Leitsatz (amtlich)

Eine Beitragsnachentrichtung nach WGSVG § 10 ist auch nach bindender Bewilligung des Altersruhegeldes noch für Zeiten vor Erreichen der Altersgrenze für das Altersruhegeld zulässig. AVG § 10 Abs 2a (= RVO § 1233 Abs 2a) steht dem nicht entgegen.

 

Normenkette

WGSVG § 10 Abs. 1; AVG § 10 Abs. 2a Fassung: 1972-10-16; RVO § 1233 Abs. 2a Fassung: 1972-10-16

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 26.04.1977; Aktenzeichen L 18 An 169/76)

SG Aachen (Entscheidung vom 15.10.1976; Aktenzeichen S 11 An 184/75)

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I S 1846) nach bindender Bewilligung des Altersruhegeldes für Zeiten vor Vollendung des 65. Lebensjahres durch § 10 Abs 2a des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) ausgeschlossen wird.

Der Rechtsvorgänger der Klägerin, E. P.T. H (geboren 13. Mai 1908, gestorben 17. Juli 1977) war Verfolgter iS des Bundesentschädigungsgesetzes. Er mußte seine versicherungspflichtige Beschäftigung im Jahre 1938 aus Verfolgungsgründen aufgeben. Durch Bescheid vom 14. März 1974 wurde ihm mit Wirkung ab 1. Juni 1973 Rente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres bewilligt. Im September 1974 beantragte der Rechtsvorgänger der Klägerin, ihn gem § 10 WGSVG zur Nachentrichtung von Beiträgen für die Zeit vor Vollendung des 65. Lebensjahres zuzulassen. Die Beklagte lehnte diesen Antrag ab (Bescheid vom 14. Oktober 1974). Sie vertrat die Auffassung, daß der am 19. Oktober 1974 in Kraft getretene § 10 Abs 2a AVG, der bestimme, daß nach bindender Bewilligung des Altersruhegeldes eine Entrichtung freiwilliger Beiträge für die Zeiten vor Beginn des Altersruhegeldes nicht mehr zulässig sei, auch im Rahmen des § 10 WGSVG anzuwenden sei. Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 10. November 1975; Urteil des Sozialgerichts - SG - Aachen vom 15. Oktober 1976).

Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hat das Urteil des SG abgeändert und die Beklagte verurteilt, den Kläger zur Beitragsnachentrichtung nach § 10 WGSVG zuzulassen. Es hat die Auffassung vertreten, daß § 10 Abs 2a AVG den Zweck habe, die durch das Rentenreformgesetz herbeigeführte Öffnung der Rentenversicherung für weitere Personenkreise zu begrenzen. Für eine solche Begrenzung sei aber in § 10 WGSVG, der nicht einer Öffnung der Rentenversicherung diene sondern Entschädigungscharakter habe, kein Raum.

Mit der Revision macht die Beklagte geltend, daß sich aus der Einzelbegründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks VI/2916 und BR-Drucks 566/71 S 39) ergebe, daß der Gesetzgeber in § 10 Abs 2a AVG einen allgemeinen Grundsatz für die Entrichtung freiwilliger Beiträge aufgestellt habe, der auch für § 10 WGSVG gelte, weil diese Vorschrift des WGSVG an die allgemeinen Vorschriften über die Entrichtung freiwilliger Beiträge anknüpfe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden erklärt.

II.

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß § 10 Abs 2a AVG im Rahmen des § 10 WGSVG nicht anzuwenden ist.

Das WGSVG dient der Entschädigung der Verfolgten für Folgen nationalsozialistischen Unrechts, die sich in der Sozialversicherung auswirken. Dabei war es die Absicht des Gesetzgebers, eine möglichst umfassende Entschädigung zu ermöglichen (Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks VI 1449, I, 2., S 1). Diesem Bestreben entspricht es, daß § 10 WGSVG die Nachentrichtung von Beiträgen für Zeiten vor Vollendung des 65. Lebensjahres nicht auf die Zeit bis zur bindenden Bewilligung des Altersruhegeldes begrenzt hat. Diese Regelung entsprach bei Erlaß des WGSVG im übrigen auch den in der Reichsversicherungsordnung (RVO) und dem AVG enthaltenen Regelungen für die Entrichtung freiwilliger Beiträge. Das Bundessozialgericht (BSG) hat damals aus den §§ 10 Abs 1 Satz 2, 140 Abs 1 und 141 Abs 1 AVG (= §§ 1233 Abs 1 Satz 2, 1418 Abs 1 und 1419 Abs 1 RVO) in der vor dem Rentenreformgesetz vom 16. Oktober 1972 geltenden Fassung gefolgert, daß die bindende Bewilligung des Altersruhegeldes der Entrichtung von freiwilligen Beiträgen für Zeiten vor Vollendung des 65. Lebensjahres nicht entgegensteht (SozR Nr 5 zu § 1419 RVO).

Diese Rechtslage hat sich für das WGSVG auch später nicht geändert. § 10 Abs 2a AVG dient - wie das LSG mit Recht hervorgehoben hat - lediglich der Begrenzung der Nachentrichtung im Zusammenhang mit der Öffnung der Rentenversicherung für weitere Personenkreise. Fälle, in denen das Versicherungsleben durch bindende Bewilligung des Altersruhegeldes abgeschlossen ist, sollen nicht mehr an der Öffnung teilhaben. Dieser Grundsatz erstreckt sich auch auf die Nachentrichtungsvorschriften des Art 2 § 51a Abs 1 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) und des Art 2 § 49a Abs 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG), die Übergangsvorschriften im Zusammenhang mit der Öffnung der Rentenversicherung enthalten (vgl BSG SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 7).

Für eine Ausdehnung auf die ganz anderen Zwecken dienende Vorschrift des § 10 WGSVG ergibt sich kein Anhalt. Es ist im Gegensatz zu den einleuchtenden Gründen für eine Begrenzung der Öffnung der Rentenversicherung kein sachlicher Grund erkennbar, der es rechtfertigen könnte, damit gleichzeitig auch die Entschädigung für Opfer des Nationalsozialismus einzuschränken. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist auch ein derartiger Wille des Gesetzgebers nicht erkennbar. Die von der Beklagten zitierten Materialien lassen lediglich erkennen, daß für die allgemeine in der RVO, dem AVG und dem Reichsknappschaftsgesetz geregelte freiwillige Weiterversicherung ein Grundsatz aufgestellt werden sollte.

Dafür, daß diese Rechtsänderung nicht für das WGSVG übernommen werden sollte, spricht auch, daß durch § 19 Nr 1 des 18. Rentenanpassungsgesetzes vom 18. April 1975 (BGBl I S 1018) dem damals geltenden § 10 WGSVG die Sätze 4 und 5 angefügt worden sind, in denen Verweisungen auf das ArVNG und das AnVNG enthalten sind. Wenn der Gesetzgeber wirklich der Auffassung gewesen wäre, daß Gründe vorliegen, die eine Einschränkung der Entschädigung für Folgen nationalsozialistischen Unrechts erforderlich machen, so hätte es nahe gelegen, dies durch eine Verweisung auf § 1233 Abs 2a RVO und § 10 Abs 2a AVG klarzustellen. Dies ist indes nicht geschehen. Hierzu bestand aber im Hinblick auf die unterschiedlichen Zwecke der Gesetze entgegen der Auffassung der Beklagten hinreichende Veranlassung. Der 1. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 6. Februar 1975 (BSGE 39, 126 = SozR 5070 § 8 Nr 1 S 5) bereits darauf hingewiesen, daß jede in Betracht kommende Vorschrift über das Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen nach ihrem Sinn und Zweck gesondert untersucht werden muß. Im übrigen hat der 1. Senat des BSG in seinem Urteil vom 1. Oktober 1975 (BSGE 40, 251, 253) bereits entschieden, daß für die Zeit vor Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes (19. Oktober 1972) auch im Rahmen des § 10 WGSVG eine Nachentrichtung noch nach bindender Bewilligung des Altersruhegeldes für Zeiten vor Vollendung des 65. Lebensjahres zulässig ist.

In Weiterentwicklung der Entscheidung des 1. Senats des BSG vom 1. Oktober 1975 (aaO) ist aus den oben genannten Gründen davon auszugehen, daß auch bei Eintritt des Versicherungsfalles nach dem 19. Oktober 1972 (und vor Ablauf der Antragsfrist am 31. Dezember 1975) eine Nachentrichtung von Beiträgen für die Zeit vor Vollendung des 65. Lebensjahres unabhängig davon zulässig ist, ob bereits ein bindender Bescheid über die Bewilligung des Altersruhegeldes ergangen ist. Da der Rechtsvorgänger der Klägerin auch die sonstigen Voraussetzungen für das Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG erfüllte, hat das LSG die Beklagte zu Recht verurteilt, die Klägerin als Rechtsnachfolgerin des E. P.T. H. zur Beitragsnachentrichtung nach § 10 WGSVG zuzulassen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653603

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