Leitsatz (amtlich)

1. Hält sich ein Gericht zu Unrecht an die Rechtskraft einer früheren Entscheidung gebunden und unterlaßt es daher insoweit eine eigene Sachprüfung, so liegt darin ein wesentlicher Verfahrensmangel.

2. Die materielle Rechtskraft eines Urteils, nach der ein Versicherter freiwillige Beiträge nicht mehr nachentrichten darf, weil Invalidität bereits eingetreten ist, steht der Prüfung, ob Invalidität in der Zeit nach der Entscheidung vorliegt, nicht entgegen. Beantragt daher der Versicherte nach rechtskräftiger Abweisung eines früheren Antrages erneut, ihm die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zu gestatten, so ist über die Frage, ob er nunmehr Invalide ist, ohne Bindung an das frühere Urteil zu entscheiden.

 

Normenkette

SGG § 141 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Mai 1956 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an des Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Für den im Jahre 1880 geborenen Kläger sind seit dem 17. Januar 1919 keine Beiträge entrichtet worden. Er beantragte erstmals am 21. März 1950, Beiträge nachentrichten zu dürfen, um auf diese Weise die Halbdeckung zu erreichen. Nach der daraufhin von der Beklagten veranlaßten vertrauensärztlichen Untersuchung durch Dr. Sch... vom 25. April 1950 litt der Kläger an einer Herzinsuffizienz, die mit deutlichen Dekompensationszeichen und Bluthochdruck verbunden war, ferner an Herzbeschwerden und Atemnot sowie an einer Lungenblähung; er sei nur noch zu leichten Arbeiten mit Unterbrechung fähig; der Hausarzt führe alljährlich Aderlasse durch; die Erwerbsfähigkeit des Klägers sei um 70 v.H. gemindert, Individualität bestehe seit dem 1. Januar 1950. Die Beklagte lehnte es hiernach mit Bescheid vom 6. Mai 1950 ab, dem Kläger die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zu gestatten. Das Versicherungsamt, an das sich der Kläger gegen diesen Bescheid wandte, entschied am 24. August 1950, der Kläger sei, da der Versicherungsfall bereits eingetreten sei, nicht mehr zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge berechtigt. Die vom Kläger dagegen eingelegte Beschwerde wies das Oberversicherungsamt (OVA.) Stuttgart mit endgültiger Entscheidung vom 28. November 1950 zurück. - Einen am 26. März 1952 gestellten Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens nahm der Kläger - nach Belehrung - am 19. Mai 1952 wieder zurück.

Mit Schreiben vom gleichen Tage beantragte der Kläger bei der Beklagten erneut, ihm die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zu gestatten. Es seien neue Gesichtspunkte hervorgetreten, die zu einer vollkommen anderen Beurteilung seiner Leistungsfähigkeit führen müßten. Nach einem fachärztlichen Gutachten von Dr. K... in C. vom 31. Dezember 1951 sei er voll arbeitsfähig. Das Gutachten stellte dem Alter entsprechende Veränderungen fest, bezeichnete aber den allgemeinen Kräftezustand des Klägers als recht gut. Der Kläger trug vor, die Feststellung, die das OVA. in seiner Entscheidung vom 28. November 1950 getroffen habe, daß er nur gelegentlich in seiner eigenen Landwirtschaft mitarbeite, treffe keineswegs zu. Er bestelle vielmehr seine eigene Landwirtschaft - sieben Hektar Land mit neun Stück Großvieh - allein mit seiner Tochter; seine Ehefrau könne kaum mitarbeiten. Sein Fall bilde, wie auch Zeugen bekunden könnten, eine eindeutige Ausnahme. Die Beklagte vertrat mit Schreiben vom 26. Juni 1952 die Ansicht, im Gesundheitszustand des Klägers sei wegen seines Alters keine wesentliche Besserung mehr möglich gewesen; er arbeite auf Kosten seiner Gesundheit. Mit ablehnendem Bescheid vom 19. Dezember 1952 nahm die Beklagte dahin Stellung, daß weder gegenüber den Feststellungen des OVA. vom 28. November 1950 eine wesentliche Änderung eingetreten sei noch sei eine solche zu erwarten.

Der Kläger rief das Versicherungsamt an, das ein weiteres Gutachten des Staatlichen Gesundheitsamts einholte. In dem Gutachten vom 14. Juli 1953 war die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) des Klägers auf 70 v.H. geschätzt. Nach der Natur der Leiden sei im Vergleich zum Gutachten vom 25. April 1950 keine objektive Besserung des Gesundheitszustandes anzunehmen. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger über sein Alter hinaus rüstig sei; die angebliche Arbeitsleistung des Klägers im eigenen Betrieb falle nicht so wesentlich ins Gewicht, daß daraus auf eine noch ausreichende Erwerbsfähigkeit geschlossen werden könne; die Invalidität des Klägers bestehe mindestens seit 4. April 1950. Das Versicherungsamt vernahm auf Antrag des Klägers die Zeugen S... R... Sch... und K... über den Umfang der Arbeitsleistung des Klägers, und das Bürgermeisteramt bestätigte noch, der Kläger bewirtschafte allein mit einer im Jahre 1920 geborenen Tochter die sieben Hektar große Landwirtschaft; die 68-jährige Ehefrau sei infolge körperlicher Gebrechen höchstens zu leichten Arbeiten fähig; der 31-jährige Sohn habe noch bis September 1952 mitgearbeitet. Das Versicherungsamt erklärte den Kläger mit Entscheidung vom 29. Dezember 1953 für berechtigt, die Beiträge nachzuentrichten.

Die Beklagte rief gegen die Entscheidung des Versicherungsamts - nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) - das Sozialgericht (SG.) an und machte geltend, auch wenn der Kläger noch wirtschaftlich verwertbare Arbeit leiste, so sei bei seinem hohen Alter erfahrungsgemäß anzunehmen, daß Invalidität vorliege; der Kläger arbeite auf Kosten seiner Gesundheit. Demgegenüber trug der Kläger vor, er könnte infolge der in der Landwirtschaft angespannten Arbeitsmarktlage trotz seines hohen Alters ohne weiteres eine Beschäftigung finden und mehr als die Hälfte eines gesunden Versicherten leisten und verdienen. Das SG. billigte diese Auffassung des Klägers. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen sowie dem persönlichen Eindruck des Klägers in der mündlichen Verhandlung sei anzunehmen, daß der Kläger, als er den Antrag auf Beitragsnachentrichtung gestellt habe, nicht invalide gewesen sei. Im Vergleich zu dem auf umfangreicher klinischer Untersuchung erstatteten fachärztlichen Gutachten vom 31. Dezember 1951 müßten die ärztlichen Gutachten vom 25. April 1950 und vom 14. Juli 1953 zurücktreten. Anders als bei der Entscheidung des OVA. Stuttgart vom 28. November 1950 müsse angenommen werden, daß der Kläger in den Jahren 1951 bis 1953 nicht invalide gewesen sei.

Mit der hiergegen eingelegten Berufung machte die Beklagte geltend, das fachärztliche Gutachten vom 31. Dezember 1951 sei während der Wintermonate, in einer Zeit beschränkter Arbeitstätigkeit in der Landwirtschaft, erstattet worden und enthalte keine Angaben über den Grad der Erwerbsfähigkeit des Klägers. Der Kläger arbeite in der eigenen Landwirtschaft auf Kosten seiner Gesundheit und habe sich, wie dies häufig der Fall sei, erst zur Regelung seiner Versicherung entschlossen, als er sich infolge Verschlechterung seines Gesundheitszustandes dazu gezwungen gesehen habe. Der Kläger trug vor, er verrichte landwirtschaftliche Arbeiten schwerster Art, und bezog sich auf die Zeugenaussagen und das fachärztliche Gutachten. Bei der amtsärztlichen Untersuchung vom 14. Juli 1953 habe er unter den Folgen eines landwirtschaftlichen Unfalls - vom 14. Juli 1953 -gelitten; nach einem von ihm vorgelegten ärztlichen Zeugnis stand er vom 22. bis 29. Juni 1953 wegen eines landwirtschaftlichen Unfalls in ärztlicher Behandlung und war deshalb für 14 Tage arbeitsunfähig geschrieben.

Das Landessozialgericht (LSG.) wies die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 19. Dezember 1952 ab: Die Klage richte sich gegen diesen Bescheid und nicht gegen die Entscheidung des Versicherungsamts vom 29. Dezember 1953, so daß Ch... A... und nicht die Landesversicherungsanstalt Anfechtungskläger sei. - Die Berufung der Beklagten sei begründet, weil der Klage die Rechtskraft der endgültigen Entscheidung des OVA. Stuttgart vom 28. November 1950 entgegenstehe. Das Gesetz schließe zwar nach dem Erlaß einer rechtskräftigen Entscheidung einen neuen Antrag nicht aus. Auf Grund desselben Sachverhalts sei aber keine von einer rechtskräftigen Entscheidung abweichende Entscheidung möglich. Die Bindung an eine Entscheidung erstrecke sich darauf, daß ein bestimmter Tatbestand eine bestimmte Rechtswirkung habe oder daß er sie danach nicht haben könne; die Rechtskraftwirkung beschränke sich nicht auf den Entscheidungssatz, beziehe sich vielmehr insoweit auch auf die Urteilselemente, als sie den Grund des Anspruchs beträfen und insoweit auch eine rechtskräftige Feststellung dem Grunde nach für die Zukunft darstelle. Für eine abweichende Entscheidung bedürfe es einer Änderung des Streitgegenstandes. Der Kläger habe im gesamten Laufe des Verfahrens nie behauptet, daß ein neuer Streitgegenstand vorliege. Nach der vorliegenden Begründung des Klägers seien neue Gesichtspunkte aufgetreten, die erkennen ließen, daß die damalige Entscheidung zu Unrecht ergangen sei. Die neuen Gesichtspunkte seien: die Erlangung eines neuen Gutachtens (vom 31. Dezember 1951) und die Bereitschaft von Zeugen auszusagen, daß der Kläger entgegen der Entscheidung vom 28. November 1950 in seiner Landwirtschaft nicht nur gelegentlich mitarbeite, sondern daß er seinen Hof zusammen mit einer Tochter allein versorge, wobei er alle schweren Arbeiten verrichte Das gleiche habe der Kläger aber schon dem OVA. vorgetragen. Hiernach habe dem Versicherungsamt bei seiner Entscheidung vom 29. Dezember 1953 der gleiche Sachverhalt vorgelegen wie schon bei seiner vom OVA. am 28. November 1950 bestätigten Entscheidung vom 24. August 1950. Der Kläger habe "selbst nie behauptet, sein Gesundheitszustand habe sich seit der vertrauensärztlichen Untersuchung vom 25. April 1950 so gebessert, daß seit der rechtskräftigen Entscheidung des OVA. Stuttgart vom 28. November 1950 eine wesentliche Änderung in den Urteilsgrundlagen eingetreten wäre". Das SG., das erstmals auf diesen Gesichtspunkt eingegangen sei, habe nicht dargetan, worin die wesentliche Änderung zu sehen sein solle. Das Versicherungsamt hätte die erhobenen Beweise nur daraufhin würdigen dürfen, ob seit der rechtskräftigen Entscheidung vom 28. November 1950 eine so wesentliche Änderung in den Verhältnissen des Klägers eingetreten sei, daß nun entgegen der früheren Entscheidung keine Invalidität mehr angenommen werden könne. Eine solche Änderung sei keinesfalls bewiesen, sie sei vielmehr durch das neuerliche amtsärztliche Gutachten vom 14. Juli 1953 ausdrücklich verneint worden. Daher sei das Versicherungsamt bei seiner Entscheidung im vorliegenden Verfahren (vom 29. Dezember 1953) nicht berechtigt gewesen, von der rechtskräftigen Entscheidung des OVA. Stuttgart vom 28. November 1950 abzuweichen.

Das Urteil des LSG. wurde dem Kläger am 28. Juni 1956 zugestellt. Er legte dagegen am 21. Juli 1956 Revision ein und beantragt,

das Urteil des LSG. vom 17. Mai 1956 aufzuheben, die Klage der Landesversicherungsanstalt abzuweisen und festzustellen, daß der Kläger nicht invalide im Sinne der RVO und daher berechtigt sei, sich weiter freiwillig in der Rentenversicherung der Arbeiter zu versichern.

Zur Begründung der Revision hat der Kläger vorgetragen, die Gründe der Entscheidung des OVA. Stuttgart vom 28. November 1950 besäßen für das vorliegende Verfahren keine Rechtskraft. Denn der Sachverhalt, der der Entscheidung des OVA. vom 28. November 1950 zugrunde lag, habe sich in der Folgezeit wesentlich geändert. Der Kläger habe bereits mit den Schriftsätzen vom 26. März und vom 19. Mai 1952 vorgetragen, es hätten sich neue Gesichtspunkte herausgestellt, die zu einer völlig neuen Beurteilung der Sachlage führen müßten. Dieses Vorbringen schließe die Behauptung ein, der Zustand des Klägers habe sich im Verhältnis zu dem Ergebnis der vertrauensärztlichen Untersuchung vom 25. April 1950, das der Entscheidung des OVA. zugrunde liege, wesentlich gebessert. Die Zeugenaussagen befaßten sich besonders mit dem Gesundheitszustand des Antragstellers im Jahre 1953 und besagten, daß der Kläger in diesem Jahre wieder eine volle Arbeitskraft dargestellt habe. Zutreffend habe das SG. angenommen, daß das ärztliche Gutachten vom 14. Juli 1953 gegenüber den klaren Aussagen der vernommenen Zeugen nicht zu überzeugen vermöge.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Das Gericht habe alles getan, um den Sachverhalt aufzuklären. Das OVA. habe bei seiner Entscheidung vom 28. November 1950 darüber zu befinden gehabt, ob die Invalidität des Klägers bereits eingetreten sei. Die dafür gegebene Begründung sei in der Tat eine rechtskräftige Feststellung dem Grunde nach auch für die Zukunft, und zwar auch dann, wenn die Feststellung darüber nicht im Tenor zum Ausdruck gekommen sei.

II.

Die Revision ist statthaft, obwohl sie das LSG. nicht zugelassen hat. Das Verfahren des Berufungsgerichts leidet insofern an einem wesentlichen Mangel (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG), als es die Grenzen der Rechtskraft der - in einem früheren Verfahren ergangenen - Entscheidung des OVA. Stuttgart vom 28. November 1950 verkannt hat. Durch diese Entscheidung war die Beschwerde des Klägers gegen einen Beschluß des Versicherungsamts Crailsheim zurückgewiesen worden; das Versicherungsamt hatte dem Kläger das Recht zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge mit der Begründung abgesprochen, der Versicherungsfall der Invalidität sei bei ihm bereits eingetreten. Nach Auffassung des Berufungsgerichts stand damit zwischen den Beteiligten rechtskräftig auch für die Zukunft fest, daß der Kläger invalide im Sinne der Reichsversicherungsordnung (RVO) und deshalb nicht mehr berechtigt sei, freiwillige Beiträge zu entrichten.

Der Senat kann es dahingestellt lassen, ob die - in der Entscheidung des OVA. enthaltene - Feststellung der Invalidität des Klägers, wie das Berufungsgericht meint, Gegenstand der Entscheidung des OVA. und damit in Rechtskraft erwachsen ist, oder ob sie lediglich zu den nicht der Rechtskraft fähigen Entscheidungsgründen des OVA. gehört (vgl. BSG. 1, 52). Selbst wenn nämlich das OVA. nicht nur das Nichtbestehen des vom Kläger behaupteten Rechts zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge, sondern auch seine Invalidität rechtskräftig festgestellt hätte, würde diese Feststellung die Beteiligten nur nach Maßgabe des Sachverhalts binden, der zur Zeit der Entscheidung des OVA. vorgelegen hat. Die Rechtskraft dieser Entscheidung würde mithin einer anderweitigen Beurteilung der Invalidität (und damit des Rechtes zur Nachentrichtung der Beiträge) nicht entgegenstehen, wenn nach Erlaß der früheren Entscheidung Tatsachen eingetreten sind, die eine abweichende Beurteilung rechtfertigen (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivil- Prozeßrechts, 7. Aufl., § 150 III 2 S. 725; Stein-Jonas-Schönke, ZPO, 18. Aufl., § 322 VIII 4; Peters-Sautter-Wollf, Sgb., 2. Aufl., § 141 3b, bb; BVerwGE 4, 250 [252]).

Von diesen Grundsätzen ist an sich auch das Berufungsgericht ausgegangen. Es hat jedoch die Voraussetzungen verkannt, unter denen in Fällen der vorliegenden Art eine rechtlich erhebliche Veränderung des für die Beurteilung der Invalidität maßgebenden Sachverhalts anzunehmen ist. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommt es nämlich nicht darauf an, ob sich der Gesundheitszustand des Klägers nach Erlaß der früheren Entscheidung des OVA. gebessert hat; noch weniger ist von Bedeutung, ob der Kläger, worauf das Berufungsgericht anscheinend Gewicht legt, eine nachträgliche Besserung behauptet hat (vgl. § 103 SGG). Für die Annahme einer rechtlich erheblichen Änderung des Sachverhalts genügt es vielmehr, wenn die Sachlage, nach der die Individualität zu beurteilen ist, seit Erlaß der OVA.- Entscheidung eine andere geworden ist. Das ist aber, wie auch § 1635 RVO ergibt, schon dann der Fall, wenn über das Vorliegen von Invalidität in einem anderen - späteren - Zeitpunkt zu entscheiden ist.

Nach § 1635 RVO kann der Versicherte einen Rentenantrag, der mangels Invalidität endgültig abgelehnt war, wiederholen, und zwar in der Regel ohne Rücksicht darauf, ob "inzwischen Umstände eingetreten sind, die den Nachweis der Invalidität liefern"; etwas anderes gilt nur dann, wenn seit Zustellung der ablehnenden Entscheidung noch nicht ein Jahr verstrichen ist: in diesem Falle bedarf es ausnahmsweise einer "glaubhaften Bescheinigung", daß sich die für die Invalidität maßgebenden Umstände inzwischen verändert haben, Hieraus folgt, daß über die Frage der Invalidität im Rahmen eines Rentenverfahrens grundsätzlich nur mit Wirkung bis zu dem Zeitpunkt entschieden wird, in dem die Entscheidung des Versicherungsträgers ergeht. Wird dessen Entscheidung angefochten, so gilt das gleiche für den Zeitpunkt der Beurteilung der Invalidität durch die gerichtlichen Instanzen, insbesondere die früheren Spruchbehörden der RVO. Eine Übertragung dieser für Rentenverfahren aufgestellten Grundsätze auf Beitragsstreitigkeiten erscheint unbedenklich, soweit der Erfolg der Klage - wie im vorliegenden Falle - von der Beurteilung der Invalidität des Klägers abhängt. Dabei kann offen bleiben, ob jene in § 1635 RVO enthaltene zeitliche Einschränkung für die Wiederholung des Rentenantrages auch für die Erneuerung des Antrages auf Entrichtung freiwilliger Beiträge entsprechend gilt; denn hier hat der Kläger den neuen Antrag erst etwa eineinhalb Jahre nach Erlaß der früheren OVA.- Entscheidung gestellt.

Gegen die Auffassung des Senats über die zeitlichen Grenzen, die einer rechtskräftigen Entscheidung über das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Invalidität innewohnen, spricht auch nicht die Vorschrift des § 1293 Abs. 1 RVO a.F., nach der die Rente nur dann zu entziehen ist, wenn der Berechtigte "infolge einer wesentlichen Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr invalide ist" (ähnlich § 1286 RVO n.F.). Der Feststellung des Versicherungsträgers über das Vorliegen von Invalidität ist insoweit zwar eine über den Zeitpunkt der Feststellung hinausreichende, erhöhte Bestandskraft verliehen worden, die durch den Zeitablauf allein nicht beseitigt wird. Indessen handelt es sich hier um eine Sondervorschrift zugunsten der Versicherten (Rentner); der Grundgedanke dieser Vorschrift darf daher nicht auf Fälle angewandt werden, in denen nicht ein begünstigender, sondern ein belastender Verwaltungsakt (hier: Ablehnung eines Antrages des Klägers auf Beitragsentrichtung) in Frage steht.

Die materielle Rechtskraft eines Urteils, nach der ein Versicherter freiwillige Beiträge nicht mehr nachentrichten darf, weil Invalidität bereits eingetreten ist, steht somit der Prüfung nicht entgegen, ob Invalidität in der Zeit nach der Entscheidung vorliegt. Beantragt also der Versicherte nach rechtskräftiger Abweisung eines früheren Antrages erneut, ihm die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zu gestatten, so ist über die Frage, ob er nunmehr invalide ist, ohne Bindung an das frühere Urteil zu entscheiden (vgl. auch RG. in JW. 1915, S. 784 Nr. 4, wo ausgeführt ist, daß über die Frage, ob ein Recht auf Scheidung wegen Geisteskrankheit des anderen Ehegatten bestehe, ausschließlich auf Grund des Krankheitsbefundes im Zeitpunkt der Urteilsfällung entschieden werde; die Rechtskraft eines klagabweisenden Urteils stehe deshalb einer späteren, auf den gleichen Scheidungsgrund gestützten Klage sogar dann nicht entgegen, wenn sich die Krankheit inzwischen nicht verschlimmert habe; vgl. ferner RG. in JW. 1936, 857 a.E.; sowie BGH. in Lindenmair-Möhring, Nachschlagewerk des BGH., ZPO S. 322 Nr. 4).

Im vorliegenden Fall hätte das Berufungsgericht hiernach eine neue Prüfung der Invalidität des Klägers nicht mit der Begründung ablehnen dürfen, der Gesundheitszustand des Klägers habe sich seit der früheren Entscheidung des OVA. vom 28. November 1950 nicht gebessert. Selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, hätte das Berufungsgericht die Invalidität des Klägers schon im Hinblick auf die seit der Entscheidung des OVA. verstrichene Zeit erneut prüfen müssen. Da es dies auf Grund eines Rechtsirrtums über die Grenzen der Rechtskraft jener OVA.- Entscheidung unterlassen hat, leidet sein Verfahren an einem wesentlichen Mangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG (vgl. das Urteil des 6. Senats vom 21.10.1958 - 6 RKa 9/58 - mit Nachweisen). Der 4. Senat des Bundessozialgerichts hat zwar in einer früheren Entscheidung (BSG. 1, 52, 56) ausgesprochen, es bedürfe keiner Verfahrensrüge, wenn das Berufungsgericht verkannt habe, daß sich die materielle Rechtskraft eines in einem Vorprozeß ergangenen Urteils nicht auf die dem zuerkannten Anspruch zugrunde liegenden Feststellungen erstrecke; in einem solchen Falle habe das Berufungsgericht keinen Verfahrensfehler begangen, sondern einen außerhalb des Rechtsstreits liegenden Umstand falsch beurteilt. Ob dieser Rechtsauffassung beizutreten ist (vgl. BGHZ. 27, 249 [253]), braucht der Senat nicht zu entscheiden. Im vorliegenden Fall handelt es sich nicht um die - vom 4. Senat allein entschiedene - Frage, ob und in welcher Form ein Irrtum des Berufungsgerichts über die sachlichen Grenzen der Rechtskraft einer früheren Entscheidung zu rügen ist (§ 164 Abs. 2 SGG), sondern um die andere Frage, ob eine an einem solchen Mangel leidende Entscheidung nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG mit der Revision angefochten werden kann. Der Senat hat dies bejaht, ohne sich mit dem angeführten Urteil des 4. Senats, das im übrigen auf eine nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassene Revision ergangen ist, in Widerspruch zu setzen.

Die Revision des Klägers ist demnach statthaft und, da das angefochtene Urteil auf dem genannten Verfahrensmangel beruht, auch begründet. Da die Sache - mangels hinreichender Feststellungen des Berufungsgerichts zu den nach § 1254 RVO a.F. für die Beurteilung der Invalidität des Klägers maßgebenden Voraussetzungen - noch nicht zur Entscheidung reif ist, muß der Rechtsstreit nach § 170 Abs. 2 SGG unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung nach § 1254 RVO a.F. an das LSG. zurückverwiesen werden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 284

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