Leitsatz (amtlich)

Zur Feststellung des "letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes", wenn der Ehemann der Versicherten zur Zeit ihres Todes kurz vor dem Abschluß einer Fachausbildung stand.

 

Normenkette

RVO § 1266 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 43 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. Juni 1971 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger nach § 43 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) eine Witwerrente zusteht.

Der Kläger war mit der Versicherten Karin E geb. M vom 3. Februar 1967 bis zu ihrem Tode am 18. Juli 1967 verheiratet; aus der Ehe ist ein am 19. Juni 1967 geborener Sohn hervorgegangen. Der Kläger studierte während der Dauer seiner Ehe an der höheren Wirtschaftsfachschule in P; er erhielt bis Ende Juni 1967 eine Erziehungsbeihilfe in Höhe von monatlich 125,- DM. Der Kläger und die Versicherte führten keinen gemeinsamen Haushalt. Die Versicherte lebte bei ihren Eltern und unterstützte den Kläger mit monatlich rund 300,- DM; sie verdiente als Sekretärin vom 1. Februar bis 30. April 1967 insgesamt netto 1.723,08 DM; vom 1. Mai 1967 bis zu ihrem Tode erhielt sie Leistungen nach dem Mutterschutzgesetz.

Der Kläger bestand am 17. Juli 1967 den schriftlichen Teil der Abschlußprüfung. Die für die Zeit vom 19. bis 22. Juli 1967 vorgesehene mündliche Prüfung legte er - bedingt durch den Tod seiner Frau - erst Anfang Oktober 1967 ab. Der Kläger hatte mit der Firma S in M einen Arbeitsvertrag zum 1. August 1967 geschlossen; hierin war ein Bruttoanfangsgehalt von 1.150,- DM vereinbart. Wegen des Todes seiner Frau löste er diesen Vertrag; seit September 1967 arbeitet er bei einer S Firma mit einem monatlichen Bruttoverdienst von zunächst 1.002,- DM und seit Dezember 1967 von 1.102,- DM.

Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf Witwerrente mit Bescheid vom 24. August 1967 ab. Das Sozialgericht (SG) Stuttgart gab der Klage statt, das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg wies mit Urteil vom 22. Juni 1971 die Berufung der Beklagten zurück. Das LSG ging davon aus, daß sich während der Ehe ein wirtschaftlicher Dauerzustand im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) entwickelt habe; in dieser Zeit habe die Versicherte den Unterhalt ihrer Familie weit überwiegend bestritten. Die künftige Entwicklung sei unbeachtlich, auch wenn sie sich schon im Zeitpunkt des Todes der Versicherten abgezeichnet habe; sie könne den Anspruch auf Witwerrente nur beeinflussen, wenn sich während der Ehe kein wirtschaftlicher Dauerzustand herausgebildet habe.

Das LSG hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Frage zugelassen, wann im Rahmen des § 43 AVG darauf abzustellen ist, ob die Versicherte den Familienunterhalt in der Zukunft überwiegend bestritten hätte.

Die Beklagte hat Revision eingelegt mit dem Antrag, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie rügt die Verletzung des § 43 Abs. 1 AVG. Sie meint, als letzter wirtschaftlicher Dauerzustand sei nur ein Zeitraum anzusehen, von dem angenommen werden könne, daß sich seine Umstände fortgesetzt hätten, wenn die Versicherte nicht gestorben wäre. Ein derartiger Zustand habe hier jedoch niemals vorgelegen. Bereits vor dem Tode der Versicherten habe mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit festgestanden, daß sich die Unterhaltsverhältnisse grundlegend ändern würden. Hinzu komme, daß eine Berufsausbildung ihrer Natur nach ein vorübergehender Zustand sei, von dem nach § 43 AVG nicht ausgegangen werden dürfe. Das Gesetz weise insoweit eine verdeckte Lücke auf. Der Wortlaut der Bestimmung schließe es zwar nicht aus, den tatsächlichen, aber nur vorübergehenden Zustand zugrundezulegen; jedoch widerspreche die lebenslange Gewährung einer Witwerrente wegen einer zufälligen und befristeten Unterhaltssituation dem Recht der Sozialversicherung.

Man könne aber auch die Rechtsprechung des BSG zu § 42 AVG auf § 43 AVG übertragen und die mutmaßliche Entwicklung berücksichtigen, wenn der für die Unterhaltsfrage ausschlaggebende Zeitraum sehr kurz gewesen sei (BSG SozR Nr. 32 zu § 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Im vorliegenden Falle ergäbe sich dann, daß der Kläger, nicht seine Frau, die Familie überwiegend unterhalten hätte, wenn die Versicherte nicht gestorben wäre.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er verteidigt das angefochtene Urteil.

Beide Parteien haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision der Beklagten ist zulässig und auch insoweit begründet, als der Rechtsstreit an das LSG zu neuer Entscheidung zurückzuverweisen ist.

Nach § 43 Abs. 1 AVG (= § 1266 Abs. 1 RVO) erhält der Ehemann einer Versicherten nach deren Tod eine Witwerrente, wenn die Versicherte den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat. Während welcher Zeit dies der Fall gewesen sein muß, ist dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmen. Die Rechtsprechung hält den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand für maßgeblich; er ist immer eine Zeit vor dem Tode der Versicherten. Die Rechtsprechung hat zwar für den Fall der "Geschiedenen-Witwenrente", soweit es sich um die erste Alternative des § 42 AVG (= § 1265 RVO) handelt, ausnahmsweise auf den Zustand abgestellt, der sich ohne den Tod der Versicherten entwickelt haben würde, wenn die Zeit zwischen Scheidung und Tod so kurz war, daß sich noch kein wirtschaftlicher Dauerzustand entwickeln konnte (vgl. BSG, SozR Nr. 8, 24, 32 und 58 zu § 1265 RVO). Eine solche Ausnahme kommt hier nicht in Betracht; denn die Zeit nach der Eheschließung ist lange genug gewesen, um die wirtschaftlichen Verhältnisse während der Ehe zu überblicken. Außerdem ist eine Ausnahme stets nur in Fällen gemacht worden, in denen es auf die Feststellung eines Unterhaltsanspruchs angekommen ist, nicht aber auch in Fällen, in denen - wie bei der letzten Alternative des § 42 AVG und bei § 43 AVG - der tatsächlich geleistete Unterhalt festzustellen gewesen ist.

Soweit auf den Dauerzustand vor dem Tode abzustellen ist, hat die Rechtsprechung es bisher stets abgelehnt, auch vorhersehbare künftige Entwicklungen nach dem Tode zu berücksichtigen (vgl. BSG, SozR Nr. 18, 35, 46, auch 54 zu § 1265 RVO), weil der Gesetzgeber auf Grund einer generalisierenden Betrachtungsweise - unwiderlegbar - unterstellt, daß der letzte Dauerzustand vor dem Tode ohne den Tod der Versicherten wahrscheinlich fortbestanden hätte (vgl. auch BSG, Urteil vom 5. Februar 1969 - 11 RA 102/68 -). Deshalb ist es hier ohne Bedeutung, wie sich die Verhältnisse voraussichtlich ohne den Tod der Versicherten entwickelt haben würden. Das ist auch die Auffassung des Gesetzgebers; sie kommt in der neuen Fassung des § 593 Abs. 1 RVO zum Ausdruck. Der Gesetzgeber hat hier die Worte hinzugefügt "solange sie ihn (d. h. die Versicherte den Unterhalt) bestritten haben würde", um auch die voraussichtliche Entwicklung der Verhältnisse nach dem Tode berücksichtigen zu können. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist es deshalb unerheblich, ob und ab wann sich die Unterhaltsverhältnisse bei Weiterleben der Versicherten so verändert hätten, daß nicht mehr die Ehefrau den Familienunterhalt überwiegend bestritten hätte.

Die Rechtsprechung hat allerdings bei der Prüfung der Verhältnisse vor dem Tode der Versicherten auch damals schon bekannte Befristungen eines Zustandes berücksichtigt, wie z. B. das Ende eines von vornherein zeitlich befristeten Arbeitsverhältnisses (vgl. BSG, SozR Nr. 46 zu § 1265 RVO). Die Beachtung der bereits feststehenden Befristung eines unterhaltsrechtlich bedeutsamen Umstandes, die einen Zustand schon zu Lebzeiten der Versicherten nur als vorübergehend erscheinen läßt, ist aber nur wesentlich für die Frage, welcher unter mehreren verschiedenartigen Zuständen vor dem Tode der Versicherten als der maßgebende Dauerzustand anzusehen ist; sie darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Begriff "wirtschaftlicher Dauerzustand" kein im Gesetz verankerter, sondern ein von der Rechtsprechung entwickelter Begriff ist, der lediglich den Sinn hat, nicht zufällige Besonderheiten während der Unterhaltsverhältnisse vor dem Tode für den Rentenanspruch entscheidend sein zu lassen. Der "wirtschaftliche Dauerzustand" ist aber keine selbständige Voraussetzung der Witwerrente; dieser Begriff erlaubt es nicht, Verhältnisse vor dem Tode der Versicherten überhaupt nur dann zu berücksichtigen, wenn sie auf Dauer oder gar längere Dauer angelegt gewesen sind. Es können auch vorübergehende Verhältnisse als "Dauerzustand" im Sinne der Rechtsprechung angesehen werden, wenn ihnen in der Zeit vor dem Tode der Versicherten keine Zustände gegenüberstehen, die als dauerhafter zu charakterisieren sind.

Entgegen der Auffassung der Beklagten können deshalb die Verhältnisse vor dem Tode der Versicherten hier nicht sämtlich deshalb unberücksichtigt bleiben, weil sie sich voraussichtlich bald geändert hätten.

Damit ist nicht gesagt, daß das LSG bei seiner Entscheidung auf die gesamten Unterhaltsverhältnisse von der Eheschließung an bis zum Tode der Versicherten hat abstellen müssen. Denn mit der Geburt des Kindes ist eine wesentliche Änderung in den Unterhaltsverhältnissen eingetreten, weil ein weiteres unterhaltsberechtigtes Familienmitglied hinzugetreten ist. Der maßgebende letzte Dauerzustand ist deshalb der Zustand von der Geburt des Kindes an gewesen, mag auch dieser Zustand bis zum Tode der Versicherten nur einen Monat gedauert haben.

Die Unterhaltsverhältnisse in dieser Zeit hat das LSG nicht ausreichend festgestellt. Es hätte prüfen müssen, aus welchen Unterhaltsquellen der Unterhalt der Familie nach der Geburt des Kindes bestritten worden ist und inwieweit die Versicherte in dieser Zeit dazu beigetragen hat. Als ihre Leistungen kommen in Betracht: Die Bezüge, die sie nach dem Mutterschutzgesetz erhalten hat, und die Betreuung des Kindes. Diesen Leistungen gegenüber stehen die Erziehungsbeihilfe des Klägers und die Leistungen der Eltern der Versicherten, soweit sie ihr und dem Kinde unentgeltlich Unterhalt und Verpflegung gewährt haben. Wenn die Versicherte dafür zum Teil noch im Haushalt der Eltern mitgeholfen hat, ist der Wert dieser Hilfe von dem Wert der Leistungen der Eltern abzuziehen. Das BSG kann die fehlenden Feststellungen nicht selbst treffen. Es muß das angefochtene Urteil deshalb aufheben und den Rechtsstreit zu neuer Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 170 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Mit seinem abschließenden Urteil wird das LSG auch über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

BSGE, 35

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