Entscheidungsstichwort (Thema)

Beurteilung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zumutbarkeit. Kernmacher

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ein Zeitraum von 3 Jahren kann ausreichend sein, um die letzte Berufstätigkeit zugleich als die "eigentliche" erscheinen zu lassen.

2. Für das Ansehen eines Berufes ist es nicht allein entscheidend, ob sein Träger Facharbeiter, Spezialarbeiter oder Hilfsarbeiter ist; es sind eine Reihe von Faktoren in Rechnung zu stellen.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. März 1963 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger erlernte zu Beginn der zwanziger Jahre das Handwerk eines Maschinenschlossers. Als solcher war er bis zu seiner Einberufung in die Wehrmacht im Jahre 1940 und nach dem Kriege nochmals für einige Monate beschäftigt. Von 1947 an war er zunächst in Stellungen eines ungelernten Arbeiters. 1952 wurde er als Kernmacher in einer Gießerei übernommen. Er galt dort als angelernter Arbeiter. Diese Tätigkeit mußte er nach etwa drei Jahren niederlegen. Ein Wirbelsäulenleiden ließ die Verrichtung dieser Tätigkeit nicht mehr zu. In der Folgezeit arbeitete er im Magazin seines bisherigen Arbeitgebers.

Die Beklagte versagte dem Kläger die Rente wegen Berufsunfähigkeit. Der Klage gab das Sozialgericht (SG) statt; das Landessozialgericht (LSG) wies sie dagegen ab. Nach dem Dafürhalten des Berufungsgerichts hat der Kläger den Status eines Facharbeiters als Maschinenschlosser infolge Berufsabkehr verloren. Der dreijährigen Kernmachertätigkeit sei kein Gewicht beizumessen, weil sie zu bald wieder zu Ende gegangen sei.

Der Kläger hat die von dem LSG zugelassene Revision eingelegt. Er meint, für ihn bedeute ein Lohnerwerb als Hilfsarbeiter eine sozial untragbare Härte.

Er beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Revision des Klägers ist zulässig und hat Erfolg.

Der Beruf des Maschinenschlossers, für den der Kläger ausgebildet und dem er lange Zeit hindurch nachgegangen ist, bestimmt gegenwärtig nicht mehr den Kreis der zumutbaren Tätigkeiten, auf die der Kläger verwiesen werden kann. Das Berufungsgericht hat rechtsirrtumsfrei festgestellt, daß der Kläger sich von diesem Beruf gelöst und erkennbar anderen Erwerbszweigen zugewendet hatte. Das Gericht hat sich indessen einer Stellungnahme zu dem Anlaß, der den Kläger zur Abkehr von dem erlernten Handwerk bewegte, enthalten. Es hat lediglich die Ansicht der Beklagten wiedergegeben. Diese hatte vorgetragen, der Kläger sei freiwillig aus dem alten Aufgabenbereich herausgetreten. Dem Berufungsgericht kann jedoch - wie die Revision mit Recht vorgetragen hat - nicht ohne weiteres darin gefolgt werden, daß der Kläger für eine Verwendung in seinem ehemaligen Fachgebiet "untauglich" geworden sei. Es ist nicht ersichtlich, auf Grund welcher Tatsachen das LSG zu diesem Ergebnis gelangt ist. Keineswegs decken sich immer die Tatbestände der Berufsveränderung und der Berufsentfremdung.

Bei Beantwortung der Frage, ob die Tätigkeiten, zu denen der Kläger gesundheitlich noch imstande ist, ihm wirtschaftlich und gesellschaftlich zuzumuten sind, berücksichtigt das LSG alle Beschäftigungen, die in die Zeit von 1947 bis 1959 fallen. Für das Ende dieser Zeitspanne läßt es die Zeit des Rentenantrages (1959) maßgeblich sein. Dem kann nicht gefolgt werden.

Nach dem vorgetragenen, von dem Berufungsgericht nicht ausgeräumten und deshalb für die Revisionsinstanz zu unterstellenden Sachverhalt ist anzunehmen, daß der Kläger die Kernmachertätigkeit 1955 wegen seiner Wirbelsäulenerkrankung aufgeben mußte. An diesem Geschehen darf die gesetzliche Rentenversicherung nicht achtlos vorbeigehen. Ein Berufsverlust, der durch eine solche Ursache herbeigeführt wird, gehört zu den Notfällen des Lebens, die durch die Rentenversicherung auszugleichen sind. Das hat selbst dann zu gelten, wenn die Leistungseinbuße noch nicht sogleich die Berufsunfähigkeit bedingt, sondern dieses Ausmaß erst später erreicht. Der erkennende Senat folgt diesem vom Bundessozialgericht entwickelten Grundsatz (BSG 2, 182, 187) jedenfalls dann, wenn die zunächst eingetretene Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nur die erste Stufe auf dem Wege zur Berufsunfähigkeit war, mit anderen Werten, wenn es sich um einen zeitlich und dem Gegenstande nach einheitlichen Geschehensablauf von der ersten Erkrankung bis zum Eintritt des Versicherungsfalles handelt. Daß dies hier zutrifft, ist zumindest naheliegend. Für den vorliegenden Rechtsstreit bedeutet dies, daß die der Beurteilung zugrunde liegende Zeit nicht erst 1959, sondern schon 1955 endet. Die Zeit der Beschäftigung als Kernmacher von etwa 3 Jahren steht deshalb nicht - innerhalb des Zeitabschnitts von 12 Jahren (1947 bis 1959) - einer Zeit ungelernter Tätigkeiten von 9, sondern - innerhalb einer Zeitspanne von 8 Jahren (1947 bis 1955) - von nur 5 Jahren gegenüber. Ob das Berufungsgericht bei dieser Sachlage ebenfalls erklärt hätte, daß die 3 Jahre Kernmacherarbeit zu kurz und nur von vorübergehender Art gewesen sei, um in diesem Zusammenhang beachtlich zu sein, ist zweifelhaft. Diese Angelerntentätigkeit tritt in ihrem zeitlichen Verhältnis zur Ungelerntenarbeit schon deshalb nicht völlig in den Hintergrund, weil der Kläger dabei einen Arbeitsplatz einnahm, auf dem er - soweit sich das nach den bislang bekannten Tatsachen übersehen läßt - für die Dauer bleiben wollte und konnte. Es lag also ein gewisser Normaltatbestand und damit ein gefestigter beruflicher "Besitzstand" vor (hierzu: BSG 19, 217, 219 f; 16, 34; in der letzteren Entscheidung wird ein Zeitraum von 3 Jahren für ausreichend gehalten, um die letzte Berufstätigkeit zugleich als die "eigentliche" erscheinen zu lassen). Sollte es sich als richtig herausstellen, daß der Kläger - wie noch zu prüfen sein wird - infolge gesundheitlicher Störungen zu leichterer und geringer entlohnter Betätigung übergehen mußte, so wäre er als Kernmacher anzusehen.

Das Berufungsgericht hat stattdessen den Beruf eines ungelernten Magazinarbeiters für maßgeblich gehalten. Ob der Kläger auf die Obliegenheiten eines ungelernten Arbeiters verwiesen werden dürfte, wenn er als Kernmacher einzuordnen wäre, hat das Berufungsgericht ausdrücklich unentschieden gelassen. Bei der Prüfung dieser Frage müßte geklärt werden, ob der Kläger als Kernmacher "qualifiziert angelernt" oder nur kurz eingearbeitet worden ist. Außerdem hängt die soziale Einstufung von weiteren Einzelumständen ab. Für das Ansehen eines Berufes ist es nicht allein entscheidend, ob sein Träger Facharbeiter, Spezialarbeiter oder Hilfsarbeiter ist. Gerade bei einem Spezialarbeiter - als der ein Kernmacher in Betracht kommen kann - wird sich die Wertschätzung oft sehr unterschiedlich verschieben. Die Höhe der Entlohnung, die Sicherheit des Arbeitsplatzes, die sozialen Gewährleistungen der Unternehmen dieses Berufszweiges und eine Reihe anderer Faktoren sind in Rechnung zu stellen (dazu im einzelnen BSG 17, 191).

Zu diesen Umständen, die für den Ausgang des Rechtsstreits erheblich werden können, fehlen bisher ausreichende tatsächliche Feststellungen. Eine abschließende Entscheidung ist daher noch nicht möglich. Damit die gebotenen weiteren Ermittlungen angestellt werden können, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Dem Berufungsgericht bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des gegenwärtigen Rechtszuges vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2000682

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