Leitsatz (amtlich)

Die Rente auf Zeit kann unter den Voraussetzungen des RVO § 1286 Abs 1 jedenfalls dann entzogen werden, wenn nicht ohne weiteres vorauszusehen war, daß sich die Verhältnisse des Versicherten früher als erwartet bessern würden.

 

Normenkette

RVO § 1276 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1286 S. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1276 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 11. August 1964 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Zu klären ist, ob eine Rente auf Zeit, noch bevor sie zu dem festgelegten Termin selbsttätig wegfällt (§ 1276 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), wegen Änderung der Verhältnisse (§ 1286 Abs. 1 RVO) entzogen werden kann.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 22. März 1962 die Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Zeit. Diese Rente sollte mit Ablauf des Monats März 1963 wieder wegfallen. Noch vorher erfuhr die Beklagte anläßlich einer Nachuntersuchung, daß der Kläger, früher als angenommen, eine Beschäftigung wieder hatte aufnehmen können. Deshalb entzog sie ihm die Rente zu Ende September 1962 (Bescheid vom 13. August 1962).

Der hiergegen erhobenen Klage hat das Sozialgericht (SG) stattgegeben (Urteil vom 8. Januar 1964). Es hat die Entziehung einer Zeitrente schlechthin für unzulässig gehalten. Das Landessozialgericht (LSG) hat die entgegengesetzte Meinung vertreten, das Urteil des SG aufgehoben und den Rechtsstreit an das erstinstanzliche Gericht zurückverwiesen (Urteil vom 11. August 1964). Daß dem Versicherungsträger die Entziehung einer Zeitrente verwehrt sein sollte, hat das Berufungsgericht dem Gesetz nicht entnommen, auch nicht - was der Auffassung des Klägers entspräche - dem Absatz 2 des § 1276 RVO. Diese Vorschrift behandele, so hat es ausgeführt, nur den Wegfall der Zeitrente zum vorausbestimmten Termin, schließe damit aber die Befugnis zum vorherigen Rentenentzug nicht aus. Die Bindungswirkung, die aus der Bewilligung einer Rente folge, könne im Falle der Zeitrente nicht weitergehen als bei der Dauerrente. - Zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz entschloß sich das Berufungsgericht in entsprechender Anwendung des § 159 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), weil der Sachverhalt erst noch in größerem Umfange der Aufklärung bedürfe. Im übrigen hielt sich das Berufungsgericht auch gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 3 SGG zur Zurückverweisung für ermächtigt, weil das SG sich noch nicht mit einer erst im Berufungsverfahren bekanntgewordenen Tatsache habe beschäftigen können. Erst in der zweiten Instanz habe sich ergeben, daß die Tätigkeit, die der Kläger seit November 1963 ausübte, ihrer Art nach nicht ohne weiteres den Schluß auf eine Wiederherstellung seiner vollen Leistungskraft rechtfertigte.

Das LSG hat die Revision zugelassen. Der Kläger hat das Rechtsmittel eingelegt mit dem Antrag, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen. Er wendet sich gegen die Erwägungen des Berufungsgerichts einmal deshalb, weil im Gesetz allein der Wegfall der Rente nach Ablauf des bestimmten Zeitraumes geregelt sei (§ 1276 RVO Abs. 2), und zum anderen, weil eine Zeitrente nicht mit einer Dauerrente verglichen werden könne. Der Rentenempfänger habe sich auf eine bestimmte Dauer des Rentenbezugs eingerichtet und müsse in diesem Vertrauen geschützt werden. Der Kläger rügt ferner einen Verstoß gegen § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Die Beklagte war befugt, wegen Änderung der Verhältnisse die auf Zeit gewährte Rente vor dem Ende der ursprünglich bestimmten Laufzeit zu entziehen.

Dieses Ergebnis folgt aus § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO. Danach ist eine wegen Berufsunfähigkeit gewährte Rente zu entziehen, wenn der Empfänger infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig ist. Diese Vorschrift gilt ohne Einschränkung für jede wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit bezogene Rente und damit auch für Renten auf Zeit. § 1276 RVO, der von diesen Renten handelt, schließt die Möglichkeit der Entziehung nicht aus, sondern läßt sie unberührt.

In Absatz 2 Satz 1 dieser Vorschrift ist ausdrücklich nur der Wegfall der Rente mit Ablauf des im Rentenfeststellungsbescheid bestimmten Zeitraumes geregelt. Diese Regelung war angebracht, weil sie gegenüber den sonstigen Fällen, in denen die Rente ohne Einwirkung des Versicherungsträgers endet (§§ 1291 Abs. 1, 1292 bis 1294 RVO), Besonderheiten aufweist. Diese Besonderheiten können sich daraus ergeben, daß zwar die Voraussetzungen der zunächst zuerkannten Zeitrente nicht mehr gegeben sind, zugleich aber nicht jede Rentenberechtigung aufgehört hat. So wird z. B. in § 1276 Abs. 2 Satz 2 RVO der Fall der "Rückwandlung" einer wegfallenden Zeitrente wegen Erwerbsunfähigkeit in eine Rente wegen Berufsunfähigkeit geregelt. Die Sätze 2 und 3 in § 1276 Abs. 2 RVO haben für den Fall der Rentenentziehung ihre Parallelen in § 1286 Abs. 1 Sätze 2 und 3 RVO; sie ergänzen diese Gesetzesbestimmungen, sind aber neben diesen nicht überflüssig. Dagegen wäre es unnötig, wenn in § 1276 RVO die Möglichkeit und die Rechtsfolgen der Entziehung für die Zeitrenten wiederholt wären.

Es ist nicht zu erkennen, daß § 1276 RVO das Ende der Renten auf Zeit erschöpfend ordnet. Der Wortlaut kann sogar für die Annahme des Gegenteils dienen; in Absatz 2 Satz 1 heißt es nämlich, der Rentenbezug höre im vorherbestimmten Zeitpunkt auf, "ohne daß es eines Entziehungsbescheides" bedürfe. Diese Formulierung läßt darauf schließen, daß anderenfalls - nämlich zur Entziehung - ein Bescheid ergehen muß. Man wird also nicht einmal sagen können, der Gesetzgeber habe im Zusammenhang mit der Zeitrente die Möglichkeit der Entziehung nicht ins Auge gefaßt. Die Annahme, daß er diese Rechtsfolge nicht gewollt habe, erscheint nicht gerechtfertigt.

Für eine Sonderbehandlung der Renten auf Zeit läßt sich aus der systematischen Stellung des § 1276 RVO im Gesetz nichts gewinnen. Diese Vorschrift steht in demjenigen Teil des Gesetzes, der nach seiner Überschrift die "gemeinsamen Vorschriften für Renten an Versicherte und für Renten an Hinterbliebene" enthält, der also eine Leistungsnorm völlig eigener Art, und zwar ohne Verstrebungen mit den allgemeinen Vorschriften nicht vermuten läßt. Wohl sollte die vom Gesetz vorgesehene Befristung des Rentenbezugs die Verwaltungsarbeit erleichtern und vereinfachen. Der Gesetzgeber erwartet anscheinend nicht, daß das Recht auf den Bezug der Zeitrente nach ihrer Bewilligung laufend überprüft wird. Eine solche Überwachung ist auch häufig überflüssig und wegen der relativ kurzen Laufzeit dieser Renten im allgemeinen nicht wirksam durchzuführen. Wenn deshalb der Versicherungsträger Zeitrenten auch nicht zu überprüfen braucht, so muß ihm aber doch nicht die Entziehung untersagt sein, sofern er erfährt, daß der Versicherte früher als vorgesehen wieder erwerbsfähig wurde.

Eine andere Lösung wäre nicht sachgemäß. Es ist zu bedenken, daß der Versicherungsträger die Bezugdauer der Rente nach der Vorhersage eines Arztes über den wahrscheinlichen Verlauf einer Erkrankung bemißt. Vielfach wird wegen der individuellen Umstände oder nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft eine Genesung zwar für die nächsten zwei Jahre vorauszusagen, aber zeitlich nicht genauer zu fixieren sein. In diesen Fällen besteht ein Bedürfnis für den Entzug der Rente. Dem könnte der Versicherungsträger vielleicht durch einen entsprechenden Entziehungsvorbehalt im Bewilligungsbescheid Rechnung tragen. Aber der Leistungsstand des Versicherten kann sich auch bessern, wenn dies nach den Besonderheiten des Falles oder nach den Erfahrungen der Mediziner nicht von vornherein zu übersehen war. Mit jeder Prognose ist (stets) eine - mehr oder weniger große - Ungewißheit in der Beurteilung verbunden. Deshalb ist ohne konkreten Anhalt für einen gegenteiligen Gesetzeswillen davon auszugehen, daß das Rentenrechtsverhältnis nachträglich der wahren Sach- und Rechtslage soll angepaßt werden können. Das hat sicher zu gelten, wenn die künftige Veränderung nicht schon bei der Rentenbewilligung verläßlich vorauszusehen war. Allenfalls dann, wenn der Versicherungsträger dies ausnahmsweise vermochte, könnte die bindende Wirkung der zeitlich bemessenen Rentenzusage einer Entziehung entgegenstehen. Daß ein solcher Sachverhalt hier vorgelegen hätte, ist jedoch nicht behauptet worden oder zu erkennen. Die Bewilligung einer Rente auf Zeit bietet ebenso wie die Feststellung einer Rente von unbestimmter Dauer keine Gewähr gegen die Entziehung.

Bei anderer Rechtsauffassung würde der Zweck, der mit dem Institut der Zeitrente verfolgt wird, nicht erreicht. Der Gesetzgeber ließ sich von der Vorstellung leiten, die Rente solle "nur für eine bestimmte Zeit" gewährt werden und deshalb zu dem angegebenen Endtermin ohne weitere Ankündigung wieder wegfallen, damit in ihrem Bezieher das Bewußtsein wachgehalten werde, "daß er noch nicht zu dem Kreis der eigentlichen Rentner" gehöre (Begründung zu § 1280 des Reg. Entw. - Bundestagsdrucks. 2437/II). Diese Zielsetzung erheischt in besonderem Maße die Berücksichtigung veränderter Verhältnisse. Mit ihr vertrüge es sich nicht, wenn man der Zeitrente eine stärkere Bestandskraft beimäße als der Rente wegen dauernden Verlustes der Erwerbsfähigkeit.

Sonach ist der Verwaltungsakt, mit dem die Beklagte die Entziehung der Rente anordnete, nicht zu beanstanden. Es war nicht erforderlich, daß sich der Versicherungsträger das Recht zu dieser Maßnahme schon bei der Rentenbewilligung vorbehalten hatte, wenn auch ein solcher Vorbehalt um der Klarheit willen erwünscht erscheint.

Schließlich ist nichts daran auszusetzen, daß das Berufungsgericht nicht selbst in der Sache abschließend entschieden, sondern den Rechtsstreit an das SG zurückverwiesen hat. Ob den Erwägungen, die das LSG in dieser Beziehung zur erweiternden Auslegung des § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG angestellt hat, zuzustimmen ist, kann offen bleiben. Der Tatbestand des § 159 Abs. 1 Nr. 3 SGG, nämlich daß nach dem Erlaß des angefochtenen Urteils neue entscheidungserhebliche Tatsachen und Beweismittel bekanntgeworden sind, ist erfüllt. Die Zurückverweisung ist aus diesem Grunde vertretbar.

Die Revision ist mit der auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG beruhenden Kostenentscheidung zurückzuweisen.

 

Fundstellen

BSGE, 133

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