Entscheidungsstichwort (Thema)

Leistungsgewährung an Übersiedler. Eingliederungsgeld. Arbeitslosengeld. Verfassungsmäßigkeit

 

Orientierungssatz

1. Für die Ungleichbehandlung derjenigen Arbeitslosen, die bereits vor dem 29. Juni 1990 in die Bundesrepublik Deutschland übersiedelt sind und denjenigen, die nach dem 29. Juni 1990 in der Bundesrepublik Deutschland eingetroffen sind, gibt es sachlich einleuchtende Gründe.

2. Die Regelung des § 62a AFG iVm der Übergangsvorschrift des § 242l Abs 1 S 1 und Abs 3 AFG begegnet nicht unter sozial- und rechtsstaatlichen Gesichtspunkten sowie im Hinblick auf Art 14 Abs 1 GG verfassungsrechtlichen Bedenken.

3. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß wurde nicht zur Entscheidung angenommen (vgl BVerfG 1. Senat 2. Kammer vom 3.11.1993 - 1 BvR 1792/93).

 

Normenkette

AFG § 62a Fassung: 1989-12-22, § 242l Abs 1 S 1, § 242l Abs 3, § 242j Abs 1; GG Art 14 Abs 1; GG Art 3 Abs 1; GG Art 20 Abs 3

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 21.04.1993; Aktenzeichen L-6/Ar-219/92)

 

Tatbestand

Der 1931 geborene Kläger, der am 6. Februar 1990 von R nach B H - übersiedelte, bezog ab 22. Februar 1990 Eingliederungsgeld nach einem täglichen Leistungssatz in Höhe von 47,10 DM (Bescheid vom 14. Januar 1991). Nach Anspruchserschöpfung erhielt er ab 21. Februar 1991 Arbeitslosenhilfe (Alhi) nach einem täglichen Leistungssatz von 87,40 DM. Mit Schreiben vom 19. Februar 1991 beantragte der Kläger, der seit 23. Januar 1991 im Besitz eines Ausweises für Vertriebene und Flüchtlinge ist, unter Hinweis auf seinen Status, ihm statt des bewilligten Eingliederungsgeldes das (höhere) Arbeitslosengeld (Alg) zu gewähren. Die Bundesanstalt für Arbeit (BA) lehnte eine Rücknahme des Bewilligungsbescheides vom 14. Januar 1991 ab, da die Gewährung von Eingliederungsgeld der gesetzlichen Regelung in § 62a Arbeitsförderungsgesetz (AFG) in der ab 1. Januar 1990 geltenden Fassung entsprochen habe. Maßgebend sei allein, daß der Kläger nach dem 31. Dezember 1989, aber vor dem 30. Juni 1990, seinen ständigen Wohnsitz im Geltungsbereich des AFG genommen habe (§§ 242 j Abs 1, 242 l Abs 1 AFG).

Die hiergegen erhobene Klage war erfolglos (Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 23. Januar 1992). Das Landessozialgericht (LSG) hat das die Klage abweisende Urteil des SG bestätigt und die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, der Kläger habe für die Zeit vom Leistungsbeginn des Eingliederungsgeldes (22. Februar 1990) bis zum Inkrafttreten des Gesetzes über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 25. Juni 1990 (BGBl II, 518) unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt einen Anspruch auf Alg. Denn dieses Gesetz sei erst am 30. Juni 1990 in Kraft getreten. Soweit der Kläger eine Gleichbehandlung mit den nach dem 29. Juni 1990 in der Bundesrepublik Deutschland eingetroffenen Übersiedlern begehre, sei dies ausdrücklich durch die gesetzliche Regelung des § 242 l Abs 3 Satz 2 AFG ausgeschlossen. Danach sei vorgesehen, daß Zeiten, die vor Entstehung eines Anspruchs auf Eingliederungsgeld liegen, unberücksichtigt bleiben. Die vom Kläger in der (ehemaligen) Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zurückgelegte Anwartschaftszeit sei durch den Anspruch auf Eingliederungsgeld verbraucht und könne nicht nochmals für einen ab 30. Juni 1990 grundsätzlich für Übersiedler aus der DDR nun wieder möglichen Alg-Anspruch verwendet werden. Verfassungsrechtlich sei die gesetzliche Regelung - wie bereits vom SG ausgeführt - nicht zu beanstanden. Der Gesetzgeber sei nicht verpflichtet gewesen, die aufgrund des Eingliederungs-Anpassungsgesetzes vom 22. Dezember 1989 in der Folgezeit bereits entstandenen Ansprüche auf Eingliederungsgeld mit dem 30. Juni 1990 in Ansprüche auf Alg umzuwandeln.

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger geltend, das LSG habe wesentliche verfassungsrechtliche Aspekte übersehen. Es widerspreche dem Gleichheitsgrundsatz, daß für Übersiedler aus der DDR ab 30. Juni 1990 das normale Leistungssystem nach dem AFG und nicht mehr § 62a AFG gelte. Darüber hinaus werde er aber auch im Vergleich zu solchen Arbeitnehmern benachteiligt, denen nunmehr nach Vollendung des 55. Lebensjahres Altersübergangsgeld für die Dauer von 1560 Tagen gewährt werde. Es sei versäumt worden, nach dem Inkrafttreten des Vertrages vom 18. Mai 1990 bzw dem Einigungsvertrag vom 3. Oktober 1990 die Ansprüche ehemaliger Übersiedler dem normalen Leistungssystem nach dem AFG anzupassen. Die jetzige Rechtslage sei sozial ungerechtfertigt und verletze auch das Sozialstaats- und Rechtsstaatsprinzip und Art 14 Grundgesetz (GG). Im übrigen weise das angefochtene Urteil auch Verfahrensfehler auf. Denn er habe nie den Antrag gestellt, Alg ab 22. Februar 1990 zu erhalten. Vielmehr habe er beantragt, Alg ab Abschluß des Einigungsvertrages (18. Mai 1990) - gemindert um das in der Zeit vom 21. Februar bis 18. Mai 1990 erhaltene Eingliederungsgeld - zu erhalten. Auch sei zu beanstanden, daß in der Sitzungsniederschrift über den Termin zur mündlichen Verhandlung am 23. Januar 1992 vor dem LSG folgendes festgehalten worden sei: "Für den Kläger: Niemand. Es wird festgestellt, daß der Kläger zum heutigen Termin ordnungsgemäß geladen worden ist". Diese Formulierung sei tendenziös. Aus der Niederschrift gehe nicht hervor, daß ihm in der Ladung freigestellt worden sei, zu erscheinen und andernfalls eine Entscheidung nach Lage der Akten ergehen könne.

Der Kläger beantragt außerdem Prozeßkostenhilfe und die Beiordnung eines Rechtsanwalts.

 

Entscheidungsgründe

Prozeßkostenhilfe ist nur zu gewähren, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung eine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG), § 114 Zivilprozeßordnung (ZPO)). Hinreichende Aussicht auf Erfolg hätte die Rechtsverfolgung nur dann, wenn einer der drei in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Gründe gegeben wäre, die zur Zulassung der Revision führen. Es ist jedoch keiner dieser Gründe ersichtlich.

Soweit der Kläger mit seinem Vorbringen Verfahrensmängel geltend macht, verkennt er offensichtlich den Begriff des Verfahrensmangels. Verfahrensmangel ist ein Verstoß gegen eine Vorschrift, die das sozialgerichtliche Verfahren regelt. Der Mangel bezieht sich nicht auf den sachlichen Inhalt des Urteils, es geht also nicht um die Richtigkeit der Entscheidung, sondern um das prozessuale Vorgehen des Gerichts auf dem Weg zum Urteil. Der Hinweis des Klägers, das LSG habe im Tatbestand seiner Entscheidung den Sachverhalt insoweit unkorrekt wiedergegeben, als er nie einen Antrag auf Alg für die Zeit ab 22. Februar 1990 gestellt habe, betrifft den sachlichen Inhalt der Entscheidung, nicht das prozessuale Vorgehen des Gerichts. Im übrigen ergibt sich aus der Entscheidung des LSG, daß der vom Kläger gerügte Mangel sich auf die Entscheidung nicht ausgewirkt hat. Denn Gegenstand des Rechtsstreits war der vom Kläger gestellte - und auf Seite 6 des Urteilsumdrucks wiedergegebene - Sachantrag, das Urteil des SG sowie den angefochtenen Bescheid der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Überprüfungsantrag vom 19. Februar 1991 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Soweit der Kläger ferner die Formulierungen im Protokoll über die mündliche Verhandlung vor dem LSG am 21. April 1993 beanstandet hat, handelt es sich ebenfalls um keinen Verfahrensmangel, sondern um eine der gesetzlichen Vorschrift des § 160 Abs 1 Nr 4 ZPO entsprechende Protokollierung. Danach enthält das Protokoll die Namen der erschienenen Parteien und ihrer Bevollmächtigten. Ohne die Beteiligten darf gemäß § 110 Abs 1 SGG nur entschieden werden, wenn sie in der Ladung darauf hingewiesen worden sind, daß im Falle ihres Ausbleibens nach Lage der Akten entschieden werden kann. Deshalb gehört diese Feststellung ebenfalls zu den wesentlichen Vorgängen, die in die Niederschrift über die mündliche Verhandlung nach § 122 SGG iVm §§ 159 Abs 1, 160 Abs 2 ZPO aufzunehmen sind.

Der Rechtssache kommt auch keine grundsätzliche Bedeutung zu (§ 160 Abs 1 Nr 1 SGG). Dies wäre nur der Fall, wenn im Revisionsverfahren bislang ungeklärt gebliebene Rechtsfragen von allgemeiner Bedeutung geklärt werden könnten. Dies ist nicht ersichtlich. Denn für die vom Kläger im Kern geltend gemachte Ungleichbehandlung derjenigen Arbeitslosen, die - wie er - bereits vor dem 29. Juni 1990 in die Bundesrepublik Deutschland übersiedelt sind und denjenigen, die nach dem 29. Juni 1990 in der Bundesrepublik Deutschland eingetroffen sind, gibt es - wie bereits in den Entscheidungen des SG und des LSG eingehend dargestellt worden ist - sachlich einleuchtende Gründe. Die hier einschlägige Regelung des § 62a AFG iVm der Übergangsvorschrift des § 242 l Abs 1 Satz 1 und Abs 3 AFG begegnet auch nicht - wie der Kläger meint - unter sozial- und rechtsstaatlichen Gesichtspunkten sowie im Hinblick auf Art 14 Abs 1 GG verfassungsrechtlichen Bedenken. Es lag im Spielraum des Gesetzgebers, Sachverhalte in einer Zeit vor dem Vertrag vom 18. Mai 1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und der dort erklärten Absicht, gemäß Art 23 GG der Bundesrepublik Deutschland beizutreten, anders zu behandeln als danach. Im übrigen liegt auch kein Eingriff in eine Rechtsposition vor, die an Art 14 GG gemessen werden könnte. Gegenstand der Eigentumsgarantie können nur bestehende Ansprüche gegen einen deutschen Sozialleistungsträger sein. Derartige Ansprüche hat der Kläger jedoch vor seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland nicht erworben. Er hatte im Zeitpunkt seiner Antragstellung nur einen Anspruch auf Eingliederungsgeld, nicht jedoch einen Anspruch auf Alg (vgl Übergangsvorschrift des § 242 j Abs 1 AFG).

Schließlich weicht das Urteil des LSG auch nicht von einer obergerichtlichen Entscheidung ab (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG).

Bietet die beabsichtigte Rechtsverfolgung demnach keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, kann dem Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe und der Beiordnung eines Rechtsanwalts nicht entsprochen werden.

Die vom Kläger selbst eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde ist entsprechend § 169 SGG als unzulässig zu verwerfen. Die Beschwerde entspricht nicht den zwingenden gesetzlichen Vorschriften. Der Kläger muß sich vor dem Bundessozialgericht (BSG) gemäß § 166 SGG durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten lassen. Schon die Beschwerdeschrift muß von einem nach § 166 Abs 2 SGG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten unterzeichnet sein. Hierauf ist der Kläger in der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils ausdrücklich hingewiesen worden.

Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653961

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