Orientierungssatz

Ist der Begriff "Wohnen" in Art 71 Abs 1 Buchst b Ziff ii EWGV 1408/71 dahin auszulegen, daß er auch erfüllt ist, wenn ein Arbeitnehmer eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat aufnimmt, die sich auf 2 Studienjahre (ca 21 Monate) erstreckt, diese Beschäftigung im Rahmen eines akademischen Austauschdienstes erfolgt, von vornherein im jeweils üblichen Rahmen befristet ist und nach jeweils etwa 3 Monaten durch längere Ferien von insgesamt jährlich 5 Monaten unterbrochen wird, die der Arbeitnehmer in der in seinem Heimatstaat beibehaltenen Wohnung verbringt?

 

Normenkette

EWGV 1408/71 Art. 71 Abs. 1 Buchst. b Ziff. ii

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 03.06.1987; Aktenzeichen L 6 Ar 1647/84)

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 12.12.1990; Aktenzeichen 11 RAr 141/90)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Arbeitslosengeld (Alg) nach Rückkehr von einer Auslandsbeschäftigung. Umstritten ist dabei insbesondere, ob die Klägerin während ihrer gut eineinhalbjährigen Tätigkeit als Lektorin in England, in die sie durch den Deutschen Akademischen Austausch-Dienst (DAAD) vermittelt wurde, weiterhin in Deutschland gewohnt hat (Art 71 Abs 1 Buchst b Ziff ii EWG-VO 1408/71). Die Klägerin ist Sprachlehrerin und hat die zweite Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien bestanden. Ihre Wohnverhältnisse und ihr beruflicher Werdegang haben sich wie folgt entwickelt: Zumindest in der letzten Zeit ihres Studiums wohnte sie in Göttingen, wo sie ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft hatte. Vom 17. April 1978 bis 31. Oktober 1978 war sie als Sprachlehrerin beim Goethe-Institut in München tätig und hatte dort ebenfalls ein Zimmer. Ihren Wohnsitz in Göttingen hat sie in dieser Zeit nicht aufgegeben. Vom 1. November 1978 bis 30. April 1980 leistete sie Dienst als Studienreferendarin (Beamtin auf Widerruf) in Kassel. Sie mietete zu diesem Zweck am 5. November 1978 in Kassel eine Wohnung. Die Wohnung in Göttingen blieb daneben erster Wohnsitz, nach Angaben der Klägerin deshalb, weil sie wegen ihrer Promotion noch viel in Göttingen zu tun hatte.

Nach Abschluß der Referendarzeit meldete sich die Klägerin am 27. Mai 1980 arbeitslos und beantragte Alg. Dies wurde ihr für 78 Tage bewilligt. Vom 9. Juni bis 30. September 1980 war die Klägerin wieder beim Goethe-Institut in München beschäftigt und wohnte in dieser Zeit unter Beibehaltung ihres Wohnsitzes in Kassel (evtl auch des Wohnsitzes in Göttingen) in Blaubeuren.

Vom 1. Oktober 1980 bis 30. Juni 1982 war sie als Lektorin an der University of Newcastle upon Tyne tätig. Diese Tätigkeit wurde ihr durch den DAAD zunächst für ein Studienjahr (9 Monate) vermittelt; später wurde der Auftrag verlängert. Während dieser Zeit behielt sie die Wohnung in Kassel bei, und hielt sich dort auch während der Semesterferien auf (ca 1 Monat nach dem 1. Trimester, 1 Monat nach dem 2. Trimester, 3 Monate Sommerferien, 1 Monat nach dem 1. Trimester des Folgejahres, 1 Monat vor dem 2. Trimester, Ende der Beschäftigung vor den 3 Monate dauernden Sommerferien).

Am 19. August 1982 meldete sich die Klägerin erneut arbeitslos und beantragte Alg. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil die Voraussetzung des Art 67 Abs 3 EWG-VO 1408/71 (vorherige versicherungspflichtige Beschäftigung im Inland) nicht gegeben sei (Bescheid vom 30. September 1982). Mit weiterem Bescheid (vom 28. Oktober 1982) bewilligte sie der Klägerin dann jedoch den verbliebenen Rest des 1980 erworbenen Alg-Anspruchs (67 Tage). Im übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 18. November 1982).

Die hiergegen erhobene Klage hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Kassel -SG- vom 9. Oktober 1984). Auf die Berufung hob das Hessische Landessozialgericht (LSG) das Urteil und den angefochtenen Bescheid idF des Widerspruchsbescheides jedoch auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin Alg auch für die Zeit vom 5. November 1982 bis 31. März 1983 zu gewähren (Urteil vom 3. Juni 1987).

Das LSG ist aufgrund seiner Ermittlungen zu der Überzeugung gelangt, daß die Klägerin während ihrer Tätigkeit in England weiterhin in Kassel gewohnt hat. Es hat dafür als maßgeblich angesehen, daß die Klägerin vom DAAD vermittelt wurde und diese Vermittlung nur befristet war, daß sie außerdem vom DAAD eine Ausgleichszahlung zu dem Gehalt der englischen Universität auf ihr Kasseler Bankkonto erhielt, die Ferien im wesentlichen in Kassel verbracht und auch sonst in Kassel persönliche Bindungen beibehalten hat. Das LSG stützt sich zu letzterem auf die Aussage der Klägerin, daß sie in Kassel weiterhin der Gewerkschaft Erziehung und einem Chor angehört habe und die Verbindungen zu den dort tätigen Personen auch während des England-Aufenthalts nicht abgerissen seien. Im übrigen hat das LSG den Zeugen Peter P.       vernommen, der ausgesagt hat:

"Ich habe mich während ihrer Abwesenheit um die Wohnung gekümmert, die Blumen gegossen, die Post rausgeholt und im Winter den Gasofen bei Kälte angestellt. Die Wohnung war von der Klägerin voll möbliert und sie hat auch jeweils, wenn sie von England kam, irgendwelche Möbelstücke mitgebracht. Ich kann mich an einen Schranktisch, mehrere Stühle und Bilder erinnern. Ich weiß auch noch, daß die Klägerin regelmäßig in den Semesterferien nach Kassel kam, schon weil sie ihren Freundeskreis dort hatte und mich auch nicht übermäßig in der Wohnungsbetreuung belasten wollte. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß die Klägerin in den Semesterferien längere Reisen unternommen hat. Wenn sie in Kassel war, habe ich sie eigentlich regelmäßig alle zwei bis drei Tage getroffen. Ich habe unmittelbar neben dem Haus gewohnt, in dem die Klägerin ihre Wohnung hatte. Ich habe in dieser Wohnung bereits seit 1977 gewohnt".

Das LSG hat daraus gefolgert, daß der Klägerin ein neuer Alg-Anspruch zustehe, weil sie in dieser Zeit weiterhin in Deutschland gewohnt habe und dementsprechend gemäß Art 71 Abs 1 Buchst b, Buchst ii EWG-VO 1408/71 die Zeit der Tätigkeit in England bei der Berechnung der Anwartschaft zu berücksichtigen sei.

Mit der Revision macht die Beklagte geltend, daß Art 71 EWG-VO 1408/71 eng auszulegen sei. Gegen eine Fortdauer des Wohnens in Kassel spreche, daß die Klägerin in den rund 7 Jahren, in denen sie die Wohnung in Kassel unterhalten habe, diese stets als "Zweitwohnsitz" deklariert und sich dort nur während ihrer Zeit als Studienreferendarin ständig aufgehalten habe. Im übrigen habe sie an den verschiedensten Orten in Deutschland und England gewohnt. Die Wohnung in Kassel habe mehr die Funktion eines Möbellagers und nicht die eines Lebensmittelpunktes gehabt. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) reiche es nicht einmal aus, wenn ein Arbeitnehmer seine Familie im Heimatland zurücklasse, um ein Wohnen des Betroffenen am Ort seiner Familie anzunehmen. Sehr viel weniger reiche das Zurücklassen von Möbelstücken. Auch sonstige alltägliche Bindungen an Kassel könnten nach Lage der Dinge nicht sehr intensiv gewesen sein, da sie sich immer wieder an unterschiedlichen Orten aufgehalten habe. Schließlich sei darauf hinzuweisen, daß nach einem Urteil des BSG vom 13. Juni 1985 - 7 RAr 62/83 - durch ein zwar vorübergehendes, aber nicht nur für kurze Zeit eingegangenes Arbeitsverhältnis im Ausland die räumliche Verbindung zum bisherigen Wohnort gelockert und die vom EuGH aufgestellte Vermutung begründet werde, daß der Arbeitnehmer an seinem Arbeitsort auch gewohnt habe. Dies gelte besonders für eine Ledige.

Die Beklagte hat beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie beruft sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil.

 

Entscheidungsgründe

Der erkennende Senat hat das Verfahren ausgesetzt. Er legt dem EuGH gemäß Art 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWVtr) zur Vorabentscheidung die im Tenor des Beschlusses genannte Frage vor, weil es sich um eine ungeklärte Rechtsfrage handelt, deren Entscheidung dem EuGH vorbehalten ist.

Entscheidungserheblich ist, ob die Klägerin während ihrer Tätigkeit als Lektorin an einer englischen Universität iS von Art 71 Abs 1 Buchst b Ziff ii EWGVO 1408/71 weiterhin in Deutschland gewohnt hat, weil sie nur dann mit ihrer Tätigkeit in England die für den streitigen Anspruch auf Alg erforderliche Anwartschaftszeit erfüllt (§§ 100 Abs 1, 104 Abs 1 und 3 AFG). Zu dieser Frage hat der EuGH bisher nur bei anders liegenden Fällen und in allgemeiner Form Stellung genommen (vgl insbesondere Urteil vom 17. Februar 1977 - RS 76/76 - EuGHE 1977, 315 = SozR 6050 Art 71 Nr 2). Er hat den Begriff des "Wohnens" dort eigenständig unter Berücksichtigung des Zwecks der Regelung ausgelegt (vgl zur eigenständigen Bedeutung derartiger Begriffe in verschiedenen Normen auch BSG 9. Oktober 1984 - 12 RK 5/83 - SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 58). Als maßgebliche Kriterien hat der EuGH angesehen die Dauer und Kontinuität des Wohnorts, die Dauer und den Zweck der Abwesenheit, die Art der Beschäftigung und die Absichten des Arbeitnehmers unter Berücksichtigung der Gesamtumstände.

Bei Anwendung dieser Maßstäbe ist klärungsbedürftig und für die Entscheidung des vorliegenden Falles bedeutsam, ob sich aus Art 71 Abs 1 Buchst b Ziff ii EWGVO 1408/71 eine zeitliche Höchstgrenze von einigen wenigen Monaten ableiten läßt oder ob auch Auslandstätigkeiten über einen längeren Zeitraum jedenfalls dann das "Wohnen" im Heimatstaat nicht ausschließen, wenn sie nicht über zwei Jahre hinausgehen sowie jeweils nach drei Monaten durch längere Rückkehrzeiten unterbrochen werden. Bedeutsam könnte auch werden, ob das jedenfalls dann gilt, wenn die Auslandstätigkeit ihrem Zweck nach eine zeitlich begrenzte Maßnahme des Wissenschaftsaustauschs und der Völkerverständigung darstellt, wie sie vom DAAD vermittelt werden (sog "Kurzzeitdozenturen").

Der 7. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat bereits in einem anders liegenden Fall entschieden, daß Art 71 Abs 1 Buchst b Ziff ii EWG-VO 1408/71 nur anwendbar ist, wenn die Auslandstätigkeit von vornherein auf längstens vier Monate begrenzt ist (Urteil vom 13. Juni 1985 - 7 RAr 62/83 -). Er hat dabei angeknüpft an die Aussage in dem oben zitierten Urteil des EuGH (SozR 6050 Art 71 Nr 2 S 7), daß bei einem Arbeitnehmer, der in einem Mitgliedstaat einen festen Arbeitsplatz habe, zu vermuten sei, daß er auch dort wohne. Ein fester Arbeitsplatz bestehe dann, "wenn der Arbeitnehmer ein Arbeitsverhältnis eingegangen ist, bei dem die Vertragsparteien nach der Art der Tätigkeit davon ausgehen, daß dieses normalerweise nicht jederzeit beendet werden kann und auch nicht von vornherein nur für kurze Zeit dauern soll". Der Begriff "kurze Zeit" werde dabei durch entsprechende Anwendung von Art 1 Buchst b EWG-VO 1408/71 abgegrenzt: "Der Verordnungsgeber sieht ... in diesem Fall die beruflich bedingte Lockerung der Bindung an den Wohnort nach Ablauf von vier Monaten als so erheblich an, daß er dem Arbeitnehmer den bisherigen Status eines Grenzgängers nicht mehr zuerkennt. Aus diesem Grunde kann auch das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers, der kein echter Grenzgänger ist, nicht als kurzfristig gelten, wenn es länger als diese Frist dauern soll".

Der erkennende Senat ist der Ansicht, daß die in einen anderen Zusammenhang gestellte Begrenzung des Grenzgängerstatus bei Verlagerung der Arbeitsstätte aus dem Grenzbereich nicht auf Art 71 Abs 1 Buchst b Ziff ii EWG-VO 1408/71 übertragen werden kann, daß vielmehr der Zweck dieser Vorschrift eine flexible Handhabung fordert, die auch bei längerer Auslandstätigkeit die Fortdauer des Wohnens im Herkunftsland anerkennt und damit den unmittelbaren Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt des Herkunftslandes ohne Nachteile in der sozialen Sicherung ermöglicht.

Der Zweck der hier streitigen Vorschrift ergibt sich aus den Gemeinsamkeiten und den Unterschieden der beiden angesprochenen Gruppen (Grenzgänger/Sonstige, die im Heimatland wohnen). Gemeinsam ist beiden Gruppen, daß das Zentrum ihrer Lebensgestaltung im Inland liegt. Sie haben deshalb ein besonderes Interesse daran, sich im Falle der Arbeitslosigkeit eine Arbeit auf dem Arbeitsmarkt ihres Wohnlandes zu suchen. Dies soll ihnen ohne Rechtsverlust ermöglicht werden. Besonders deutlich kommt das in der neunten Begründungserwägung der EWG-VO Nr. 1408/71 zum Ausdruck. Danach bezweckt Art 71, dem Wanderarbeitnehmer Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu den Bedingungen zu garantieren, die für die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz am günstigsten sind. Es muß sich allerdings um Personen handeln, deren inländische Bindungen durch die Aufnahme der Beschäftigung im Ausland nicht wesentlich gelockert worden sind. Nur dann ist objektiv das Interesse belegt, sich bei Arbeitslosigkeit direkt dem inländischen Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen. Festgemacht werden diese Überlegungen in Art 71 EWG-VO 1408/71 an den Begriffen des "Grenzgängers" und des "Wohnens".

Welche Anforderungen an den Begriff des Wohnens zu stellen sind, wird an den Unterschieden zwischen Grenzgängern und anderen Auslandsbeschäftigten deutlich. Grenzgänger unterscheiden sich von sonstigen Personen, die gelegentlich im Ausland tätig werden, dadurch, daß deren Beschäftigung im Ausland in der Regel keine gelegentliche ist. Es sind in den ausländischen Arbeitsmarkt integrierte Personen. Sie stehen oft in Dauerarbeitsverhältnissen und sind deshalb allgemein auch bereit, weiterhin im Ausland zu arbeiten, wenn sich ihnen eine entsprechende Stelle bietet. Art 71 EWG-VO 1408/71 räumt ihnen nur deshalb (dennoch) die Möglichkeit ein, sich bei Arbeitslosigkeit auf den inländischen Arbeitsmarkt zu begeben, weil es sich von der Definition her um Personen handelt, die besonders starke inländische Bindungen haben, indem sie täglich oder wöchentlich nach Hause zurückkehren. In dem Moment, in dem diese besonderen Bindungen nicht mehr bestehen, überwiegt die Integration dieser Arbeitnehmer in den ausländischen Arbeitsmarkt. Deshalb mußten auch für Fälle, in denen diese Bindungen unterbrochen werden, Grenzen gesetzt werden, wie dies in Art 1 Buchst b EWG-VO 1408/71 geschehen ist: Nur im Falle einer Entsendung durch den Arbeitgeber und nur im zeitlichen Rahmen von längstens vier Monaten bleibt der Grenzgängerstatus erhalten.

Bei Personen, die nicht Grenzgänger sind, bildet die EWG-VO 1408/71 zwei Gruppen. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die - ebenso wie die Grenzgänger (oder stärker) - dadurch in den ausländischen Arbeitsmarkt integriert sind, daß sie dort ein für längere oder unbestimmte Zeit vereinbartes Arbeitsverhältnis eingehen und dadurch die Bindungen zu ihrem Heimatstaat lockern. Die Rechtsverhältnisse dieser Gruppe regelt Art 69 EWG-VO 1408/71. Andererseits gibt es aber auch Personen, die nur für zeitlich begrenzte Zwecke auf dem ausländischen Arbeitsmarkt tätig werden, ohne dort verbleiben zu wollen und ohne die Absicht, sich dort bei günstigen Beschäftigungsangeboten zu integrieren. Für diese Gruppe sieht Art 71 Abs 1 Buchst b Ziff ii EWG-VO 1408/71 ebenfalls das Recht vor, sich direkt dem inländischen Arbeitsmarkt wieder zur Verfügung zu stellen, sofern sie während ihrer Auslandstätigkeit weiterhin im Inland gewohnt haben. Bei Grenzgängern wird also die stärkere Integration in den ausländischen Arbeitsmarkt ausgeglichen durch stärkere Anforderungen an die inländische Bindung. Bei den von Art 71 Abs 1 Buchst b Ziff ii EWG-VO 1408/71 erfaßten Personen sind die Anforderungen an die inländischen Bindungen geringer, weil nach Art, Zweck und Dauer der Tätigkeit die Beziehung zu dem ausländischen Arbeitsmarkt schwächer ist.

Diese Unterschiede erlauben es, bei der zuletzt genannten Personengruppe auch Tätigkeiten auf dem ausländischen Arbeitsmarkt von mehr als vier Monaten hinzunehmen, sofern die Kontinuität des Wohnens in der Zwischenzeit objektiv belegbar ist.

Der 11. Senat sieht sich bei dieser Auslegung im Einklang mit der Ansicht des EuGH. In dem zitierten Urteil wird allerdings ausgeführt, die Vergünstigung des Art 71 dürfe nicht allen Wanderarbeitnehmern zugute kommen, die in einem Mitgliedstaat beschäftigt sind, während sich ihre Familien weiterhin gewöhnlich in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten. Verfüge der Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat über einen festen Arbeitsplatz, so werde vermutet, daß er dort auch wohne, selbst wenn er seine Familie in einem anderen Staat zurückgelassen habe. Diese Ausführungen sollen aber erkennbar nur ausschließen, daß auch Personen, die unter Zurücklassung der Familie auf einem ausländischen Arbeitsmarkt Fuß fassen (die oben genannte erste Gruppe), begünstigt werden. Der EuGH fährt nämlich fort, daß für die Anwendung von Art 71 die Gründe zu berücksichtigen sind, die den Arbeitgeber zur Abwanderung bewogen haben, sowie Art und Zweck seiner Tätigkeit.

Der EuGH hat eine nicht durch bestimmte Zeitgrenzen eingeengte Auffassung neuerdings dadurch gestützt, daß er Art 71 auch für anwendbar erklärt hat, wenn ein Arbeitnehmer kurz vor dem Ende eines Dauerarbeitsverhältnisses wegen Eheschließung seinen Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt und nicht beabsichtigt, in den Staat zurückzukehren, in dem er bisher gewohnt und gearbeitet hat (EuGH 22. September 1988 RS 236/87 - NJW 1989, 662 -).

Diese flexiblere Auffassung würde nach Auffassung des erkennenden Senats auch die Entscheidung erlauben, daß die Klägerin während ihrer Tätigkeit an der Universität Newcastle upon Tyne weiter in der Bundesrepublik Deutschland gewohnt hat. In diesem Zusammenhang ist nicht entscheidend, ob Kassel oder Göttingen der Mittelpunkt ihrer Interessen war, sofern nur eine Bindung an die Wohnplätze im Inland weiterhin bestand.

Nach den vom LSG getroffenen Feststellungen hatte die Tätigkeit der Klägerin in England vorübergehenden Charakter. Es war von vornherein klar, daß die Entsendung, die zunächst auf ein Studienjahr (neun Monate) erfolgte, allenfalls ein weiteres Jahr verlängert würde, wobei diese Zeit jeweils in Abständen von drei Monaten durch längere Ferien unterbrochen wurde. Die Beschäftigung zielte nach Art, Zweck und Absicht der Klägerin nicht auf einen Verbleib in England. Sie diente nicht der Integration in den englischen Arbeitsmarkt - was bei einem nach nationalen Bestimmungen ausgebildeten Gymnasiallehrer auch nicht naheliegt -, sondern dem Wissenschaftsaustausch durch vorübergehende direkte Kontakte. Die inländische Bindung ist damit belegt, daß die Klägerin die sehr umfangreichen Ferien überwiegend in Kassel verbrachte, dort ihre Wohnung weiter ausgestattet und dort auch ihre Tätigkeit in England vorbereitet hat. Ob nach alledem der Begriff des Wohnens iS von Art 71 Abs 1 Buchst b Ziff ii EWG-VO 1408/71 erfüllt ist, unterliegt der Rechtsprechung des EuGH.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660185

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