Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 17. Oktober 1972 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur neuen Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Kläger begehrt Witwerrente aus der Rentenversicherung seiner am 28. April 1968 verstorbenen Ehefrau. Bei ihr war während einer stationären Behandlung im Oktober und November 1967 ein inoperabler Magenkrebs festgestellt worden, der während eines weiteren Krankenhausaufenthaltes (ab 25. März 1968) den Tod herbeigeführt hat. Die Beklagte hatte der Ehefrau noch im März 1968 ab Oktober 1967 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bewilligt, diese Rente ist erst nach den Tode der Frau an den Kläger ausgezahlt worden.

Die Beklagte hat den Antrag auf Witwerrente abgelehnt (Bescheid vom 13. März 1970). Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 15. September 1971), das Landessozialgericht (LSG) hat sie aus folgenden Gründen abgewiesen:

Ob die Ehefrau, wie es § 43 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) voraussetze, den Unterhalt der – aus den Eheleuten bestehenden – Familie überwiegend bestritten habe, beurteile sich nach den Verhältnissen des letzten Wirtschaftlichen Dauerzustandes vor dem Tode. Das sei der Zeitraum vom 1. Oktober 1967 bis 28. April 1968 gewesen. Die nur kurze Dauer von sieben Monaten stehe dem nicht entgegen, weil sich ab Oktober 1967 die bisherigen Verhältnisse auf Dauer entscheidend verändert hätten, gesundheitliche Behinderungen hätten seitdem die Erwerbsfähigkeit der Ehefrau stark beeinträchtigt. Ein Dauerzustand könne auch während einer zum Tode führenden Krankheit bestehen; aus Urteilen des Bundessozialgerichts (BSG) werde zwar bisweilen herausgelesen, die zum Tode führende Krankheit könne, wenn sie nicht mindestens ein Jahr gedauert habe, nicht den letzten Dauerzustand bilden; dieser Meinung könne sich das LSG nicht anschließen.

Das LSG verglich sodann die Beiträge der Eheleute zum Familienunterhalt. Es ging davon aus, daß die Ehefrau Inhaberin des von ihr betriebenen Einzelhandelsgeschäftes und der im Geschäft tätige Kläger ihr Angestellter mit einem Nettogehalt von 350,– DM monatlich war. Bei der Bewertung der Haushaltsarbeit nahm das LSG das Arbeitsentgelt einer zur Leistungsgruppe B 5 gehörenden Hauswirtschaftsangestellten in der Anlage 11 zu § 22 des Fremdrentengesetzes (FRG) zum Ausgangspunkt; es setzte den Gesamtwert der Hausarbeit mit der Hälfte dieses Entgeltes an, weil die anfallenden Arbeiten nur einen Zeitaufwand von vier Stunden täglich erfordert hätten. So kam das LSG zu Monatswerten von 275,– DM im Jahre 1967 und von 291,50 im Jahre 1968. Jeweils 1/5 davon schrieb es dem Kläger als Wert seines Anteils an der Hausarbeit in jedem Monat ab 1. Oktober 1967 gut, der Ehefrau wies es (nur) für die Monate Dezember 1967 bis März 1968 die jeweils verbleibenden monatlichen Wertbeträge, gemindert um 1/7, zu. Auf diese Weise ergab sich ein Unterhaltsbeitrag der Ehefrau von insgesamt 3.005,65 DM und ein Unterhaltsbeitrag des Klägers (unter Einbeziehung seiner Versorgungsrente) von insgesamt 3.219,20 DM; die Ehefrau hatte danach die Familie nicht überwiegend unterhalten.

Das LSG hat die Revision wegen der grundsätzlichen Rechtsfrage zugelassen, welcher Zeitraum der letzte wirtschaftliche Dauerzustand ist, wenn die zum Tode führende Krankheit der versicherten Ehefrau nicht mindestens ein Jahr, sondern sieben Monate gedauert hat.

Der Kläger beantragt mit der Revision,

  • das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,
  • hilfsweise, die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

Er rügt eine Verletzung des § 43 AVG.

Das LSG habe den Zeitraum ab 1. Oktober 1967 zu Unrecht als letzten wirtschaftlichen Dauerzustand zugrunde gelegt; seine Auffassung widerspreche der Rechtsprechung des BSG; von einem Dauerzustand ab Oktober 1967 könne hier um so weniger die Rede sein, als die Lebenserwartung der Ehefrau nur noch auf Monate bemessen und der Tod zeitlich absehbar gewesen sei. Der letzte Dauerzustand sei vielmehr die Zeit vom 1. Oktober 1966 bis 1. Oktober 1967; in dieser Zeit habe die Ehefrau den Familienunterhalt überwiegend bestritten; da insoweit allerdings Feststellungen im Berufungsurteil fehlten, rechtfertige sich die Zurückverweisung an das LSG.

Die Beklagte stellt keinen Antrag, hält aber ebenfalls eine Zurückverweisung an das LSG für angebracht. Hinsichtlich des maßgebenden Zeitraumes teilt sie die Auffassung des Klägers; sie hält es für unbillig, Witwerrente nur deshalb zu versagen, weil die Versicherte in den letzten sieben Monaten vor dem Tode wegen der zum Tode führenden Krankheit außerstande war, in bisherigem Umfang Einkünfte zu erzielen und Hausarbeit zu verrichten. Etwas anderes könne nur bei einer länger – etwa ein Jahr und mehr – dauernden Krankheit gelten. Im übrigen möchte sie jedoch die Einkünfte aus dem Einzelhandelsgeschäft und den Wert der Hausarbeit beiden Ehegatten zu gleichen Teilen zurechnen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als der Rechtsstreit zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Nach § 43 Abs. 1 AVG erhält der Ehemann nach dem Tode seiner versicherten Ehefrau Witwerrente, wenn die Verstorbene den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vor dem Tode der Ehefrau der Zeitraum, der für die Prüfung dieser Voraussetzung maßgebend ist. Das ist hier nicht streitig. Der Streit geht um die Frage, welcher Zeitraum im vorliegenden Falle als der letzte wirtschaftliche Dauerzustand anzusehen ist. Um das entscheiden zu können, bedarf es einer Erläuterung dieses Begriffs.

Der Begriff des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes ist nicht im Gesetz enthalten, sondern von der Rechtsprechung entwickelt worden. Er findet Verwendung nicht nur bei der Auslegung der Vorschriften über die Witwerrente, sondern auch der Bestimmungen über die Geschiedenenwitwenrente und wird hier wie dort gleich verstanden. Die Wurzeln der Begriffsbildung reichen in die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes –RVA– zurück (vgl. BSG 14, 129, 132, wo die Zitate richtig lauten müssen: EuM 20, 337; 24, 371; 30, 159; 33, 156). Sie selbst hat mehrere Gründe. Zum einen zwingt schon der Gesetzestext zu zeitlichen Abgrenzungen; die Vorschriften über die Witwerrente enthalten nämlich keine und die Vorschriften über die Geschiedenenwitwenrente nur eine ungeeignete Bestimmung der maßgeblichen Zeit („Zeit des Todes”); es liegt darum nahe, nicht am Todestag zu haften, sondern einen Zeitraum zugrunde zu legen, der sich freilich nicht allzu weit vom Tag des Todes entfernt. Die weiteren Überlegungen orientieren sich am Zweck der Hinterbliebenenrente. Die Unterhaltsersatzfunktion der Witwerrente wird dadurch verwirklicht, daß der Gesetzgeber die unbefristete Rentengewährung von einer bestimmten Unterhaltslage vor dem Tode der Frau abhängig macht. Damit verleiht er dieser Lage „Dauerwirkung”. Er tut das, weil er in generalisierender Betrachtungsweise unterstellt, daß die gegebene Lage ohne den Tod der Frau fortbestanden hätte. Von daher wird es verständlich, als maßgebenden Zeitraum für die Beurteilung der Unterhaltsverhältnisse einen Dauerzustand zu wählen, und zwar den, der sich unter den vor dem Tode vorhandenen Zuständen als der letzte Dauerzustand darstellt. Folgerichtig sind dann vorübergehende Besonderheiten in den Unterhaltsverhältnissen grundsätzlich ohne Bedeutung. An diese Richtlinie hat sich das LSG gehalten. Die Rechtsprechung zum letzten wirtschaftlichen Dauerzustand zeigt jedoch auch das Bestreben, Billigkeitserwägungen Raum zu geben (BSG 14, 129, 132; SozR Nr. 9 zu § 1265 der Reichsversicherungsordnung –RVO–, Aa 9 Rücks.). Gerade das Außerachtlassen vorübergehender Besonderheiten ist wiederholt mit auf solche Erwägungen gestützt worden. Billigkeitsgesichtspunkte gaben ferner Anlaß, die Bedeutung der Umstände des Einzelfalles hervorzuheben und jede schematische Handhabung abzulehnen.

In der Rechtsprechung des BSG finden sich nun mehrfach Hinweise, daß der letzte wirtschaftliche Dauerzustand mit Beginn der zum Tode führenden Krankheit ende oder doch enden könne (so SozR Nr. 1, 2, 6 und 7 zu § 1266 RVO). Die Gründe hierfür sind nicht immer deutlich. Es ist zwar einsichtig, daß die Ausklammerung dieser Zeit nur in Betracht kommt, wenn die zum Tode führende Krankheit die Unterhaltslage nachteilig verändert hat; zweifelhaft erscheint jedoch, ob die zum Tode führende Krankheit als ein vorübergehender Zustand verstanden werden soll.

Nach der Auffassung des Senats könnte mit einer solchen Betrachtungsweise die Ausklammerung der Zeit einer zum Tode führenden Krankheit nicht begründet werden. Denn diese Zeit ist häufig gerade kein vorübergehender Zustand, sondern ein solcher, der ohne den Eintritt des Todes fortbestanden hätte. Demzufolge hat auch der 4. Senat im Urteil vom 31. Oktober 1972 (4 RJ 145/72) in einem Fall, in dem der Versicherte sieben Monate nach einem Schlaganfall an derselben Krankheit gestorben war, die Krankheitszeit als den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand angesehen. Es ist daher zu prüfen, ob andere Gründe es rechtfertigen können, Zeiten einer zum Tode führenden Krankheit außer Betracht zu lassen.

Solche Gründe können nur Billigkeitserwägungen sein, die sich in die Grundgedanken der Begriffsbildung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes einfügen. Einen Anhalt hiefür bietet das Verständnis der zum Tode führenden Krankheit als „Vorstufe” des Todes (so das Urteil des Senats vom 5. Februar 1969 – 11 RA 102/68 –). Je mehr die Krankheit als Vorstufe des Todes erscheint, desto eher wird es als unbillig empfunden, die durch sie herbeigeführte dauernde Verschlechterung der Unterhaltslage zum Prüfungsmaßstab für die Voraussetzungen der Hinterbliebenenrente zu nehmen. Wie bereits dargelegt, sind Billigkeitserwägungen aber schon immer bei der Feststellung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes bedeutsam gewesen. Sie müssen auch in Fällen einer zum Tode führenden Krankheit zum Zuge kommen.

Insoweit kommt es auf die Verhältnisse des Einzelfalles entscheidend an. Das macht auch der 4. Senat in dem schon erwähnten Urteil vom 31. Oktober 1972 deutlich. Von wesentlicher Bedeutung kann es sein, wie sich der ursächliche und zeitliche Zusammenhang zwischen Krankheit und Tod jeweils darstellen. Ist der ursächliche Zusammenhang besonders deutlich und der zeitliche Zusammenhang eng, d.h. ist von der ersten Auswirkung der Krankheit bis zum Eintritt des Todes nur eine verhältnismäßig kurze Zeit vergangen, dann ist es angezeigt, die Krankheitszeit unberücksichtigt zu lassen, zumal wenn so ein wirtschaftlicher Dauerzustand zugrunde gelegt wird, der sich nicht allzu weit vom Tode entfernt. Die Zeit der Erkrankung hat aber, wie der 4. Senat zutreffend dargelegt hat, nicht allein schon deshalb außer Betracht zu bleiben, weil die Erkrankung in weniger als einem Jahr zum Tode geführt hat. Die Rechtsprechung des BSG hat sich nicht in dieser Weise festgelegt; aus der bisherigen Rechtsprechung kann nur geschlossen werden, daß jedenfalls bei längerer Dauer die Krankheitszeit nicht ausgeklammert werden darf.

Hiernach ist es aber im vorliegenden Falle, wie die Beklagte selbst vorträgt, unbillig, die Zeit des Krebsleidens für die Beurteilung der Unterhaltsverhältnisse maßgebend sein zu lassen. Das Leiden wurde im Oktober 1967 erkannt, es führte zu einer sofortigen Verschlechtung der Unterhaltslage jedenfalls insofern, als die Ehefrau während der Krankenhausbehandlungen nun zu Hausarbeiten nicht mehr imstande war. Das Krebsleiden machte den Tod absehbar; der ursächliche Zusammenhang des Todes mit dem Leiden ist besonders deutlich. Der zeitliche Zusammenhang von sieben Monaten ist ebenfalls noch eng. Das Krebsleiden ist daher hier nur eine Vorstufe des Todes gewesen, so daß es der Billigkeit entspricht, als maßgebenden wirtschaftlichen Dauerzustand die Zeit vor der Feststellung dieses Leidens zu nehmen. Damit setzt sich der Senat nicht in Widerspruch zum Urteil des 4. Senats vom 31. Oktober 1972, weil das unterschiedliche Ergebnis auf einer unterschiedlichen Bewertung der Einzelumstände der Fälle beruht.

Da für die Zeit vor Oktober 1967 ausreichende Feststellungen über die Unterhaltsverhältnisse in der Familie der Versicherten fehlen, muß das Urteil des LSG somit aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.

Bei der neuen Entscheidung hat das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden.

 

Unterschriften

Dr. Haueisen, Heyer, Dr. Buss

 

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 19.03.1973 durch Giesler Reg.Obersekretär als Urk. Beamter d. Gesch.Stelle

 

Fundstellen

BSGE, 243

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