiten, da dem Abrechnungsverhältnis zwischen dem Kläger und dem Beklagten ein öffentlich-rechtlicher Vertrag koordinationsrechtlicher Art, nämlich die Vereinbarung zwischen den Spitzenverbänden der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung und dem Verband Physikalische Therapie – Vereinigung für die Physiotherapeutischen Berufe sowie dem Physiotherapieverband vom 12. März 1992 zugrunde liege. Die Eigenart derartiger Verträge lasse die Anwendung solcher Vorschriften, die erkennbar das Verhältnis zwischen Behörde und Bürger regelten, entweder gar nicht oder nur dem Grundgedanken nach zu. Vorschriften über das Rechtsbehelfsverfahren seien deshalb nicht entsprechend anwendbar. Auch eine analoge Anwendung scheide aus, weil sich die Vorschrift des § 63 SGB X nur auf das förmliche Widerspruchsverfahren beziehe. Die Pflicht zur Erstattung von Aufwendungen für eine vorprozessuale Rechtsverfolgung habe der Gesetzgeber vielmehr auf die Tatbestände des § 63 SGB X begrenzt; dies schließe eine entsprechende Anwendung des § 286 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) über § 61 Satz 2 SGB X jedenfalls dann aus, wenn die Erstattung von Kosten, die durch die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts entstanden seien, als Verzugsschaden geltend gemacht würden. Der Gesetzgeber habe im Sozialversicherungsrecht die Pflicht zum Ausgleich der Nachteile, die durch verspätete Zahlung entstünden, auf die Tatbestände des § 44 Abs 1 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I) und des § 27 Abs 1 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IV) beschränkt und zu erkennen gegeben, daß nur in diesen Fällen und nur durch Verzinsung der Nachteil verspäteter Zahlung auszugleichen sei.

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Im Falle des Leistungsverzuges seien über § 61 Satz 2 SGB X die §§ 284 ff BGB anwendbar. § 63 SGB X schließe dies nicht aus. Dies ergebe sich auch aus seiner Entstehungsgeschichte. Danach habe der Gesetzgeber lediglich den unbefriedigenden Zustand beheben wollen, daß nach ständiger Rechtsprechung eine Kostenerstattung im isolierten Vorverfahren abgelehnt worden sei. Eine bewußte, abschließende Entscheidung über die Erstattung von Rechtsanwaltskosten sei nicht beabsichtigt gewesen. Im übrigen regle § 63 SGB X gerade nicht einen Schadensersatzanspruch, sondern die Kostentragungspflicht im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. Oktober 1994 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Dortmund vom 19. Juli 1994 zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Er meint, die von der Revision vertretene Auffassung hätte zur Folge, daß Aufwendungen eines Antragstellers für eine vorprozessuale Rechtsverfolgung in vollem Umfang zu erstatten wären, wenn das Rechtsverhältnis statt durch Verwaltungsakt durch öffentlich-rechtlichen Vertrag geregelt würde, während ansonsten der Erstattungsanspruch auf den Anwendungsfall des § 63 SGB X beschränkt sei. Ein Grund für eine derartige unterschiedliche Behandlung sei jedoch nicht ersichtlich.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist begründet. Der Beklagte hat dem Kläger die vor Einleitung des Klageverfahrens durch die Zuziehung eines Rechtsanwalts entstandenen Kosten als Verzugsschaden zu ersetzen.

Das LSG hat zunächst zutreffend erkannt, daß ein Anspruch auf Kostenerstattung nicht aus § 63 SGB X folgt, wonach im Vorverfahren unter bestimmten, im einzelnen geregelten Voraussetzungen die Gebühren und Auslagen für die Tätigkeit eines Rechtsanwalts zu erstatten sind. Zwar gelten nach § 61 Satz 1 SGB X für öffentlich-rechtliche Verträge die übrigen Vorschriften dieses Gesetzbuches, soweit sich aus den §§ 53 bis 60 SGB X nichts Abweichendes ergibt, was hier zutrifft, da diese Bestimmungen weder eine Kostenerstattung noch Leistungsstörungen regeln. Doch ist die Anwendung des § 63 SGB X mit den Besonderheiten der Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten nicht zu vereinbaren. Dem Rechtsverhältnis der Beteiligten liegt ein öffentlich-rechtlicher Vertrag zwischen den Spitzenverbänden der Unfallversicherungsträger und den Verbänden der Leistungserbringer zugrunde, bei dem es sich um einen sog koordinationsrechtlichen Vertrag (zum Begriff vgl BT-Drucks 7/910 S 78 und ua KassKomm-Krasney § 53 SGB X RdNr 3) handelt. Denn auch außerhalb dieses vertraglichen Bereichs stehen sich Kläger als Leistungserbringer und Beklagter als Versicherungsträger gleichgeordnet gegenüber. Dies ergibt sich aus dem Fehlen einer einseitigen Regelungsbefugnis des Unfallversicherungsträgers gegenüber den Leistungserbringern und aus § 557 Abs 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO), der dem Unfallversicherungsträger gebietet, die Beziehungen zu den an der Durchführung der Heilbehandlung beteiligten Stellen durch Verträge zu regeln. Der koordinationsrechtliche Charakter des oben genannten Vertrages schließt es aber aus, über § 61 Satz 1 SGB X Regelungen des SGB anzuwenden. Hierzu gehört auch § 63 SGB X als eine der das Rechtsbehelfsverfahren gegen Verwaltungsakte betreffenden Bestimmungen. Ob dies allgemein für öffentlich-rechtliche Verträge – also auch für sog subordinationsrechtliche Verträge – gilt, kann offenbleiben.

Der Erstattungsanspruch des Klägers findet seine Rechtsgrundlage entgegen der Ansicht des LSG in den §§ 284, 285 und 286 Abs 1 BGB. Danach hat der Schuldner dem Gläubiger den durch den Verzug, also den durch die vom Schuldner zu vertretende Nichtleistung trotz Fälligkeit und Mahnung entstehenden Schaden zu ersetzen. Hierzu gehören auch die Kosten der Rechtsverfolgung einschließlich jener für die Zuziehung eines Rechtsanwaltes (vgl Palandt/Heinrichs, Bürgerliches Gesetzbuch, 54. Aufl 1995, § 286 RdNr 7 mwN). Die Verzugsregeln des BGB sind auf das Vertragsverhältnis der Beteiligten gemäß § 61 Satz 2 SGB X entsprechend anzuwenden (KassKomm-Krasney § 61 SGB X RdNr 6). Nach dieser Bestimmung gelten für öffentlich-rechtliche Verträge – nachrangig zu den §§ 53 bis 60 SGB X und den übrigen Vorschriften des SGB (vgl § 61 Satz 1 SGB X) ergänzend die Vorschriften des BGB entsprechend.

Zu Unrecht schließt das LSG aus den im Sozialrecht normierten Zinsvorschriften des § 44 SGB I für Geldleistungen und des § 27 Abs 1 SGB IV für den Anspruch auf Erstattung zu Unrecht entrichteter Beiträge einerseits und § 63 SGB X andererseits, der Gesetzgeber habe den Ersatz von Anwaltskosten als Verzugsschaden ausgeschlossen.

Mit der Regelung des § 44 SGB I – und entsprechend jener des § 27 Abs 1 SGB IV (vgl BT-Drucks 7/4122 S 34 zu §§ 22 bis 29) – wollte der Gesetzgeber der Tatsache Rechnung tragen, daß soziale Geldleistungen in der Regel die Lebensgrundlage des Leistungsberechtigten bilden und bei verspäteter Zahlung nicht selten Kreditaufnahmen, die Auflösung von Ersparnissen oder die Einschränkung der Lebensführung notwendig machen (BT-Drucks 7/868 S 30 zu § 44). Solche Nachteile sollten durch die Verzinsung ausgeglichen werden (BSGE 71, 72, 74). Aufgrund dieser Beschränkung der Zinsvorschriften auf bestimmte Arten von Ansprüchen wurde die zur früheren Rechtslage ergangene Rechtsprechung des BSG fortgeführt und hinsichtlich der Zinsansprüche eine zur analogen Anwendung des § 44 SGB I und des § 27 Abs 1 SGB IV oder der §§ 284, 285, 288, 291 BGB auf andere Arten von Geldansprüchen – wenn auch nicht ausnahmslos (vgl BSG SozR 2200 § 405 Nr 12 betreffend den Beitragszuschuß des Arbeitgebers) – verneint (zusammenfassend BSGE 71, 72, 73 ff mwN).

Hingegen sind keine Umstände erkennbar, die für die Annahme des LSG sprächen, der Gesetzgeber habe mit den Zinsvorschriften des SGB alle Nachteile aufgrund verspäteter Zahlung abgegolten sehen wollen. Vielmehr zeigt die Erwähnung von Kreditaufnahme und Auflösung von Ersparnissen als Folgen verspäteter Zahlung in der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drucks aaO), daß die Zinsvorschriften den Ausgleich der hieraus entstehenden Vermögensnachteile, nämlich Zinslast bzw Zinsverlust, bezwecken. Andere Nachteile verspäteter Zahlung werden somit nicht, auch nicht im Sinne eines Ausschlusses erfaßt. Im übrigen hat der Gesetzgeber selbst in § 63 SGB X einen Anspruch auf Kostenerstattung, also auf Ausgleich eines bestimmten Nachteils verspäteter Zahlung, der keinen Zinsschaden darstellt, normiert. Es kann mangels entsprechender Anhaltspunkte nicht davon ausgegangen werden, der Gesetzgeber habe damit einer im Rahmen des § 44 SGB I und des § 27 Abs 1 SGB IV getroffenen Grundentscheidung widersprechen oder eine Ausnahme hierzu schaffen wollen. Der Senat weicht somit nicht von dem Urteil des 8. Senats vom 11. März 1987 (SozR 1300 § 61 Nr 1) ab.

Zwar hat das BSG unter Hinweis auf die verschiedenen Kostenregelungen im Verwaltungsverfahren iS des SGB X (BSGE 55, 92, 94; SozR 3-1300 § 63 Nr 1) und die Gesetzesentwicklung (SozR 3 aaO) eine ausfüllungsfähige Lücke hinsichtlich der Erstattung von Anwaltskosten verneint und einen Kostenerstattungsanspruch im Verwaltungsverfahren außerhalb eines Vorverfahrens abgelehnt (KassKomm-Krasney § 63 SGB X RdNr 3). Es kann hier dahingestellt bleiben, ob angesichts der bewußt lückenhaft gehaltenen gesetzlichen Regelungen des öffentlich-rechtlichen Vertrages (vgl BT-Drucks 7/910 S 77) und der deshalb angeordneten Geltung der Vorschriften des SGB und ergänzend des BGB ein für Bereiche außerhalb des öffentlich-rechtlichen Vertrages festzustellender Wille des Gesetzgebers zu abschließender Regelung ohne weiteres auch für den Bereich des öffentlich-rechtlichen Vertrages, und hier insbesondere bei sog koordinationsrechtlichen Verträgen Gültigkeit hat (so der 8. Senat des BSG SozR 1300 § 61 Nr 1 hinsichtlich der Zinsvorschriften des SGB I und IV). Jedenfalls läßt sich ein abschließender Regelungsplan für die Erstattung von im Rahmen der Rechtsverfolgung entstandenen Anwaltskosten nur für das Verwaltungsverfahren feststellen. Denn die zur Begründung eines “beredten Schweigens” des Gesetzes herangezogenen Kostenregelungen (§ 65a SGB I, §§ 63, 64, § 15 Abs 3 SGB X, vgl BSGE 55, 92, 94 und SozR 3-1300 § 63 Nr 1) betreffen ausschließlich das Verwaltungsverfahren. Dieses endet im Falle eines öffentlich-rechtlichen Vertrages aber mit dessen Abschluß (§ 8 SGB X; KassKomm-Krasney § 8 SGB X RdNr 9), so daß die Erfüllung des Vertrages nicht mehr zum Verwaltungsverfahren zu rechnen ist. Damit ist auch die Beurteilung von Leistungsstörungen mit Kosten der Rechtsverfolgung als Schaden unabhängig von den oben angeführten, allein das Verwaltungsverfahren regelnden Vorschriften nach den allgemeinen Bestimmungen des BGB über den Verzugsschaden vorzunehmen.

Das Urteil des LSG war daher aufzuheben und das erstinstanzliche Urteil wieder herzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1996, 1693

Breith. 1996, 299

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