Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 23.05.1986)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 23. Mai 1986 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

In einem an die Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit anschließenden Rechtsstreit verurteilte das Sozialgericht (SG) die Beklagte am 10. Januar 1980, dem Kläger ab 26. Oktober 1976 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos; während des Berufungsverfahrens war die Vollstreckung aus dem Urteil des SG ausgesetzt. Im Revisionsverfahren wurde der Antrag auf einstweilige Aussetzung der Vollstreckung abgelehnt. Daraufhin zahlte die Beklagte dem Kläger ab 10. Januar 1980 die mit Bescheid vom 18. Juni 1982 berechnete sogenannte Urteilsrente und wies dabei darauf hin, daß sie diese Leistungen zurückfordern werde, wenn das Urteil des SG aufgehoben werde. Nach Aufhebung des Urteils des SG durch Urteil des erkennenden Senats vom 19. April 1983 (5b RJ 74/81) hob die Beklagte durch Bescheid vom 12. September 1983 ihren Ausführungsbescheid gemäß § 45 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10) auf und forderte vom Kläger die für die Zeit vom 10. Januar 1980 bis zum 30. September 1983 zu Unrecht erbrachten Leistungen gemäß § 50 SGB 10 zurück. Auf den Widerspruch des Klägers reduzierte die Beklagte ihre Rückforderung auf 43.313,60 DM und räumte dem Kläger unter Berücksichtigung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse monatliche Ratenzahlungen von 200,– DM ein. Widerspruch, Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung seines Urteils auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Rückforderung des aufgrund eines nicht rechtskräftigen Urteils Geleisteten verwiesen und festgestellt, nach den Angaben des Klägers gegenüber der Beklagten werde sein Lebensführungsniveau durch die ratenweise Erstattung der Urteilsrente in Höhe von 200,– DM monatlich nicht unter den Satz der Sozialhilfe gedrückt.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzungen der §§ 45 Abs 4 und 50 Abs 2 SGB 10 iVm § 42 Abs 3 Nr 3 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 1) sowie des § 103 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Er macht geltend, entgegen der vom LSG zitierten Rechtsprechung des BSG richte sich die Rückforderung einer sogenannten Urteilsrente nicht nach § 50 SGB 10. Es handelte sich vielmehr um die vorläufige Vollstreckung des SG-Urteils, die im SGG nicht gesondert geregelt und deshalb nach § 198 SGG iVm § 717 Abs 3 Satz 3 der Zivilprozeßordnung (ZPO) zu beurteilen sei. Selbst bei Anwendung des § 50 SGB 10 müsse die Beklagte aber gemäß § 42 Abs 3 Nr 3 SGB 1 auch im Bereich über dem Satz der Sozialhilfe noch Rücksicht auf besondere Härten beim Betroffenen nehmen. Hierzu seien die Feststellungen des LSG nicht ausreichend.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 23. Mai 1986 und des Sozialgerichts Duisburg vom 25. Oktober 1984 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12. September 1983 idF des Widerspruchsbescheides vom 23. August 1984 aufzuheben; hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen, weil die Verfahrensrüge nicht durchgreift und die Rückforderung der dem Kläger gezahlten Urteilsrente rechtmäßig ist.

Wie das BSG bereits im Urteil vom 15. August 1967 – 10 RV 927/65 – (BSGE 27, 102, 105 = SozR Nr 2 zu § 717 ZPO) ausgeführt hat, sind im SGG nicht die Rechtsfolgen geregelt, die dann eintreten, wenn Leistungen aufgrund eines vollstreckbaren aber noch nicht rechtskräftigen Urteils erbracht worden sind, das später wieder aufgehoben worden ist. Das BSG hat in dieser Entscheidung die Rückerstattungspflicht in entsprechender Anwendung des § 717 Abs 2 ZPO bejaht. In späteren Entscheidungen (BSGE 33, 118 = SozR Nr 9 zu § 154 SGG; BSGE 39, 255 = SozR 1500 § 154 Nr 3) ist als näherliegende Rechtsquelle ein ungeschriebener Rechtsgrundsatz bezeichnet worden, der in mehreren Vorschriften des Sozialversicherungsrechts vorausgesetzt wird und bei grundsätzlicher Rückerstattungspflicht zu Unrecht erhaltener Leistungen aufgrund rechtskräftiger oder rechtsverbindlicher Entscheidungen erst recht die Rückerstattung zu Unrecht erhaltener Leistungen aufgrund vorläufig vollzogener Entscheidungen zum Inhalt habe (vgl hierzu auch BSGE 9, 169). Von diesem im Bereich des Versorgungsrechts entwickelten Grundsatz ist das BSG auch für den Bereich der Rentenversicherung ausgegangen (SozR Nr 8 zu § 1301 der Reichsversicherungsordnung -RVO-). Der 7. Senat hat den Rückforderungsgrundsatz hinsichtlich der zur Ausführung eines nicht rechtskräftigen Urteils erbrachten Leistungen für von den Voraussetzungen des § 152 Abs 1 und 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) unabhängig erklärt (SozR 4100 § 152 Nr 11).

Seit dem Inkrafttreten des SGB 10 haben der 4. Senat (BSGE 57, 138 = SozR 1300 § 50 Nr 6) und ihm folgend der 5b Senat (SozR 1500 § 154 Nr 8) bei der Beurteilung der Rückforderung sogenannter Urteilsrenten Regelungen des SGB herangezogen. Ausgehend von der Erwägung, daß Leistungen, die aufgrund eines noch nicht rechtskräftigen Urteils zu erbringen waren, das jedoch später rechtskräftig aufgehoben worden ist, im Ergebnis zu Unrecht erbrachte Leistungen waren, und daß diese ohne Verwaltungsakt erbracht worden sind, ist auf § 50 Abs 2 SGB 10 zurückgegriffen und ausgeführt worden, der Empfänger einer sogenannten Urteilsrente dürfe sich wegen des Hinweises auf eine mögliche Rückforderung regelmäßig nicht darauf einstellen, die Urteilsrente behalten zu dürfen. Daraus ist – in Anlehnung an § 42 Abs 3 Nr 3 SGB 1 – abgeleitet worden, bei Rückforderung einer Urteilsrente komme zwar nicht der Schutz des § 45 Abs 2 Nr 3 SGB 10 zum Zuge, weil ihr Empfänger mit der Erstattung habe rechnen müssen; die Verwaltung dürfe aber die Urteilsrente dann nicht zurückfordern, wenn sich daraus nach Lage des einzelnen Falles für den Leistungsempfänger eine besondere Härte ergeben würde. Eine solche ist angenommen worden, wenn die Erstattung den Leistungsempfänger sozialhilfebedürftig machen oder einen höheren Anspruch auf Sozialhilfe auslösen und damit seine wirtschaftliche Existenz auf Dauer ernstlich gefährden würde (vgl Burdenski/von Maydell/Schellhorn, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch, Allgemeiner Teil, 2. Aufl, § 42 RdNr 35).

Der Senat sieht keinen Anlaß, den Schutz des Empfängers der Urteilsrente gegen deren Rückforderung über das dem Satz der Sozialhilfe entsprechende Lebensführungsniveau hinaus auszudehnen. Mit diesem Schutz ist nämlich im Vergleich zur Regelung des § 717 Abs 2 ZPO bereits eine für den Empfänger der Urteilsrente günstigere Rechtslage herbeigeführt worden, der dort schlechthin zum Ersatz des durch die Vollstreckung des Urteils entstandenen Schadens verpflichtet ist.

Auch aus dem unbestimmten Rechtsbegriff der besonderen Härte kann ein über die Sozialhilfegrenze hinausgehender Schutz nicht hergeleitet werden. § 154 Abs 2 SGG räumt der Berufung eines Versicherungsträgers insoweit keine aufschiebende Wirkung ein, als es sich um Beträge handelt, die für die Zeit nach Erlaß des angefochtenen Urteils gezahlt werden sollen. Der Verurteilung des Versicherungsträgers durch das Gericht erster Instanz ist mithin die Vermutung ihrer Richtigkeit beigelegt. Sie erlaubt es, dem in der Regel zur Sicherung seines Lebensunterhalts auf die Leistung angewiesenen Kläger diese für die Zukunft unter dem Vorbehalt der Bestätigung des Urteils bereits zufließen zu lassen. Damit soll dem Versicherten die Vermögensverwertung zur Unterhaltssicherung oder aber die Inanspruchnahme der Sozialhilfe bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Rechtsstreits erspart werden, ohne seine materiell-rechtliche Situation endgültig zu verbessern. Deshalb kann der Vorsitzende des Rechtsmittelgerichts die vorläufige Vollstreckung durch einstweilige Anordnung auszusetzen oder sie von einer Sicherheitsleistung abhängig machen und diese Anordnungen jederzeit ändern, wenn ihm dies sachgerecht erscheint. Durch die vorläufige Vollstreckung entfällt – dem Zweck des Gesetzes entsprechend – die Inanspruchnahme und damit auch der Anspruch auf Sozialhilfe. Da diese später nicht mehr rückwirkend gewährt werden kann, tritt bei rechtskräftiger Aufhebung der Verurteilung des Versicherungsträgers und daraus folgender Verpflichtung des Versicherten zur Erstattung der Urteilsrente, für ihn eine Situation ein, die ihn zur Inanspruchnahme der Sozialhilfe zwingen kann. Dabei würde sein Lebensniveau jedenfalls durch die Verpflichtung zur Rückerstattung der zuvor erhaltenen Urteilsrente unter den Satz der Sozialhilfe gedrückt. Insoweit wird die für den Versicherten in der Zurückforderung der Urteilsrente liegende Härte zur besonderen Härte. Ein Absinken des finanziellen Lebensniveaus unter den Satz, der zur Führung eines der Würde des Menschen entsprechenden Lebens erforderlich ist (vgl § 1 Abs 2 Bundessozialhilfegesetz) bedeutet für den Versicherten eine ihm nicht zumutbare besondere Härte.

Der Auffassung des Klägers, ein menschenwürdiges Leben sei ihm schon verfassungsrechtlich durch Art 1 des Grundgesetzes garantiert; die besondere Härte iS von § 42 Abs 3 Satz 3 SGB 1 müsse deshalb mehr bedeuten, wenn sich die Schutzfunktion dieser Vorschrift nicht als überflüssig erweisen solle, vermag der Senat nicht zu folgen. Mit der verfassungsrechtlich garantierten Unantastbarkeit der Würde des Menschen ist diese zwar grundsätzlich geschützt, aber im Einzelfall noch nicht konkret gesichert. Deshalb verpflichtet Art 1 Abs 1 Satz 2 die staatliche Gewalt, diese Würde zu achten und zu schützen. Dazu gehört insbesondere die konkrete gesetzliche Ausgestaltung. Sie kann deshalb nicht zu einem stärkeren Schutz führen, als die verfassungsrechtliche Vorgabe beinhaltet.

Unter dem Gesichtspunkt der besonderen Härte hat der Senat auch geprüft, inwieweit die Anrechnung der Urteilsrente auf die tarifliche Verdienstsicherung des Klägers von Bedeutung ist. Er ist zu dem Ergebnis gelangt, daß sich daraus eine besondere Härte nicht herleiten läßt. Es ist zwar richtig, daß auf die tarifliche Verdienstsicherung regelmäßig Ansprüche auf Rente wegen Berufsunfähigkeit angerechnet werden. Solange aber ein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht bindend oder rechtskräftig festgestellt ist, befindet er sich noch im Streit und vermag den Anspruch auf die tarifliche Lohnsicherung nicht zu beeinträchtigen. Soweit der Kläger mithin wegen der – vorläufigen – Urteilsrente Zahlungen an seinen Arbeitgeber geleistet hat, sind diese tarifvertraglich ohne Rechtsgrund erfolgt, so daß es beim Kläger liegt, sie von seinem Arbeitgeber zurückzuverlangen. Weiter ist zu berücksichtigen, daß die Anrechnung der Urteilsrente nicht etwa den Verdienst des Klägers in vollem Umfang, sondern nur die Differenz betroffen hat, die zwischen dem Verdienst aus der früheren Tätigkeit als Facharbeiter und dem Verdienst für die später aus gesundheitlichen Gründen ausgeübte geringerwertige Tätigkeit bestand. Daß der geringere Verdienst unter dem Satz der Sozialhilfe gelegen habe, hat weder der Kläger behauptet, noch ergeben sich hierfür Anhaltspunkte. Unter den Satz der Sozialhilfe könnte sein Lebensniveau vielmehr erst durch die Höhe des monatlichen Rückforderungsbetrages gedrückt werden. Bei dem vom LSG festgestellten monatlichen Nettoverdienst zwischen 1.600 und 1.700,– DM, der von der Revision nicht in Zweifel gezogen worden ist, sinkt das Lebensführungsniveau durch die Erstattung der Urteilsrente in monatlichen Raten von 200,– DM jedoch nicht unter den Satz der Sozialhilfe. Soweit der Kläger die Feststellungen des LSG zur Rückzahlungsfähigkeit in Höhe von 200,– DM monatlich mit der Rüge mangelnder Sachaufklärung angreift, hat er entgegen § 164 Abs 2 Satz 3 SGG nicht die Tatsachen bezeichnet, die den gerügten Mangel ergeben. Er hat nämlich nicht dargelegt, welche Rückzahlungsrate sich bei Überprüfung seiner Unterhaltspflichten gegenüber anderen Familienmitgliedern nach seiner Auffassung ergeben hätte.

Soweit endlich der Kläger aus der Höhe der Gesamtschuld und aus der sich bei einer Rückzahlungsrate von monatlich 200,– DM ergebenden Dauer der Rückzahlungszeit bis zum Jahre 2004 herzuleiten sucht, eine so langfristige Verpflichtung sei ihm nicht zumutbar, ergibt sich auch daraus keine besondere Härte. Hat der Kläger nämlich von der Beklagten zu Unrecht einen Gesamtbetrag von über 43.000,– DM erhalten, so bedeutet die an seinem Einkommen orientierte Rückzahlungsrate von 200,– DM monatlich im wirtschaftlichen Ergebnis die langfristige Tilgung eines ihm zinslos zur Verfügung stehenden Kapitals, das er von der Beklagten in Gestalt der Urteilsrente erhalten hat. Solange sich die Einkommensverhältnisse des Klägers nicht verschlechtern, bedeutet daher die Zeitdauer der Rückzahlung für ihn keine besondere Härte. Diese könnte sich erst bei Verschlechterung seiner Einkommensverhältnisse ergeben. Dann allerdings könnte er nach § 76 SGB 4 Stundung oder Erlaß der Rückzahlungsraten beantragen, soweit die Fortsetzung der Rückzahlung wegen der veränderten Einkommensverhältnisse sein Lebensniveau unter den Sozialhilfesatz herabdrücken würde.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173991

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge