Leitsatz (redaktionell)

1. Haftzeit im alliierten Gefängnis ist keine Ersatzzeit.

2. Eine erweiternde Auslegung der gesetzlichen Ersatzzeiten - Regelung scheitert schon daran, daß im Gesetz ganz konkrete Tatbestände aufgestellt sind und es an der Festlegung eines allgemein verbindlichen Grundgedankens für die Berücksichtigung ähnlicher Zeiten als Ersatzzeiten fehlt.

 

Orientierungssatz

Eine Zeit der Internierung durch die französische Besatzungsmacht innerhalb des Bundesgebietes ist nicht als Ersatzzeit anrechenbar.

 

Normenkette

RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. Februar 1967 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten über die Anrechnung einer Ersatzzeit bei der Festsetzung des Altersruhegeldes des Klägers.

Der im April 1898 geborene Kläger, der zunächst Beiträge zur Arbeiterrentenversicherung (ArV) entrichtet hat, machte sich im Jahre 1938 selbständig; er hat seitdem freiwillige Beiträge zur Angestelltenversicherung (AnV) geleistet. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) war er im zweiten Weltkrieg nicht zum Militärdienst einberufen worden, weil sein Betrieb (Schraubenfabrik) für die Kriegswirtschaft arbeitete. Nach Kriegsende befand sich der Kläger auf Anordnung der französischen Besatzungsmacht vom 29. April 1945 bis 8. Juni 1948 in L, L und F in Haft. Ihm war zur Last gelegt worden, Anfang 1944 französische Arbeiter bei der Gestapo angezeigt und für einen von ihnen eine Gefängnisstrafe verlangt zu haben, ferner Kriegsgefangene zu Aufräumungsarbeiten im Bahnhof H gezwungen zu haben, obwohl für diese Todesgefahr wegen kurz zuvor niedergegangener Zeitzünderbomben und ständiger Tieffliegerangriffe bestanden habe. Der Kläger wurde deshalb durch Urteil des französischen Tribunals Intermediaire in F vom 8. Juni 1948 wegen Schlechtbehandlung von Ausländern zu einer Gefängnisstrafe von 18 Monaten, gerechnet ab 1. Mai 1945, verurteilt und am Tage der Urteilsfällung in Freiheit gesetzt. Im Entnazifizierungsverfahren wurde er in zweiter Instanz als Mitläufer mit einer Geldbuße von 500.- DM bestraft. Dieser Betrag wurde später durch Gnadenerweis auf 100.- DM ermäßigt.

Während der erwähnten Zeit seiner Inhaftierung hat der Kläger insgesamt 24 freiwillige Beiträge verschiedener Klassen zur AnV entrichtet. Die Beklagte gewährte ihm antragsgemäß vom 1. April 1963 an Altersruhegeld (Bescheid vom 14. August 1963). Dabei hat sie seine Inhaftierungszeit vom 29. April 1945 bis 8. Juni 1948 nicht als Ersatzzeit angerechnet. Der Kläger meint, diese Zeit müsse, da er zu Unrecht inhaftiert gewesen sei, als Ersatzzeit angerechnet werden, auch wenn er nicht Heimkehrer im Sinne des Heimkehrergesetzes (HkG) sei.

Die Klage und die Berufung des Klägers waren erfolglos. Das LSG sah - ebenso wie das Sozialgericht (SG) - keinen der in § 28 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aufgeführten Tatbestände als erfüllt an. Da es sich insoweit um Ausnahmebestimmungen handele, sei eine ausdehnende Auslegung nicht möglich. Selbst wenn man die Haftzeit des Klägers als Internierung ansehen wolle, scheitere die Anwendung von § 28 Abs. 1 Nr. 2 AVG daran, daß er nicht außerhalb des Bundesgebiets und des Landes Berlin inhaftiert gewesen sei. Wenn schon Zeiten einer deutschen unschuldig erlittenen Untersuchungshaft nicht als Ersatzzeit anzurechnen seien, habe für den Gesetzgeber umso weniger Anlaß bestanden, bei einer vom Gericht einer Besatzungsmacht verhängten Freiheitsstrafe anders zu verfahren. Die Gesetzesregelung verstoße auch nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung (Urteil vom 14. Februar 1967).

Mit der vom LSG zugelassenen frist- und formgerecht eingelegten Revision beantragt der Kläger,

die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, seine Haftzeit vom 29. April 1945 bis 8. Juni 1948 als Ersatzzeit und die in dieser Zeit entrichteten 24 freiwilligen Beiträge als solche der Höherversicherung anzurechnen.

Er rügt eine Verletzung von § 28 Abs. 1 AVG. Bei dem zu beurteilenden Tatbestand handele es sich um einen Ausnahmefall, an den der Gesetzgeber nicht gedacht habe. Bei einer sinngemäßen Auslegung des § 28 Abs. 1 AVG müsse auch ihm, dem Kläger, die Haftzeit als Ersatzzeit angerechnet werden. Wenn bei einem Beamten jene Haftzeit für die Berechnung des Ruhegehalts berücksichtigt werde, verstoße es gegen den Gleichheitsgrundsatz, wenn beim Kläger eine Anrechnung abgelehnt werde.

Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision; sie beruft sich auf die nach ihrer Meinung zutreffende Begründung des angefochtenen Urteils.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.

Wenn die Zeit der Inhaftierung des Klägers durch die französische Besatzungsmacht (29. April 1945 bis 8. Juni 1948) als Ersatzzeit anrechenbar wäre, so müßten die während dieser Zeit für von ihm entrichteten 24 freiwilligen Beiträge nach Art. 2 § 15 Abs. 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) als Beiträge der Höherversicherung angerechnet werden. Die genannte Zeit kommt jedoch für eine Berücksichtigung als Ersatzzeit nicht in Betracht.

Das Berufungsgericht hat eingehend geprüft, ob bei dem Kläger einer der in § 28 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 AVG aufgeführten Tatbestände erfüllt ist. Es ist ohne Rechtsirrtum zu dem Ergebnis gelangt, daß sich der zu beurteilende Sachverhalt nicht unter die im Gesetz getroffene Regelung einordnen läßt, weil der Kläger nicht Heimkehrer im Sinne des § 1 HkG ist (§ 28 Abs. 1 Nr. 2 AVG) und weil er auch keine der sonstigen in § 28 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 AVG genannten Voraussetzungen erfüllt. Eine erweiternde Auslegung der gesetzlichen Regelung, wie sie der Kläger für angebracht hält, scheitert schon daran, daß - wie das LSG zutreffend ausgeführt hat - im Gesetz ganz konkrete Tatbestände aufgestellt sind und es an der Festlegung eines allgemein verbindlichen Grundgedankens für die Berücksichtigung ähnlicher Zeiten als Ersatzzeiten fehlt. Für die Meinung der Revision, der Gesetzgeber habe Personen wie den Kläger nur versehentlich nicht in die Regelung des § 28 Abs. 1 AVG einbezogen, weil es sich dabei um seltene Ausnahmefälle handle, findet sich in der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift kein Anhaltspunkt (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung 1967 Bd. III, 667 b). § 28 Abs. 1 Nr. 2 AVG verweist auf § 1 HkG; die dort aufgeführten einzelnen Tatbestände, nach denen ein Versicherter als Heimkehrer anzusehen ist, sind aber so klar voneinander abgegrenzt und bilden zusammen mit § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG und den übrigen in § 28 AVG genannten Vorschriften des Bundesentschädigungsgesetzes, des Häftlingshilfegesetzes, des Bundesvertriebenengesetzes und des Bundesversorgungsgesetzes eine so umfassende Regelung, daß für eine sinngemäße Ausdehnung auf einen Tatbestand, wie er beim Kläger vorliegt, kein Raum ist. Der Senat verkennt nicht, daß die generelle Nicht-Berücksichtigung der innerhalb des Bundesgebiets und des Landes Berlin erfolgten Inhaftierungen in Einzelfällen mit Härten verbunden sein kann; das aber ist die unausbleibliche Folge jeder pauschalierenden Regelung. Jedenfalls ist darin ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung (Art. 3 des Grundgesetzes - GG -) nicht zu erkennen, und zwar schon deswegen nicht, weil es sich bei den Internierungen innerhalb und außerhalb des Bundesgebiets und des Landes Berlin um verschiedenartige Sachverhalte handelt, die verschieden zu regeln dem Gesetzgeber unbenommen war (vgl. BSG 14, 97, 98). Eine im Wege der Analogie ausfüllbare Gesetzeslücke liegt demnach nicht vor.

Aber auch für eine gesetzesändernde Auslegung fehlen die Voraussetzungen; sie wäre allenfalls dann berechtigt, wenn insbesondere durch das Verhalten des Gesetzgebers selbst erkennbar wäre, daß die Nicht-Berücksichtigung der im Geltungsbereich der oben genannten Gesetze erfolgten Verhaftungen auf einer überholten Rechtsauffassung beruht. Von einer solchen Wandlung der Rechtsanschauung kann aber nicht die Rede sein. Bei der Neuordnung des Rentenrechts wäre Gelegenheit gewesen, auch Zeiten der Internierung in seinem Geltungsbereich als Ersatzzeit anzuerkennen. Der Gesetzgeber hat aber hiervon abgesehen und auch im Rahmen der Neuregelung bestimmt, daß eine Internierung nur dann zu berücksichtigen ist, wenn sie zur Anerkennung des Betroffenen als Heimkehrer führen kann (§ 28 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 1 Abs. 3 HkG). Auch keine der zu § 1 Abs. 1 und 3 HkG ergangenen Verwaltungsvorschriften läßt eine Wandlung der Rechtsanschauung im Sinne der klägerischen Auffassung erkennen. Die gesetzliche Regelung ist auch weder offensichtlich sinnwidrig noch steht sie in unerträglichem Widerspruch zu den Forderungen der Gerechtigkeit. Daran ändert auch nichts, daß bei einem Beamten unter Umständen jene Haftzeit für die Berechnung des Ruhegehalts berücksichtigt werden könnte. Denn eine solche Möglichkeit beruht vorwiegend darauf, daß es sich bei der Beamtenversorgung und der gesetzlichen Rentenversicherung um zwei völlig verschiedene Versorgungssysteme handelt.

Das LSG hat demnach zutreffend die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil zurückgewiesen. Der Revision des Klägers muß deshalb ein Erfolg versagt bleiben (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324535

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