Entscheidungsstichwort (Thema)

Anhörung vor Erlaß eines Verwaltungsaktes

 

Orientierungssatz

Wird ein Bescheid über die Entziehung der vorläufigen Rente und die (negative) Feststellung der Dauerrente unter Verletzung des rechtlichen Gehörs erlassen, leidet das Verwaltungsverfahren an einem wesentlichen Mangel; der Verwaltungsakt ist zwar nicht nichtig, aber rechtswidrig und anfechtbar. Die Anhörung kann mit heilender Wirkung im Widerspruchsverfahren, nicht aber im Klageverfahren nachgeholt werden (Festhaltung BSG vom 1977-07-28 2 RU 31/77 = SozR 1200 § 34 Nr 1; BSG vom 1977-07-28 2 RU 31/77 = BSGE 44, 207; BSG vom 1978-03-09 2 RU 99/77 = BSGE 46, 57; BSG vom 1978-03-09 2 RU 105/77 = USK 7827).

 

Normenkette

SGB 1 § 34 Abs. 1; RVO § 622 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 21.11.1978; Aktenzeichen L 3 U 5/78)

SG Oldenburg (Entscheidung vom 10.11.1977; Aktenzeichen S 7a U 257/76)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 21. November 1978 und das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 10. November 1977 sowie der Bescheid der Beklagten vom 15. Juli 1976 aufgehoben.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten aller Rechtszüge zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beklagte gewährte dem Kläger wegen der Folgen eines am 27. September 1974 erlittenen Arbeitsunfalls (Schienbein- und Außenknöchelbruch rechts) ab 27. Januar 1975 eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH (Bescheid vom 15. Juli 1975). Aufgrund eines Gutachtens des Facharztes für Chirurgie Dr. D von den Berufsgenossenschaftlichen Untersuchungsstellen in Bremen vom 25. Juni 1976, das am 28. Juni 1976 eingegangen war, entzog die Beklagte durch Bescheid vom 15. Juli 1976 die vorläufige Rente mit Ablauf des Monats August 1976 und lehnte die Gewährung einer Dauerrente ab, weil die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die noch vorhandenen Unfallfolgen nicht mehr in rentenberechtigendem Grad gemindert sei.

Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat nach Einholung eines Befundberichtes von Dr. R in Nordenham vom 27. Juni 1977, nach Erstattung eines Gutachtens durch den Medizinalrat a.D. Dr. S in O vom 27. September 1977 und nach Anhörung eines Facharztes für innere Krankheiten Medizinaldirektor a.D. Dr. S in der mündlichen Verhandlung am 10. November 1977, die Klage auf Gewährung einer Unfallrente über den Monat August 1976 hinaus nach einer MdE von 20 vH abgewiesen (Urteil vom 10. November 1977). Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen zurückgewiesen (Urteil vom 21. November 1978). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Gewährung einer Dauerrente ab 1. September 1976, weil seine unfallbedingte MdE seit diesem Zeitpunkt weniger als 20 vH betrage. Zwar sei die Beklagte verpflichtet gewesen, den Kläger vor Erlaß des Bescheides vom 15. Juli 1976 gemäß § 34 Abs 1 SGB I zu hören und sie könne sich auch nicht mit Erfolg auf § 34 Abs 2 Nr 2 SGB I berufen, denn sie hätte vom Eingang des Gutachtens des Dr. D am 28. Juni 1976 bis zum Ablauf der Zweijahresfrist des § 1585 Abs 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) am 27. September 1976 genügend Zeit gehabt, dem Kläger Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Jedoch führe entgegen der Rechtsprechung des 2. Senats das Bundessozialgericht (BSG) die Verletzung des Anhörungsrechts nicht zur Anfechtbarkeit des unter Verstoß gegen § 34 Abs 1 SGB I erlassenen Bescheides. Selbst ein so schwerer Verfahrensfehler, wie ihn eine Verletzung des § 34 Abs 1 SGB I darstelle, begründe nicht schon die Anfechtbarkeit des Verwaltungsaktes, weil es für diese Frage darauf ankomme, ob die Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruhen könne. Das sei hier jedenfalls schon deshalb auszuschließen, weil auch bei wohlwollender Betrachtung, eine für den Kläger günstige Entscheidung nicht möglich sei. In der Rechtsprechung sei bisher nicht in Zweifel gezogen worden, daß Verfahrensfehler für sich allein einen Bescheid nicht anfechtbar machten. Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit hätten zu prüfen, ob der Bescheid - auch wenn er unter Verletzung von Verfahrensvorschriften erlassen worden sei - der materiellen Rechtslage entspreche. Gleichwohl ließen die Versicherungsträger trotz fehlender Sanktionsmöglichkeit in der Regel § 34 SGB I nicht außer acht, wie der 2. Senat offenbar befürchte. Zudem werde die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung auch durch die zuständige Aufsichtsbehörde des Versicherungsträgers überwacht. Gegen die Anfechtbarkeit eines unter Verstoß gegen § 34 Abs 1 SGB I erlassenen Bescheides spreche, daß auch ein anfänglich materiell rechtswidriger Bescheid nicht aufzuheben sei, wenn er im Laufe des Gerichtsverfahrens zu einem späteren Zeitpunkt infolge Änderung der Sach- und Rechtslage rechtmäßig werde. Es überzeuge auch nicht, daß nach Meinung des 2. Senats des BSG eine zu Unrecht unterbliebene Anhörung noch im Widerspruchsverfahren, jedoch nicht mehr im Klageverfahren nachgeholt werden könne. Zudem laufe das Verwaltungsverfahren auch während des gerichtlichen Verfahrens weiter. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe das Fehlen des Armenrechts in den beiden Tatsacheninstanzen ua damit gerechtfertigt, daß die Versicherungsträger auch im Prozeß an Gesetz und Satzung gebunden und kraft ihrer Amtspflicht gehalten seien, zur Wahrheitsfindung und Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken. Das Sozialversicherungsrecht sei Recht der Fürsorge im weiteren Sinne, und die Bindung der Versicherungsträger an das so in seiner Struktur bestimmte Recht biete eine gewisse Gewähr für die Berücksichtigung aller wirklich berechtigten Ansprüche. Dem möge zwar das Selbstverständnis mancher Versicherungsträger oder mancher ihrer Bediensteten nicht entsprechen. Jedoch sei bei der rechtlichen Beurteilung von einer solchen Einschätzung der Verhältnisse auszugehen. Die in den §§ 13 ff SGB I geregelten Aufklärungs-, Beratungs- und Auskunftspflichten der Versicherungsträger seien Ausdruck des vom BVerfG angedeuteten Fürsorgegedankens. Sie würden durch Klageerhebung nicht suspendiert oder aufgehoben. Dabei werde nicht übersehen, daß es während des gerichtlichen Verfahrens schwer sein könne, den Versicherungsträger dazu zu bewegen, seinen im Verwaltungsverfahren vorhandenen Spielraum voll auszuschöpfen. Diese Schwierigkeiten beständen aber auch im Widerspruchsverfahren, wo der Versicherungsträger in aller Regel bestrebt sein werde, nicht ohne Not von der einmal getroffenen Entscheidung abzuweichen. Ungereimtheiten ergäben sich auch durch die Möglichkeit, daß der Betroffene wahlweise Widerspruch einlegen oder Klage erheben könne. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Den Argumenten, mit denen sich das LSG gegen die Rechtsprechung des BSG zur Anhörung nach § 34 SGB I wende, könne nicht gefolgt werden. Der 2. Senat des BSG habe seine Auffassung noch einmal in einem ausführlichen Urteil vom 31. Oktober 1978 (2 RU 39/78) bekräftigt, das vom LSG zwar erwähnt werde, mit dem es sich jedoch nicht auseinandersetze. Das LSG zeige auch keine neuen Gesichtspunkte auf, die Anlaß geben könnten, den bisher eingenommenen Rechtsstandpunkt zu überprüfen. Im übrigen seien jetzt auch der 8. Senat des BSG im Urteil vom 6. Dezember 1978 (8 RU 108/77) und der 5. Senat des BSG im Urteil vom 16. Januar 1979 (5 RKnU 5/78) der Rechtsauffassung des 2. Senats des BSG beigetreten. Dem Urteil des LSG sei lediglich darin zu folgen, daß die Beklagte verpflichtet gewesen sei, ihn vor der erstmaligen Feststellung der Dauerrente zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen anzuhören und daß die Beklagte sich nicht mit Erfolg auf § 34 Abs 2 Nr 2 SGB I berufen könne.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des LSG Niedersachsen vom 21. November 1978 und des SG Oldenburg vom 10. November 1977 sowie den Bescheid vom 15. Juli 1976 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Das LSG habe in überzeugender Weise die Gründe dargelegt, die gegen die Rechtsprechung des BSG zur Frage der Anhörung nach § 34 Abs 1 SGB I sprechen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 15. Juli 1976 ist rechtswidrig, weil die Beklagte den Kläger nicht angehört hat.

Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in die Rechte eines Beteiligten eingreift, ist diesem nach § 34 Abs 1 SGB I Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Wie der erkennende Senat bereits entschieden hat, greift ein Bescheid, der die vorläufige Rente entzieht und die Gewährung einer Dauerrente ablehnt, in die Rechte des Beteiligten ein (SozR 1200 § 34 Nr 4). Von der danach erforderlichen Anhörung des Klägers durfte die Beklagte nicht etwa deshalb nach § 34 Abs 2 Nr 2 SGB I absehen, weil durch die Anhörung die Einhaltung einer für die Entscheidung maßgebenden Frist in Frage gestellt worden wäre. Ob die Frist von zwei Jahren nach dem Unfall, mit deren Ablauf eine vorläufige Rente gemäß § 622 Abs 2 Satz 1 RVO spätestens zur Dauerrente wird, eine maßgebliche Frist iS des § 34 Abs 2 Nr 2 SGB I ist, kann dahingestellt bleiben; denn, wie das LSG ausgeführt hat, hätte eine vorherige Anhörung des Klägers die Einhaltung der Zweijahresfrist ohnehin nicht in Frage gestellt. Um zu verhindern, daß eine vorläufige Rente nach § 622 Abs 2 Satz 1 RVO kraft Gesetzes zur Dauerrente wird, genügt es, daß der Versicherungsträger den Bescheid über die Entziehung der vorläufigen Rente und die (negative) Feststellung der Dauerrente vor Ablauf von zwei Jahren nach dem Unfall zustellt (BSGE 29, 73). Da der Kläger den Arbeitsunfall am 27. September 1974 erlitten hatte, wäre eine Zustellung am 27. September 1976 noch rechtzeitig gewesen. Das für die Feststellung der Dauerrente maßgebliche Gutachten ist bei der Beklagten am 28. Juni 1976 eingegangen. Von diesem Zeitpunkt an wäre eine Anhörung des Klägers möglich gewesen. Selbst bei einer Frist für die Anhörung von einem Monat hätte die Beklagte einen Bescheid über die erste (negative) Feststellung der Dauerrente noch bis zum 27. September 1976 zustellen können.

Wird ein Verwaltungsakt - wie hier - unter Verletzung des rechtlichen Gehörs erlassen, leidet das Verwaltungsverfahren an einem wesentlichen Mangel; der Verwaltungsakt ist zwar nicht nichtig, aber rechtswidrig und anfechtbar. Die Anhörung kann in Fällen der hier vorliegenden Art im Klageverfahren nicht nachgeholt werden. An dieser, vom erkennenden Senat in ständiger Rechtsprechung vertretenen Auffassung (Urteile vom 28. Juli 1977 - 2 RU 30/77 - SozR 1200 § 34 Nr 1; vom 28. Juli 1977 - 2 RU 31/77 - BSGE 44, 207; vom 9. März 1978 - 2 RU 99/77 - BSGE 46, 57; vom 9. März 1978 - 2 RU 105/77 - unveröffentlicht; vom 31. Oktober 1978 - 2 RU 39/78 - SozR 1200 § 34 Nr 4), der sich der 3., 5., 6. und 8. Senat des BSG angeschlossen haben (Urteile vom 25. Januar 1979 - 3 RK 35/77 - SozR 1200 § 34 Nr 7; vom 16. Januar 1979 - 5 RKnU 5/78 - unveröffentlicht; vom 16. Januar 1979 - 5 RKnU 6/78 - SozR 1200 § 34 Nr 6; vom 1. März 1979 - 6 RKa 17/77 - zur Veröffentlichung vorgesehen; vom 6. Dezember 1978 - 8 RU 108/77 - SozR 5670 Anl 1 Nr 1501 Nr 3; vom 30. April 1979 - 8a RU 64/78 -), wird festgehalten.

Der Senat hat bereits in seiner zweiten zur Anhörung nach § 34 Abs 1 SGB I ergangenen Entscheidung (BSGE 44, 207) - die jetzige Beklagte war auch damals Beklagte - in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zur Anhörung im Verwaltungsverfahren darauf hingewiesen, daß die rechtliche Bedeutung des Verstoßes gegen Vorschriften über das Verwaltungsverfahren aus dem der Verfahrensvorschrift zugedachten Zweck, insbesondere aus ihrer Schutzfunktion für den Betroffenen sowie daraus herzuleiten ist, ob sich die Nachholung der Anhörung in einem späteren Verfahrensstadium entsprechend dem mit ihr verfolgten Zweck noch uneingeschränkt auszuwirken vermag. Der Senat hat dies aus gegebenem Anlaß in einer späteren Entscheidung nochmals ausdrücklich wiederholt (SozR 1200 § 34 Nr 4).

Nach den bisher zur Anhörung gemäß § 34 Abs 1 SGB I ergangenen Entscheidungen bezweckt diese Vorschrift, dem zum Grundrecht erhobenen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 Grundgesetz - GG -) aus rechtsstaatlichen Gründen (Art 20 Abs 3 GG) und damit im Kern zur Wahrung der Menschenwürde (Art 1 Abs 1 GG) im Verwaltungsverfahren den Beteiligten jedenfalls dann zu gewähren, wenn in ihre Rechte eingegriffen werden soll. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verwaltungsverfahrens sein. Die Vorschrift will die Anhörung des Beteiligten im Verwaltungsverfahren selbst sichern, und zwar durch die Stelle, die über den Erlaß und den Inhalt des Verwaltungsaktes zu entscheiden hat, damit der Beteiligte auf das Verfahren und den Inhalt der Entscheidung Einfluß nehmen kann. Sie dient der Verbesserung des Schutzes gegen Überraschungsentscheidungen und soll allgemein das Vertrauensverhältnis zwischen den Bürgern und der Sozialverwaltung stärken. Daraus leitet sich her, daß § 34 Abs 1 SGB I nicht nur eine bloße, den ordnungsmäßigen Ablauf des Verfahrensganges regelnde Formvorschrift ist, deren Verletzung ohne Auswirkung auf die Sachentscheidung bleibt. Dem Zweck und der Schutzfunktion dieser Vorschrift steht zwar im Grundsatz die Nachholung der vorschriftswidrig unterbliebenen Anhörung mit heilender Wirkung nicht entgegen, jedoch nur solange, wie sich der bezweckte Sinn der Anhörung in einem späteren Verfahrensstadium noch uneingeschränkt auszuwirken vermag. Wie das BSG bereits entschieden hat, kann die unterbliebene Anhörung daher mit heilender Wirkung im Widerspruchsverfahren nachgeholt werden (SozR 1200 § 34 Nrn 1 und 7). Die Widerspruchsstelle wird - zumindest in Angelegenheiten der Sozialversicherung - von der jeweiligen Vertreterversammlung des Versicherungsträgers bestimmt (§ 85 Abs 2 Nr 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist eine Stelle des Versicherungsträgers (BSGE 24, 134, 136) und gewährt dem Beteiligten das rechtliche Gehör im Rahmen der Selbstkontrolle des Versicherungsträgers. Gleichwohl ließen sich auch gegen eine Heilung der unterbliebenen Anhörung im Widerspruchsverfahren Bedenken erheben, da § 34 Abs 1 SGB I auch die Vorstellung des Normgebers zugrunde liegt, daß die Anhörung vor Erlaß des Verwaltungsaktes einen wirksameren Schutz gewährleistet als die Prüfung nachträglicher Einwendungen durch die Widerspruchsstelle. Zwar wird von der Widerspruchsstelle auch die Zweckmäßigkeit eines Verwaltungsaktes nachgeprüft (§ 78 Abs 1 Satz 1 SGG), jedoch kann eine einmal ausgesprochene Rentenherabsetzung oder -entziehung zu einem bestimmten Zeitpunkt bereits eine Verfestigung zu Lasten des Beteiligten bedeuten, der gegenüber das Vorbringen des Beteiligten im Widerspruchsverfahren zu keiner günstigeren Entscheidung mehr führt. Andererseits kann sich der mit der Anhörung bezweckte Sinn im Widerspruchsverfahren noch auswirken, da der Widerspruch gegen Verwaltungsakte, welche in der Sozialversicherung eine laufende Leistung entziehen, aufschiebende Wirkung hat (§ 86 Abs 2 SGG). Solange ein Verwaltungsakt nicht vollzogen ist, steht die Schutzfunktion des § 34 Abs 1 SGB I der Nachholung einer vorschriftswidrig unterbliebenen Anhörung durch den Versicherungsträger im Widerspruchsverfahren nicht entgegen. Ist allerdings die Herabsetzung oder die Entziehung der Rente wirksam geworden, was regelmäßig im Klageverfahren der Fall ist, kann der mit der vorherigen Anhörung beabsichtigte Zweck nicht mehr verwirklicht werden. Der Verfahrensmangel gewinnt vom Zeitpunkt der Vollziehung des Verwaltungsaktes an einen Schweregrad, der zur Aufhebung des Rentenentziehungs- oder -herabsetzungsbescheides führt, auch wenn die getroffene Maßnahme sachlich gerechtfertigt sein sollte (vgl BVerwGE 27, 295, 302; 44, 17, 21). Angesichts dieser Auffassung ist es nicht erheblich, daß das Verwaltungsverfahren, wie das LSG meint, auch während des Gerichtsverfahrens weiter läuft und deshalb eine vorschriftswidrig unterbliebene Anhörung noch nach Erhebung der Klage nachgeholt werden könnte. Der Gesetzgeber vertritt in § 45 Abs 2 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) ebenfalls die Ansicht, daß die erforderliche Anhörung eines Beteiligten nur bis zum Abschluß eines Vorverfahrens oder, falls ein Vorverfahren nicht stattfindet, bis zur Erhebung der verwaltungsgerichtlichen Klage nachgeholt werden kann. Eine gleichlautende Vorschrift ist in § 39 Abs 2 des Regierungsentwurfs zum Zehnten Buch des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - SGB X - (BT-Drucks 8/2043) vorgesehen. Damit geht auch die Bundesregierung davon aus, daß die dem § 34 Abs 1 SGB I innewohnende Schutzfunktion im Gerichtsverfahren nicht mehr verwirklicht werden kann.

Angesichts der ständigen Rechtsprechung des Senats bietet der vorliegende Fall keinen Anlaß, nochmals darauf einzugehen, daß nach § 40 des Entwurfs des SGB X, wie schon nach § 46 VwVfG, die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht (nach § 38 des Entwurfs des SGB X bzw nach § 44 VwVfG) nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden kann, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Der Senat hat dazu ua bereits ausgeführt (SozR 1200 § 34 Nr 4), daß noch offen ist, ob der Gesetzgeber inhaltlich die Regelung des § 46 VwVfG übernehmen wird.

Soweit das LSG im angefochtenen Urteil meint, die Versicherungsträger beachteten die für den Inhalt eines Verwaltungsaktes wichtige Vorschrift des § 34 Abs 1 SGB I auch, ohne daß ihnen für den Fall der unterbliebenen Anhörung Sanktionen drohten, so daß es der Anfechtung eines unter Verletzung des § 34 Abs 1 SGB I erlassenen Bescheides nicht bedürfe und schließlich die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung von der für den Versicherungsträger zuständigen Aufsichtsbehörde überwacht werde, verkennt das LSG die tatsächlichen Verhältnisse, wie sie ua aus Rundschreiben des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften e.V. und Äußerungen in der Literatur zur Entbehrlichkeit der Anhörung nach § 34 Abs 1 SGB I hervorgehen. Überdies darf ein Beteiligter, der sich vor Gericht gegen einen unter Verstoß gegen § 34 Abs 1 SGB I erlassenen Verwaltungsakt wendet, nicht auf das Eingreifen der Aufsichtsbehörde verwiesen werden. Ihm hat das Gericht auf seine Klage Rechtsschutz zu gewähren (§ 53 SGG).

Das angefochtene Urteil des LSG vom 21. November 1978, das Urteil des SG Oldenburg vom 10. November 1977 und der Bescheid vom 15. Juli 1976 waren daher aufzuheben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657689

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