Leitsatz (amtlich)

Hat der Beschwerdeführer in der Nichtzulassungsbeschwerde zutreffend die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend gemacht und hat nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist der Große Senat des BSG zu der umstrittenen Rechtsfrage entschieden, so ist die Revision wegen Abweichung zuzulassen, wenn die Vorinstanz anders entschieden hat als es der Entscheidung des Großen Senats entspricht.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1 Fassung: 1974-07-30, Nr. 2 Fassung: 1974-07-30, § 160a Abs. 2 S. 3 Fassung: 1974-07-30

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 17. Oktober 1975 wird zugelassen.

 

Gründe

Die Beklagte hat schlüssig und zutreffend die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache beantragt (§ 160 Abs. 2 Nr. 1, § 160 a Abs. 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Sie hat auf die Vorlagebeschlüsse des 4. und 12. Senats vom 18. März und 25. September 1975 an den Großen Senat (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) hingewiesen: Da die Entscheidung des vorliegenden Falles von Fragen abhänge, über die der GS zu befinden habe, handele es sich hier um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung.

In der Sache ist umstritten, ob der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zusteht. Das Landessozialgericht (LSG) hat dies bejaht und festgestellt, daß sie nur noch halb- bis untervollschichtig körperlich leichte Frauenarbeiten mit weiteren Einschränkungen verrichten kann; im Hinblick auf die starke Einschränkung der für sie vorhandenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsfeld sei ihr der Teilzeitarbeitsmarkt praktisch verschlossen.

In der Zeit nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist hat der GS am 10. Dezember 1976 über die von der Beklagten angeführten Vorlagebeschlüsse entschieden. Danach hat die Rechtssache zwar keine grundsätzliche Bedeutung mehr, wie von der Beklagten dargetan; jedoch stimmt nun die Entscheidung des LSG nicht mehr mit der Entscheidung des GS überein, denn der GS hat die Entscheidungssätze seiner Beschlüsse vom 11. Dezember 1969 (BSG 30, 167, 192) nicht aufrechterhalten. Er hat u.a. entschieden, daß einem nur zu Teilzeitarbeit fähigen Versicherten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist, wenn ihm innerhalb eines Jahres seit Stellung des Rentenantrages nicht ein für ihn in Betracht kommender Arbeitsplatz angeboten werden kann. Die neuen Entscheidungssätze des GS haben für alle noch nicht rechtskräftig entschiedenen Fälle der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit von nur zu Teilzeitarbeit fähigen Versicherten Bedeutung. Insofern besteht nun eine Divergenz zwischen der Entscheidung des LSG und der des GS.

Daß die Beklagte in der Beschwerdebegründung noch nicht eine Divergenz als Revisionszulassungsgrund bezeichnen konnte, steht der Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG nicht entgegen. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat zu der entsprechenden Vorschrift des § 115 der Finanzgerichtsordnung (FGO) in Fällen wie dem vorliegenden mit Beschluß vom 20. Juni 1974 (BFHE 112, 342 mit weiteren Hinweisen) entschieden: Wurde ein Urteil eines Finanzgerichts wegen der Nichtzulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO angefochten und ergeht erst später nach dem Eingang der Nichtzulassungsbeschwerde ein Urteil des BFH, aus dem sich eine Abweichung zu dem angefochtenen Urteil des Finanzgerichts ergibt, so ist die Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 3 FGO zuzulassen. Der BFH hat ausgeführt, daß eine verfassungskonforme Auslegung des § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO (diese Vorschrift entspricht § 160 a Abs. 2 Satz 3 SGG) eine Darlegung der Abweichung des finanzgerichtlichen Urteils von einem Urteil des BFH innerhalb der Monatsfrist nach Zustellung des finanzgerichtlichen Urteils jedenfalls dann nicht erforderlich mache, wenn das BFH-Urteil erst so spät veröffentlicht oder bekannt geworden sei, daß der Beschwerdeführer sich auf die Divergenz nicht mehr habe berufen können. Die Zulassungsgründe der Nummern 1 und 2 (grundsätzliche Bedeutung, Divergenz - Revision) dienten gemeinsam dem Ziel, die Rechtseinheit zu wahren.

Der Senat faßt § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 und § 160 a Abs. 2 Satz 3 SGG ebenfalls in diesem Sinn auf (vgl. auch BFH vom 29. Juli 1976 - V B 10/76 in Der Betriebsberater 1976, 1301).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657298

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