Leitsatz (amtlich)

Der über einen erheblichen Zeitraum hinweg ausgeübte Beruf eines Hilfsarbeiters ist für die Frage der Berufsunfähigkeit nicht entscheidend, wenn der Versicherte vorher den Beruf eines Facharbeiters aus gesundheitlichen Gründen aufgeben mußte, es sei denn, er hätte die Möglichkeit, wieder eine seiner früheren Stellung etwa gleichwertige Arbeit zu erlangen, nicht genutzt.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 28. März 1962 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob der zuletzt über einen erheblichen Zeitraum hinweg ausgeübte Beruf eines Hilfsarbeiters auch dann für die Frage der Berufsunfähigkeit entscheidend ist, wenn der Versicherte vorher den Beruf eines Facharbeiters aus gesundheitlichen Gründen aufgeben mußte.

Der 1910 geborene Kläger war von 1924 bis 1946 als Kernmacher und sodann bis 1960 als Magazinarbeiter in der Rentenversicherung der Arbeiter pflichtversichert. Er beantragte im Mai 1959, ihm - im wesentlichen wegen eines chronischen Augenleidens - Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, der Kläger sei noch nicht berufsunfähig. Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben; das Sozialgericht (SG) hat sie abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat dazu ausgeführt, der Kläger gehöre zu den Hilfsarbeitern, weil er aus seinem früheren Beruf des Kernmachers ausgeschieden und ihm entfremdet sei und er die Arbeit eines Magaziners schon eine ins Gewicht fallende Zeit hindurch ausübe. Als Hilfsarbeiter sei der Kläger aber noch einsatzfähig.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Mit der Revision beantragt der Kläger,

den Bescheid der Beklagten vom 25. August 1959, das Urteil des SG Speyer vom 13. Juni 1960 und das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 28. März 1962 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Mai 1959 an zu zahlen.

Er rügt, das LSG habe § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verletzt. Es könne nicht Rechtens sein, bei ihm nach seinem beruflichen Werdegang bei der Prüfung der Frage der Berufsunfähigkeit den Beruf eines Hilfsarbeiters zugrunde zu legen und den qualifizierten Facharbeiterberuf zu ignorieren. Es müsse vom Beruf eines Kernmachers ausgegangen werden, den er erlernt und 22 Jahre hindurch ausgeübt habe.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für richtig. Es sei zu berücksichtigen, daß sich der Kläger offenbar mit der Tätigkeit als Magaziner abgefunden habe. Wenn das nicht der Fall wäre, hätte er sich im Laufe der Jahre bemüht, eine andere Tätigkeit, z. B. eine Anlerntätigkeit in der Metallindustrie, zu erhalten, die seinen Fähigkeiten und seinem Gesundheitszustand entsprochen und mit der er einen Verdienst erzielt hätte, der dem eines Kernmachers ungefähr gleichgekommen wäre.

Die Revision ist zulässig und begründet.

Nach § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO ist bei der Entscheidung, ob ein Versicherter berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO ist, von seinem "bisherigen" Beruf auszugehen. Das ist für den Kläger der eines gelernten Kernmachers. Dieser Beruf, den der Kläger von 1924 bis 1946 ausgeübt hat, bestimmt auch noch seit 1946 den Kreis der ihm zumutbaren Tätigkeiten. Der Kläger ist, obwohl er keine ordnungsgemäße Lehre durchlaufen und auch keine Prüfung abgelegt hat, deswegen als gelernter Kernmacher - in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG 17, 41)-anzusehen, weil er sich durch langjährige praktische Tätigkeit die gleichen Kenntnisse und Fähigkeiten wie ein gelernter Kernmacher mit abgeschlossener Lehre angeeignet hatte und wie ein solcher entlohnt worden war.

Der Kläger hat 1946 nur wegen dauernder Untauglichkeit infolge seines Augenleidens diesen Beruf aufgegeben. Davon geht das angefochtene Urteil zu Recht und unwidersprochen aus. Das Augenleiden machte es dem Kläger unmöglich, die Arbeit eines Kernmachers, bei der Staubentwicklung besteht und es zum Auftreten von Dämpfen und Gasen kommt, weiter auszuüben. Das LSG ist bedenkenfrei zu diesem Ergebnis gelangt.

Bei der Beantwortung der Frage, ob die Tätigkeiten, zu denen der Kläger gesundheitlich noch imstande ist, ihm auch zumutbar sind, berücksichtigt das LSG alle Beschäftigungen, die der Kläger in seinem gesamten Arbeitsleben tatsächlich ausgeübt hat, vornehmlich die eines Magazinarbeiters. Insoweit ist dem angefochtenen Urteil, nicht beizutreten.

Wie der 5. Senat des BSG (BSG 2, 182, 187) und sich ihm anschließend der erkennende Senat (Urteil vom 2. Dezember 1964 - 4 RJ 225/63 -) bereits entschieden haben, kann zwar in einer aus gesundheitlichen Gründen erforderlichen Aufgabe einer Berufstätigkeit eine Lösung von einem Beruf erblickt werden, sie gehört dann aber zu den Notfällen des Lebens, die durch die Rentenversicherung auszugleichen sind und für die die Rentenversicherung einzustehen hat. Das hat auch zu gelten, wenn die Leistungseinbuße noch nicht sogleich die Berufsunfähigkeit bedingt, sondern dieses Ausmaß erst später erreicht. In einem solchen Fall ist der zunächst eingetretene Leistungsabfall der erste Schritt zur späteren Berufsunfähigkeit. Bei der Beurteilung der Frage der Berufsunfähigkeit bleibt dann der vor der Leistungseinbuße ausgeübte Beruf entscheidend. Diese Voraussetzungen sind beim Kläger gegeben. Er ist deshalb nach den bisher getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts als Kernmacher anzusehen. Etwas anderes könnte allerdings gelten, wenn er Möglichkeiten, wieder eine seiner früheren Stellung etwa gleichwertige Arbeit zu erlangen, nicht genutzt hätte.

Ob nun der Kläger bei einer Einordnung als Kernmacher auf die Obliegenheiten eines Magazinarbeiters verwiesen werden kann, bedarf noch der Klärung. Dazu muß geprüft werden, wie ein Kernmacher sozial einzustufen ist. Hierfür können eine Reihe von Einzelumständen maßgebend sein; denn für das Ansehen eines Berufes ist es nicht allein entscheidend, ob sein Träger Facharbeiter, Spezialarbeiter oder Hilfsarbeiter ist, gerade bei einem Spezialarbeiter kann sich die Wertschätzung oft sehr unterschiedlich verschieben. Die Höhe der Entlohnung, die Sicherheit des Arbeitsplatzes, die sozialen Gewährleistungen der Unternehmen dieses Berufszweiges und eine Reihe anderer Faktoren sind in Rechnung zu stellen (dazu BSG 17, 191). Das LSG wird weiter zu prüfen haben, ob der Kläger sich durch die Arbeit im Magazin etwa deshalb von seinem früheren Beruf gelöst hat, weil er sich nicht um eine seinem Beruf als Kernmacher ungefähr gleichwertige Tätigkeit bemüht hat, die er bei seinen Kenntnissen und Fähigkeiten sowie seinem Gesundheitszustand noch hätte ausüben können.

Zu diesen Umständen, die für den Ausgang des Rechtsstreits erheblich werden können, fehlen bisher tatsächliche Feststellungen. Eine abschließende Entscheidung ist daher noch nicht möglich. Damit die gebotenen weiteren Ermittlungen angestellt werden können, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2380127

BSGE, 221

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