Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 20.04.1955)

SG Schleswig (Urteil vom 08.06.1954)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 20. April 1955 insoweit aufgehoben, als es die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen hat.

Das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 8. Juni 1954 wird insoweit aufgehoben, als die Klägerin zu 2) (Waise Irene Gosch) betrifft. Die Klage der Klägerin zu 2) wird abgewiesen.

Soweit der Rechtsstreit die Klägerin zu 1) (Witwe Karoline Gosch) betrifft, wird er zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

I

Im Jahre 1945 verstarb der Ehemann der Klägerin zu 1) (Karoline G.) und Vater der Klägerinnen zu 2) (Irene G.) und 5) (Ingrid G.) in der Kriegsgefangenschaft. Am 13. April 1953 beantragte die Klägerin zu 1) für die Klägerinnen zu 2) und 3) Waisenrente „nach dem Kriegsfristengesetz”. Durch Bescheid vom 18. September 1953 gewährte die Beklagte der Klägerin zu 3) mit Wirkung vom 1. Mai 1953 an die Waisenrente und lehnte gleichzeitig den für die Klägerin zu 2) gestellten Antrag mit der Begründung ab, daß sie über 18 Jahre alt sei.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin zu 1) für sich und die Klägerinnen zu 2) und 3) Berufung bei der Beklagten ein. Die Berufung ging mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vom Oberversicherungsamt (OVA.) Schleswig als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Schleswig über. Das SG. verurteilte am 8. Juni 1954 die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Bescheides, den drei Klägerinnen die Hinterbliebenenrente schon mit Wirkung vom 1. November 1945 zu gewähren. Die Berufung wurde zugelassen.

Gegen dieses Urteil legte die Beklagte beim Landessozialgericht (LSG.) Schleswig Berufung ein. Ihre Berufungsschrift beginnt mit dem Satz:

„In Sachen der Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein in Lübeck, Kronsforder Allee 2–6, Berufungsklägerin und Beklagten, gegen die am 8.7.1937 geborene Waise Ingrid G. gesetzlich vertreten durch ihre Mutter, Frau Karoline G. geb. V. wohnhaft in Halsenbeck Krs. Pinneberg, Berufungsbeklagte und Klägerin 9 legen wir gegen das Urteil des Sozialgerichts in Schleswig vom 8.6.1954 – Az.: 602 + 602 a J. 9/1953 – hier eingegangen am 23.6.1954 Berufung ein.”

Sie fährt fort mit dem Antrags

„unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Schleswig vom 8. Juni 1954 die Klage abzuweisen.”

Als Begründung führt sie an, die Hinterbliebenenrente könne nach § 2 Satz 1 des Kriegsfristengesetzes nur dann mit Ablauf des Sterbemonats des Versicherten beginnen, wenn der Antrag bis zum Ablauf des Kalenderjahres gestellt worden sei, der auf das Kalenderjahr folge, in dem die Hinterbliebenen die Todesnachricht erhalten hätten bzw. in dem die Todeserklärung rechtskräftig geworden sei. Biese Frist sei von der Klägerin zu 1) versäumt worden, da ihr die Sterbeurkunde bereits im Jahre 1947 zugestellt worden sei, während sie den Antrag erst im Jahre 1953 gestellt habe.

Die Klägerin zu 1) behauptete, eine frühere Antragstellung nur deshalb unterlassen zu haben, weil sie immer wieder falsch unterrichtet worden sei.

In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG. erklärte der Vertreter der Beklagten 9 daß sich die Berufung auf alle drei Klägerinnen beziehe.

Das LSG. hob das Urteil des SG. auf, soweit es die Klägerin Ingrid G. betrifft und wies die Klage dieser Klägerin ab. Im übrigen wurde die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen. Zur Verwerfung der Berufung führte das LSG. aus, die Berufung sei von der Beklagten ausdrücklich auf die Klägerin zu 3) beschränkt worden. Hinsichtlich der Klägerinnen zu 1) und 2) sei erst in der mündlichen Verhandlung vom 15. April 1955 – demnach verspätet – Berufung eingelegt worden.

Mit der vom LSG. zugelassenen Revision rügt die Beklagte, das LSG. habe zu Unrecht angenommen, daß die schriftliche Berufung sich auf die Klägerin zu 3) beschränkt habe und erst in der mündlichen Verhandlung auf die Klägerinnen zu 1) und 2) ausgedehnt worden sei. Sie hat beantragt, das Urteil des LSG. Schleswig vom 15. April 1955, soweit es die Klägerinnen zu 1) und 2) betrifft, aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. Schleswig zurückzuverweisen.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet; denn das LSG. hat die Berufung der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA.), soweit sie sich gegen die Klägerinnen Karoline und Irene G. richtet, zu Unrecht als unzulässig verworfene.

Das SG. hatte die beklagte LVA. unter Berufung auf § 2 Satz 3 des Kriegsfristengesetzes vom 13. November 1952 – KFG – (BGBl. I S. 737) verurteilt, den Klägerinnen Hinterbliebenenrenten schon mit Wirkung vom 1. November 1945 an zu gewähren. Dieses Urteil hat die beklagte LVA. in vollem Umfange angefochten, wie sich aus Antrag und Begründung der Berufungsschrift ergibt. Die Beklagte wendet sich darin gegen die Auslegung, die das SG. dem §2 Sätze 1 und 3 KFG gegeben hatte und die die Frage – des Beginns der Hinterbliebenenrenten der drei Klägerinnen in gleicher Weise betraf. Es ist kein Grund ersichtlich, der die Beklagte hätte veranlassen können, ihre Entscheidung gegenüber Ingrid G. unter einem anderen Gesichtspunkt als gegenüber Karoline und Ingrid G. zu treffen. Es wäre somit eine – für einen Versicherungsträger nicht zu rechtfertigende – Willkür gewesen, wenn die beklagte LVA, 9 von der Unrichtigkeit des sachlich-rechtlichen Standpunkts des LSG. überzeugt, sich darauf beschränkt hätte, das Urteil nur gegenüber Ingrid G. anzufechten. Unter diesen Umständen hätte es einer ausdrücklichen Einschränkung des Berufungsantrags bedurft, um die Berufung so eingeschränkt zu verstehen, wie sie das LSG. aufgefaßt hat. Das Gegenteil aber ist der Fall: Der Berufungsantrag – der „bestimmte Antrag” im Sinne des § 151 Abs. 3 SGG – lautet ohne Einschränkung auf Abweisung der Klage unter Aufhebung des angefochtenen Urteils. Damit erweist sich der Umstand, daß die Beklagte im Eingang ihrer Berufungsschrift, und zwar im Zusammenhang mit der Bezeichnung des angefochtenen Urteils 9 nur Ingrid G. als „Berufungsbeklagte und Klägerin” aufgeführt hat, als ein offenbares Versehen, das jedenfalls nicht zur Folge haben kann, den nach der Wortfassung und dem Gesamtinhalt der Berufungsschrift klaren Berufungsantrag einzuschränken. Wenn die beklagte LVA. in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht erklärt hat, ihre Berufung beziehe sich auf alle Klägerinnen, so hat sie damit hinsichtlich der Klägerinnen Karoline und Irene G. nicht erst Berufung eingelegt, sondern nur bestätigend zum Ausdruck gebracht, was sich schon aus ihrer Berufungsschrift ergab. Die Berufung der beklagten LVA. ist somit auch gegenüber den Klägerinnen Karoline und Irene G. zulässig; sie ist zu Unrecht als unzulässig verworfen worden. Das angefochtene Urteil muß insoweit aufgehoben worden.

Das Bundessozialgericht (BSG.) kann in der Sache selbst entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG), soweit es sich um die Klägerin Irene G. handelt. Die Abweisung der Klage ist aus dem gleichen Grund gerechtfertigt, der nach der zutreffenden Ansicht des LSG. die Abweisung der Klage der Klägerin Ingrid G. trägt. Nach der feststehenden Rechtsprechung des BSG. regelt § 2 Satz 3 KFG nur die Fälle, in denen Hinterbliebenenrenten vor Inkrafttreten des KFG – 16.11.1952 – bewilligt worden sind (vgl. BSG. Bd. 3 S 72, Bd. 4 S. 96, Bd. 5 S. 57, Bd. 5 S. 148 und Urt. v. 25.2.1958 – 3 RJ 22/55 –). Im vorliegenden Streitfall ist eine Waisenrente für Irene G. überhaupt noch nicht bewilligt worden. Demnach wird der Anspruch auf eine Waisenrente – beginnend mit dem Ablauf des Sterbemonats ihres Vaters und endend mit der Vollendung des 18. Lebensjahres – nicht durch § 2 Satz 3 KFG gestützt. § 2 Satz 1 KFG begründet nicht den Rentenanspruch der Irene G. weil die in dieser Vorschrift festgelegte Frist lange verstrichen war, als Karoline G. die Hinterbliebenenrente für Irene G. bei der beklagten LVA. beantragte. Schließlich kann sich die Klägerin Irene G. auch nicht darauf berufen, daß der Antrag auf Rentengewährung deshalb nicht gestellt worden ist, weil die Voraussetzungen für die Rentengewährung nach Eintritt des Versicherungsfalls weggefallen sind (§ 2 Satz 4 KFG). Auch wenn man annimmt, daß dem Wegfall der Voraussetzungen für die Rentengewährung der Fall des Ruhens einer Hinterbliebenenrente aus der Rentenversicherung – hier wegen Zusammentreffens mit einer höheren Rente nach der Sozialversicherungsdirektive Nr. 27 vom 2. Mai 1947 (vgl. Nr. 11 Abschn. II Buchst. a) – gleichzusetzen ist, käme § 2 Satz 4 KFG im vorliegenden Streitfall nicht zur Anwendung. Denn von einer hiernach gerechtfertigten Unterlassung des Rentenantrages kann jedenfalls nicht mehr gesprochen werden, wenn der Antrag erst nach dem 31. Dezember 1951 – wie hier geschehen – gestellt worden ist (vgl. BSG. V. 25.2.1958 – Az.: 3 RJ 22/55 –). Demnach hätte die Waisenrente für Irene G. auf den Antrag vom April 1953 hin erst am 1. Mai 1953 beginnen können (§ 1286 Abs. 1, 2. Halbs. der Reichsversicherungsordnung [RVO] a.F.). Da sie zu diesem Zeitpunkt bereits 19 Jahre alt war, hat die beklagte LVA. die Waisenrente für Irene G. zu Recht abgelehnt (§ 1258 Abs. 1 Satz 1 RVO a.F.).

Soweit der Rechtsstreit die Klägerin Karoline G. betrifft, ist die Klage noch nicht entscheidungsreif. Die am 25. Januar 1905 geborene Klägerin Karoline G. hat, soweit erkennbar, erstmals mit der an die beklagte LVA. gerichteten Berufungsschrift vom 13. Oktober 1953 Witwenrente beantragt. Dieser Antrag ist von der Beklagten ablehnend beschieden worden, wie sich auf ihrem Antrag auf Zurückweisung der „Berufung” in ihrem Schriftsatz vom 28. November 1953 ergibt. Die Klägerin zu 1) ist vor dem 1. Juni 1949 Witwe geworden, so daß für sie § 21 Abs. 5 Satz 2 SVAG in der Fassung des Art. I § 1 des Gesetzes über die Änderung des Dritten Gesetzes zur Änderung des SVAG vom 21. Januar 1956 (BGBl. I S. 16) – in Kraft getreten am 1. August 1955 (Art. II des genannten Gesetzes) – gilt. Da sie zur Zeit der Antragstellung bereits das 45. Lebensjahr vollendet hatte, findet § 3 Abs. 1 SVAG uneingeschränkt Anwendung, so daß sie jedenfalls Anspruch auf Witwenrente seit dem 1. August 1955 hat. Ob die Voraussetzungen für die Gewährung der Witwenrente nach § 1256 RVO a.F. für einen früher liegenden Zeitpunkt – frühestens jedoch 1. November 1953 (§ 1286 Abs. 1, 2. Halbs. RVO a.F.) – gegeben sind, ist vom LSG. noch nicht geprüft worden. Insoweit muß daher der Rechtsstreit an das LSG. zurückverwiesen werden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926590

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