Leitsatz (amtlich)

1. Ein bindend gewordener Bescheid über ein Versorgungsrechtsverhältnis wird nur insoweit rechtswidrig, als sich die Verhältnisse wesentlich geändert haben (BVG § 62 Abs 1). Allein in diesem Umfang können die Versorgungsbezüge neu festgestellt werden.

2. Dabei darf die Verwaltung die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht uneingeschränkt neu festsetzen, sondern muß den bindend gewordenen Bescheid berücksichtigen. Eine ursprünglich zu hoch festgesetzte Minderung der Erwerbsfähigkeit bleibt daher - bis sie förmlich (zB nach dem KOV-VfG) berichtigt worden ist -, weiter eine Grundlage für die Neufeststellung (Fortentwicklung BSG 1963-03-22 11 RV 844/62 = SozR Nr 21 zu § 62 BVG).

 

Normenkette

BVG § 62 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20; KOVVfG § 41 Fassung: 1960-06-27

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 9. März 1961 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger bezog wegen der Folgen einer Granatsplitterverletzung des linken Fußes auf Grund der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 (Bescheid vom 30. Juni 1949) Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v. H. Auf seinen Antrag, die Rente wegen Verschlimmerung der Schädigungsfolgen zu erhöhen, erteilte das Versorgungsamt (VersorgA), gestützt auf das Gutachten des Medizinalrats Dr. F, den Umanerkennungsbescheid vom 16. November 1951. Durch ihn sind als Schädigungsfolgen "Verlust sämtlicher Zehen des linken Fußes nebst den zugehörigen Mittelfußknochen und geringen Durchblutungsstörungen des Stumpfes geringe Bewegungseinschränkung des linken Fußgelenks, geringer Muskelschwund des linken Beines" anerkannt und Rente nach einer MdE um 40 v. H. gewährt worden. Ein weiterer Erhöhungsantrag vom Juli 1953 blieb nach Untersuchung durch den Vertrauensarzt Dr. K erfolglos.

Im September 1957 beantragte der Kläger erneut eine Erhöhung der Rente, weil der Fuß geeitert habe und er eine Ersatzkraft habe einstellen müssen. Gestützt auf das Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. G vom 13./27. November 1957 bezeichnete das VersorgA durch den Bescheid vom 28. November 1957 die Schädigungsfolgen als "Verlust des linken Vorfußes, geringe Durchblutungsstörung des Fußes und Bewegungseinschränkung im linken Fußgelenk" und führte aus, eine deutliche Verschlimmerung sei durch die geringere Beweglichkeit des oberen Sprunggelenks und durch die geschwürige Entartung der Narbe zwar festzustellen, dies berechtige aber nicht zu einer Erhöhung der bislang besonders gut bewerteten MdE, so daß sie weiterhin 40 v. H. betrage. Der Widerspruch blieb erfolglos.

Die Klage ist vom Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 26. November 1959 zurückgewiesen worden. Auf die Berufung, mit welcher der Kläger neben der Verschlimmerung der Schädigungsfolgen, insbesondere der vom VersorgA festgestellten geschwürigen Entartung der Narbe, eine besondere berufliche Beeinträchtigung geltend gemacht hatte, hat das Landessozialgericht (LSG) das Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. W vom 23. Februar 1961 mit der Ergänzung in der mündlichen Verhandlung vom 9. März 1961 eingeholt. Es hat durch Urteil vom 9. März 1961 die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Der Kläger sei durch die Schädigungsfolgen in seinem Beruf nicht besonders betroffen, weil sein Metzgergeschäft sich günstig entwickelt habe und jedenfalls nicht wegen der Schädigungsfolgen des Klägers zurückgegangen sei. Da die ärztlichen Sachverständigen übereinstimmend eine Änderung des Befundes gegenüber den für die letzte Rentenfestsetzung maßgebenden Verhältnissen, insbesondere durch den Narbenaufbruch, dargelegt hätten, seien die Voraussetzungen des § 62 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erfüllt. Nach dieser Vorschrift könne die Rente uneingeschränkt neu festgestellt werden; allein die neuen Verhältnisse seien ohne Rücksicht auf den Umfang der Änderung für die Höhe der Rente maßgebend. Der derzeitige Zustand des Klägers aber sei nach den ärztlichen Gutachten mit einer MdE um 40 v. H. zutreffend eingeschätzt worden.

Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des LSG Nordrhein-Westfalen vom 9. März 1961 und des Urteils des SG Düsseldorf vom 26. November 1959 sowie der Bescheide des Beklagten vom 3. Februar 1958 und 28. November 1957 den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger wegen Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen ab 1. September 1957 Rente nach einer MdE um 50 v. H. zu gewähren;

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung des § 62 Abs. 1 BVG.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist mithin statthaft. Das Rechtsmittel ist auch begründet.

Im zweiten Rechtszuge hatte der Kläger ein besonderes berufliches Betroffensein nach § 30 BVG geltend gemacht. Das LSG hat hierzu tatsächliche Feststellungen getroffen und hat sodann ausgeführt, daß die Rente nach dieser Vorschrift nicht erhöht werden könne. Der Kläger hat insoweit keine Revisionsrügen erhoben, so daß das Revisionsgericht allein darüber zu entscheiden hat, ob das Berufungsgericht die Vorschrift des § 62 Abs. 1 BVG richtig angewendet hat.

In der Zeit zwischen dem Erlaß der Verwaltungsbescheide und der angefochtenen Entscheidung ist diese Vorschrift durch das Erste Neuordnungsgesetz geändert worden. Das LSG hat seiner Entscheidung die Vorschrift des § 62 Abs. 1 BVG in der alten Fassung zugrunde gelegt, welche gegolten hat, als die Versorgungsverwaltung den maßgebenden Bescheid vom 28. November 1957 und den Widerspruchsbescheid erlassen hat. Dies ist frei von Rechtsirrtum. Der Kläger hat zwar gegen diese Bescheide eine verbundene Anfechtungs- und Leistungsklage erhoben. Er verfolgt aber mit ihr keinen neuen sachlich-rechtlichen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen - etwa auf Gewährung einer besonderen Versorgungsleistung -, sondern nur eine anderweitige Gestaltung seines bereits festgestellten Versorgungsanspruchs hinsichtlich der Rentenhöhe. Der Fall ist also anders gelagert als die Fälle, welche den Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. Mai 1956 (BSG 3, 95 ff, 103), 15. August 1958 (BSG 8, 81 ff, 83) und 21. November 1958 (BSG 8, 256 ff, 259) zugrunde gelegen haben. Auch hat vorliegend die Rechtsänderung dem Revisionsgericht die Nachprüfung des anzuwendenden Rechts nicht etwa erst ermöglicht (BSG 2, 188 ff, 192). Infolgedessen kommt es nur auf den zeitlichen Geltungswillen der Vorschrift des § 62 Abs. 1 BVG nF an (vgl. BSG 5, 238 ff, 241 a. E. - 242). Die neue Vorschrift ist mit Wirkung vom 1. Juni 1960 in Kraft getreten (Art. IV § 4 des Ersten Neuordnungsgesetzes). Da hier nur die Rechtsmäßigkeit des Bescheides vom 28. November 1957 in der Fassung des Widerspruchsbescheides nachzuprüfen ist und die Rechtsänderung die Gestaltung des Versorgungsrechtsverhältnisses durch diesen Verwaltungsakt nicht berührt hat, haben die Vorinstanzen zu Recht den § 62 Abs. 1 BVG in der alten Fassung angewandt.

Nach § 62 Abs. 1 BVG aF wurden die Versorgungsbezüge neu festgestellt, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung maßgebend gewesen waren, eine wesentliche Änderung eintrat. Das LSG hat hier, gestützt auf die ärztlichen Gutachten, insbesondere der Sachverständigen Dres. G und W, eine wesentliche Änderung der Verhältnisse durch eine Zunahme der Bewegungseinschränkung des linken Fußes und durch entzündliche Veränderungen an den Narben festgestellt. Diese tatsächliche Feststellung bindet das Revisionsgericht.

Die Ansicht des Berufungsgerichts, daß die Versorgungsbezüge bei der Neufeststellung wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse uneingeschränkt neu zu regeln seien, ist nicht frei von Rechtsirrtum. Denn § 62 Abs. 1 BVG aF gestattet, von der bindenden Wirkung unanfechtbar gewordener Bescheide (§ 77 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, § 24 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - VerwVG -) abzugehen. Dies ist deshalb berechtigt, weil die Verwaltung das Versorgungsrechtsverhältnis auf Grund der tatsächlichen Verhältnisse regelt, die zur Zeit des Erlasses des Verwaltungsakts vorliegen. Ändern sich später diese Verhältnisse, so stimmt die Regelung durch den ursprünglichen Bescheid mit der wirklichen Sachlage insoweit nicht mehr überein, als die Änderung andere Verhältnisse herbeigeführt hat. Nur in diesem Umfange ist der ursprüngliche, bindend gewordene Bescheid rechtswidrig geworden und muß zurückgenommen werden. Da die bindende Wirkung von Bescheiden nur ausnahmsweise angetastet werden darf, muß sich die wegen der Änderung der Verhältnisse erforderliche Neufeststellung des Versorgungsrechtsverhältnisses in den engsten Grenzen halten und hat die frühere Regelung insoweit bestehen zu lassen, als sich die Verhältnisse nicht geändert haben. Deshalb darf die Versorgungsverwaltung den Versorgungsanspruch nicht uneingeschränkt neu regeln, sondern nur insoweit, als die neue, auf der Änderung der Verhältnisse beruhende Sachelage eine andere rechtliche Beurteilung rechtfertigt. Sie muß aber im übrigen die "Bestandskraft" des Bescheides, soweit sie auf unverändert gebliebenen Anspruchsgrundlagen beruht, uneingeschränkt erhalten. Auf Grund der Ermächtigung des § 62 BVG aF, den Versorgungsanspruch bei Änderung der Verhältnisse neu zu regeln, ist die Versorgungsbehörde demnach lediglich befugt, ihre frühere Gestaltung des Versorgungsanspruchs nur den veränderten Verhältnissen anzupassen, nicht aber den früheren Verwaltungsakt im ganzen zu beseitigen und durch einen neuen zu ersetzen (vgl. auch BSG 13, 230 ff, 231; ferner BSG in SozR BVG § 30 Bl. Ca 10 Nr. 13 und Urteil des BSG vom 22. März 1963 - 11 RV 844/62 --).

Der gegenteiligen Auffassung, die u. a. von van Nuis/Vorberg (Das Recht der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen, VI. Teil, D VI 1 b S. 54) vertreten wird, kann nicht gefolgt werden. Sie läßt sich entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts auch nicht auf die Rechtsprechung des Reichsversorgungsgerichts (RVG) zu § 57 RVG, der mit § 62 Abs. 1 BVG aF übereinstimmt, stützen, weil diese nicht einheitlich gewesen ist. Gelegentlich (vgl. RVG Bd. 5 S. 24 ff, 31) hat das RVG die Auffassung vertreten, nach § 57 Abs. 1 RVG sei die Rente, wenn überhaupt eine Änderung festgestellt werde, neu, d. h. ohne Rücksicht auf das Maß der Besserung, festzustellen. Es hat aber an anderer Stelle (RVG 5, 36 ff, 37; 13, 51 ff, 54) - im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts - RVA - (Rekurs-E 1973, AN 1903, 197 ff, 198; vgl. auch Handbuch der Unfallversicherung, 3. Aufl. Bd. I S. 522 Anm. 2 zu § 88 GUVG) - ausgeführt, bei der Neufeststellung sei nicht der ganze Streitstoff aufzurollen und alles wieder in Frage zu stellen, was durch die frühere rechtskräftige Feststellung als für den Entschädigungsanspruch maßgebend anerkannt worden sei; die frühere Feststellung dürfe vielmehr nur in derjenigen Richtung abgeändert werden, in der sich die tatsächlichen Verhältnisse geändert hätten; abgesehen hiervon sei der Streitstoff ein für allemal rechtskräftig erledigt. Der Senat hält - wie bereits dargelegt - diese letztere Rechtsauffassung des RVG für zutreffend.

Wollte man die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Rentenfestsetzung auch insoweit nachprüfen, als sich die Verhältnisse nicht geändert haben, würde man über den bindenden Bescheid hinweggehen und eine echte Berichtigung vornehmen. Diese ist aber ausschließlich unter den Voraussetzungen der §§ 40 und 41 VerwVG möglich. Hinzu kommt, daß das Verwaltungsverfahren für diese echte Berichtigung durch die notwendige Mitwirkung der übergeordneten Verwaltungsbehörde (§§ 40 Abs. 1 Satz 2, 41 Abs. 2 VerwVG) anders geregelt ist als die Neufeststellung nach § 62 Abs. 1 BVG. Auch hieraus folgt, daß bei einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse zwischen den Teilen des ursprünglichen, bindend gewordenen Verwaltungsakts, die nachträglich rechtswidrig geworden sind, und denen unterschieden werden muß, die von vornherein rechtswidrig waren. Dieser Auffassung stehen die vom LSG herangezogenen Entscheidungen des 10. Senats vom 24. Mai und 24. August 1960 (10 RV 294/56 und 10 RV 333/56) nicht entgegen.

Bei der Neufeststellung des Versorgungsrechtsverhältnisses wegen einer Änderung der Verhältnisse ist also von dem ursprünglichen, bindend gewordenen Bescheid auszugehen, und zwar nicht nur hinsichtlich der Schädigungsfolgen, sondern auch hinsichtlich der Höhe der MdE. Um die nunmehr maßgebende MdE zu ermitteln, ist die unveränderte, bisher anerkannt zu Grunde zu legen und zu prüfen, inwieweit sich die gesamten Schädigungsfolgen - einschließlich der durch die wesentliche Änderung nunmehr hinzugekommenen oder weggefallenen - auf die Funktionstüchtigkeit des Körpers und die gesamte Erwerbsfähigkeit auswirken. Ist dabei eine Schädigungsfolge ursprünglich zu Unrecht anerkannt gewesen, so muß sie bei einer Neufeststellung nach § 62 Abs. 1 BVG aF nach wie vor einschließlich der durch sie verursachter Beeinträchtigungen der Funktionstüchtigkeit berücksichtigt werden, bis ihre Anerkennung durch einen Berichtigungsbescheid gemäß §§ 40, 41 VerwVG beseitigt worden ist. Dies gilt gleichfalls für eine ursprünglich etwa zu hoch festgestellte MdE; auch sie muß weiter als Grundlage für die neu zu ermittelnde MdE dienen, bis sie förmlich berichtigt worden ist.

Das LSG hat ausgeführt, daß im vorliegenden Fall die MdE früher besonders gut bewertet worden sei. Es hat aber nicht festgestellt, ob und inwieweit die Erwerbsfähigkeit - die frühere Einschätzung der MdE als richtig unterstellt - durch die festgestellte wesentliche Änderung der Verhältnisse zusätzlich beeinträchtigt wird. Insoweit fehlten ihm auch hinreichende ärztliche Unterlagen, weil der Sachverständige Dr. W, auf den es sich in erster Linie gestützt hat, nur die gesamte derzeitige MdE, die Auswirkungen der von ihm dargelegten Verschlimmerung auf die Erwerbsfähigkeit aber nicht gesondert angegeben hat. Da das LSG eine Ergänzung des ärztlichen Gutachtens nicht veranlaßt und Feststellungen in dieser Hinsicht nicht getroffen hat, beruht das angefochtene Urteil auf der unrichtigen Anwendung des § 62 Abs. 1 BVG aF und war aufzuheben. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt von dem Ergebnis weiterer Ermittlungen ab, deren Vornahme dem Senat verwehrt ist. Deshalb war die Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 77

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