Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 15.11.1993; Aktenzeichen L 7 Ar 59/92)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. November 1993 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin begehrt höheres Eingliederungsgeld (Egg) für die Zeit vom 28. Juni 1991 bis 8. September 1992.

Sie ist als – mittlerweile anerkannte – Aussiedlerin mit ihrem Ehemann und einem Kind am 8. März 1991 in der Bundesrepublik Deutschland eingetroffen. Das Bundesverwaltungsamt stellte einen Registrierschein aus, in dem als aufnehmendes Bundesland Thüringen bestimmt wurde (Aufnahmebescheid vom 19. März 1991).

Nachdem sie sich zunächst am 11. März 1991 beim Arbeitsamt Jena arbeitslos gemeldet hatte und von dort Egg gezahlt worden war, zog sie im Mai 1991 nach Artern bei Nordhausen (Thüringen) um. Sie meldete sich wiederum arbeitslos und beantragte Egg, das ihr ab 31. Mai 1991 in Höhe von 101,40 DM wöchentlich bewilligt wurde. Nach einem weiteren Umzug (im Juni 1991) nach Elmshorn (Schleswig-Holstein) meldete sie sich dort am 28. Juni 1991 arbeitslos; Egg wurde ihr daraufhin ab 28. Juni 1991 (ebenfalls in Höhe von 101,40 DM wöchentlich) unter Berücksichtigung eines Bemessungsentgeltes von 250,00 DM und Leistungsgruppe D erneut bewilligt (Bescheid vom 21. August 1991; Widerspruchsbescheid vom 2. Oktober 1991).

Nach Erhebung der Klage beim Sozialgericht (SG) nahm die Klägerin in der Zeit vom 6. Januar bis 31. August 1992 an einem Deutsch-Sprachlehrgang teil. Ab 6. Januar 1992 bewilligte die Beklagte Egg nunmehr in Höhe von (nur) 100,20 DM wöchentlich bei gleichem Bemessungsentgelt und gleicher Leistungsgruppe; den früheren Bewilligungsbescheid hob sie rückwirkend ab 6. Januar 1992 auf, gewährte aber ab 11. März 1992 Egg nach einem (erstmals) dynamisierten Bemessungsentgelt von 260,00 DM in Höhe von 103,80 DM wöchentlich (drei Bescheide vom 16. März 1992). Für die Zeit nach Beendigung des Deutsch-Sprachlehrgangs (ab 1. September 1992) verblieb es bei der Zahlung von Egg in Höhe von 103,80 DM wöchentlich (Bescheid vom 31. August 1992).

Die Klage auf höhere Leistungen war erstinstanzlich erfolglos (Urteil des SG vom 17. Juni 1992). Während des anschließenden Berufungsverfahrens gab die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vom 15. November 1993 ein Teilanerkenntnis dahin ab, daß Egg ab 11. September 1991 nach einem (dynamisierten) Bemessungsentgelt von 300,00 DM und ab 11. März 1992 von 340,00 DM gezahlt werde; dieses Teilanerkenntnis hat die Klägerin angenommen. Die darüber hinausgehende Berufung der Klägerin blieb erfolglos (Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 15. November 1993). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, die Klägerin habe nach § 62a Arbeitsförderungsgesetz (AFG) in der bis 31. Dezember 1992 geltenden Fassung keinen Anspruch auf höheres Egg. Gemäß § 62a Abs 3 AFG bemesse sich das Egg prozentual nach einem Arbeitsentgelt in Höhe von 70 vH der Bezugsgröße (§ 18 Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – ≪SGB IV≫), die bei Entstehung des Anspruchs, vorliegend am 11. März 1991, maßgebend sei. § 249c Abs 3 AFG verweise auf die Bezugsgröße, die in dem Land gelte, das nach § 2 der Verteilungsverordnung für den Aussiedler als Aufnahmeland festgelegt worden sei. Für die Klägerin sei dies Thüringen; trotz des späteren Umzugs nach Schleswig-Holstein bestimme somit weiterhin die Bezugsgröße des Beitrittsgebiets (erstes Halbjahr 1991 = 1.540,00 DM monatlich) die Höhe des Egg.

Mit der Revision rügt die Klägerin, die Vorschrift des § 249c Abs 3 AFG sei verfassungswidrig; die Höhe des Egg müsse sich am frei gewählten Wohnsitz und am Bedarfsdeckungsprinzip orientieren. Die Kommunen würden sonst unzumutbar belastet, wenn über Sozialhilfeleistungen die Rechtsfolgen des § 249c Abs 3 AFG aufgefangen werden müßten. Keine Gemeinde der alten Bundesländer sei unter diesen Voraussetzungen künftig bereit, Wohnraum für Aussiedler zur Verfügung zu stellen, die bisher gemäß vorgesehener Verteilung in Sammellagern des Beitrittsgebiets gewohnt hätten. Art 3 Abs 1 und 11 Grundgesetz (GG) seien deshalb verletzt.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Urteile des SG und des LSG, den Bescheid vom 21. August 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Oktober 1991, die Bescheide vom 16. März 1992 und den Bescheid vom 31. August 1992 aufzuheben sowie die Beklagte zu verurteilen, höheres Egg unter Berücksichtigung der für die alten Bundesländer geltenden Bezugsgröße zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, die Klägerin erhalte seit 1. Juli 1991 von der Stadt Elmshorn Sozialhilfeleistungen; ein möglicher Anspruch auf höheres Egg gelte insoweit bereits als erfüllt (§ 107 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – ≪SGB X≫). Zu Recht habe das LSG allerdings in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise entschieden, daß das der Klägerin zu zahlende Egg ohnedies an der für das Beitrittsgebiet geltenden Bezugsgröße zu messen sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist iS der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG), da der Senat mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen nicht zu entscheiden vermag, ob der Klägerin höheres Egg zusteht.

Gegenstand des Revisionsverfahrens sind der Bescheid der Beklagten vom 21. August 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Oktober 1991 über die Gewährung von Egg ab 28. Juni 1991, die Bescheide der Beklagten vom 16. März 1992 über die Gewährung von Egg ab 6. Januar 1992 bzw 11. März 1992, der Bescheid vom 16. März 1992 betreffend die Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 21. August 1991 mit Wirkung ab 6. Januar 1992 und der Bescheid vom 31. August 1992 über die Gewährung von Egg ab 1. September 1992. Letzterer ist gemäß §§ 153 Abs 1, 96 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden, während die Bescheide vom 16. März 1992 bereits Gegenstand des Verfahrens beim SG waren (§ 96 SGG). Möglicherweise ist allerdings vor Klageerhebung ein weiterer Bescheid ergangen; aus der Leistungsakte der Beklagten ergeben sich jedenfalls Hinweise darauf, daß das ab 28. Juni 1991 bewilligte Egg für die Zeit bis 28. August 1991 in vollem Umfang und bis 11. September 1991 teilweise an den Sozialhilfeträger ausgezahlt worden ist. Näherer Ermittlungen hierzu durch den Senat bedarf es gleichwohl wegen der ohnedies erforderlichen Zurückverweisung der Sache an das LSG nicht.

Inhaltlich ist in gleicher Weise zweifelhaft, welchen Egg-Mehrbetrag die Klägerin geltend macht. Sollte sie nämlich das ihr bewilligte Egg wegen der Zahlungen an den Sozialhilfeträger nicht in voller Höhe erhalten haben, könnte sich ihr Klagebegehren auch auf eine Verurteilung der Beklagten zur Zahlung dieser nicht ausgezahlten Beträge erstrecken. Das LSG wird dies zu ermitteln haben; dabei wird es sich zudem Klarheit zu verschaffen haben, in welchem Umfang das angenommene Anerkenntnis den Rechtsstreit erledigt hat (§ 101 Abs 2 SGG) und welche verfahrensrechtlichen Auswirkungen der auf das Anerkenntnis mittlerweile ergangene Bescheid der Beklagten vom 3. Februar 1994 (Gewährung von Egg in Höhe von 118,80 DM wöchentlich ab 11. September 1991, in Höhe von 118,20 DM wöchentlich ab 6. Januar 1992 und in Höhe von 132,00 DM wöchentlich ab 11. März 1992) besitzt, der nach Zurückverweisung der Sache in der Berufungsinstanz anhängig wird (BSGE 9, 78 f; BSG, Urteil vom 10. März 1994 – 7 RAr 56/93 –, zur Veröffentlichung vorgesehen; Urteil vom 1. Juni 1994 – 7 RAr 86/93 –, unveröffentlicht). Gegen die noch wirksamen Bescheide (§ 39 Abs 2 SGB X) der Beklagten wendet sich die Klägerin jedenfalls mit der Anfechtungs-und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4 SGG), soweit höheres Egg abgelehnt wurde.

Prozessuale Hinderungsgründe für eine Sachentscheidung liegen nicht vor. Daß das LSG den Sozialhilfeträger nicht beigeladen hat, steht einer Sachentscheidung nicht entgegen. Trotz eines wegen der Zahlung von Sozialhilfe denkbaren Erstattungsanspruchs aus § 104 SGB X ist nämlich ein Fall der notwendigen Beiladung (§ 75 Abs 2 SGG) nicht zu bejahen, da der Sozialhilfeträger am streitigen Rechtsverhältnis nicht derart beteiligt ist, daß die Entscheidung auch ihm gegenüber nur einheitlich ergehen kann (vgl BSGE 61, 66, 68 = SozR 2200 § 182 Nr 104; BSGE 72, 105 ff = SozR 3-4100 § 169b Nr 1, insoweit nicht abgedruckt; BSGE 73, 10 ff = SozR 3-4100 § 118 Nr 4, insoweit nicht abgedruckt; BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 7, insoweit nicht abgedruckt). Eine Beiladung ist folglich auch im Revisionsverfahren nicht möglich (§ 168 SGG idF des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 – BGBl I 50).

Gegenwärtig bestehen zwar keine näheren Anhaltspunkte für eine Unzulässigkeit der Klage. Jedoch wird das LSG sein Augenmerk auf das Rechtsschutzinteresse der Klägerin zu richten haben, falls weitere Ermittlungen ergeben sollten, daß wegen eines bestehenden Erstattungsanspruchs des Sozialhilfeträgers (§ 104 SGB X) der Anspruch der Klägerin auf höheres Egg ohnedies in vollem Umfang als erfüllt gelten würde (§ 107 Abs 1 SGB X). Möglicherweise fehlt es der Klägerin dann an einem ernsthaften Willen zur Fortsetzung des Verfahrens.

Sonstige bei zulässiger Revision zu beachtende Verfahrensmängel liegen nicht vor. Insbesondere war die Berufung gemäß § 150 Nr 1 SGG in der bis 28. Februar geltenden Fassung ungeachtet des Berufungsausschlusses nach § 147 SGG aF kraft Zulassung durch das SG statthaft, und ein Verstoß gegen §§ 153 Abs 1, 96 SGG wegen Nichtbeachtung des Bescheides vom 27. August 1992 (Teilaufhebung der Egg-Bewilligung für die Zeit vom 8. bis 11. Oktober 1991) ist nicht gerügt (vgl zu dieser Voraussetzung BSG SozR 1500 § 53 Nr 2).

Ob der Klägerin allerdings höheres als das zugebilligte bzw gezahlte Egg zusteht, läßt sich anhand des vom LSG festgestellten Sachverhalts nicht abschließend beurteilen.

Dies mißt sich an § 62a AFG idF des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag (EinigVtr) – vom 31. August 1990 iVm dem Einigungsvertragsgesetz vom 23. September 1990 (BGBl II 885), bzw während der Teilnahme am Deutsch-Sprachlehrgang an § 62c AFG idF des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 (BGBl I 1354) und des am 1. Juli 1991 in Kraft getretenen Gesetzes zur Änderung arbeitsförderungsrechtlicher und anderer sozialrechtlicher Vorschriften vom 21. Juni 1991 (BGBl I 1306). Spätere Änderungen berühren den geltend gemachten Anspruch nicht mehr, da er – soweit es § 62a AFG betrifft – vor dem 1. Januar 1993 entstanden ist und da – soweit es § 62c AFG betrifft – die Klägerin vor diesem Zeitpunkt in einen Deutsch-Sprachlehrgang eingetreten ist sowie Leistungen bewilligt erhalten hat (§ 242m Abs 2 und 4 AFG).

Nach § 62a Abs 1 AFG haben Aussiedler, die nach dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG) Rechte und Vergünstigungen in Anspruch nehmen können, unter bestimmten Voraussetzungen (Arbeitslosigkeit, Verfügbarkeit, Arbeitslosmeldung, Antrag, Beschäftigung innerhalb einer Vorfrist, Bereitschaft zur Teilnahme an einem Deutsch-Sprachlehrgang) Anspruch auf Egg, und zwar für die Dauer von 312 Tagen (§ 62a Abs 2 AFG) – ohne Anrechnung des wegen Teilnahme an einem Deutsch-Sprachlehrgang gewährten Egg (§ 62a Abs 6 Nr 1 AFG). Während der Teilnahme an einem ganztägigen Deutsch-Sprachlehrgang wird dann Egg gewährt (§ 62c AFG), ohne daß Verfügbarkeit im üblichen Sinne vorliegen muß, wenn die für die berufliche Eingliederung erforderlichen Kenntnisse der deutschen Sprache nicht vorhanden sind und die Voraussetzungen der §§ 33, 34 AFG (Förderung der beruflichen Bildung) vorliegen (§ 62e AFG idF des Gesetzes zur Anpassung von Eingliederungsleistungen für Aussiedler und Übersiedler vom 22. Dezember 1989 – BGBl I 2398).

Das Egg bemißt sich in beiden Fällen gemäß § 62a Abs 3 Satz 1 AFG nach einem Arbeitsentgelt in Höhe von 70 vH der Bezugsgröße (§ 18 SGB IV), die bei Entstehung des Anspruchs maßgebend ist; es beträgt 63 vH dieses um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderten Betrags (§ 62a Abs 3 Satz 3 AFG). Der genaue wöchentliche Zahlbetrag wird ermittelt mit Hilfe der Leistungsverordnungen (§§ 62a Abs 6 Satz 1, 111 Abs 2 AFG) unter Berücksichtigung der auf der Lohnsteuerkarte eingetragenen Lohnsteuerklasse (§ 62a Abs 6 Satz 1 AFG iVm § 113 AFG) und regelmäßiger Dynamisierungen (§ 62a Abs 6 AFG iVm § 112a AFG idF des Rentenreformgesetzes 1992 und § 249c Abs 13 idF des EinigVtr bzw ab 30. Juni 1991 idF des Renten-Überleitungsgesetzes). Der so berechnete Leistungsbetrag erhöht sich schließlich uU um 30,00 DM im Hinblick auf den Familienstatus des Aussiedlers (§ 62a Abs 3 Sätze 4 und 5 AFG).

Es ist bereits nicht sicher nachvollziehbar, warum die Beklagte keine Erhöhung des der Klägerin bewilligten Egg um diese 30,00 DM vorgenommen hat. Es ist zwar denkbar, daß dies geschehen ist, weil auch der Ehemann der Klägerin Egg bezog (§ 62a Abs 3 Satz 5 Nr 2 AFG); Ausführungen des LSG fehlen jedoch hierzu ebenso wie zur Steuerklasse der Klägerin. Damit ist dem Senat die Entscheidung darüber verwehrt, welche Leistungsgruppe (§ 111 Abs 2 AFG) maßgeblich ist. Das LSG wird die entsprechenden Feststellungen noch zu treffen haben. Dabei wird es außerdem genau untersuchen müssen, durch welche im streitigen Zeitraum ergangenen, noch wirksamen Bescheide – von der Frage der Notwendigkeit zum Erlaß aller Bescheide einmal abgesehen – bereits bestehende Rechtspositionen zulässigerweise verschlechtert worden sind (§§ 45, 48 SGB X); das gilt auch für eventuell nicht aufgehobene Bewilligungen von Egg für vor dem streitigen Zeitraum liegende Zeiten, die aber in den streitigen Zeitraum hinein fortwirkten und für vom LSG bislang übersehene, den streitigen Zeitraum selbst betreffende Bescheide (vgl BSG, Urteil vom 26. November 1992 – 7 RAr 28/92 –, unveröffentlicht).

Diese umfassende Prüfung wird nicht dadurch entbehrlich, daß die Klägerin ihre Einwände gegen die Bewilligungsbescheide darauf beschränkt hat, höheres Egg nach Maßgabe der für die alten Bundesländer geltenden Bezugsgröße zu gewähren. Da die Klägerin kein Dispositionsrecht darüber besitzt, welche Rechtsvorschriften das Gericht anzuwenden hat, und den geltend gemachten Anspruch nicht erkennbar auf einen höhenmäßig bestimmbaren Betrag beschränkt hat (vgl dazu: BSG, Urteil vom 10. März 1994 – 7 RAr 56/93 –, zur Veröffentlichung vorgesehen; Urteil vom 1. Juni 1994 – 7 RAr 86/93 –, unveröffentlicht), muß das Gericht alle bedeutsamen Anspruchsmerkmale prüfen (BSGE 67, 20, 21 = SozR 3-4100 § 138 Nr 3; BSG SozR 4100 § 136 Nr 5; SozR 4100 § 138 Nrn 14 und 24).

Zu Recht hat das LSG jedoch in Übereinstimmung mit der Beklagten der Bemessung des der Klägerin gewährten Egg zunächst ein Bemessungsentgelt von 250,00 DM zugrunde gelegt, das gemäß §§ 62a Abs 6 Nr 2, 112a, 249c Abs 13 AFG ab 11. September 1991 auf 300,00 DM bzw ab 11. März 1992 auf 340,00 DM wöchentlich zu erhöhen war (vgl zur Methode der Dynamisierung: BSGE 72, 177, 185 = SozR 3-4100 § 112 Nr 13).

Nach § 62a Abs 3 Satz 1 AFG iVm dem durch den EinigVtr eingefügten und mit Wirkung ab 1. Januar 1993 wieder aufgehobenen Abs 3 des § 249c AFG bemißt sich nämlich das der Klägerin zustehende Egg nach der Bezugsgröße, die in dem Land gilt, das nach § 2 der Verteilungsverordnung in der in BGBl III, Gliederungsnummer 240-3, veröffentlichten bereinigten Fassung (aufgehoben mit Wirkung vom 1. Januar 1993 durch Art 8 des Gesetzes zur Bereinigung von Kriegsfolgengesetzen vom 21. Dezember 1992 – BGBl I 2094) für den Aussiedler als Aufnahmeland festgelegt ist oder festgelegt wird. Dies war für die Klägerin das Land Thüringen, in dem sie zunächst ihren Wohnsitz hatte; spätere Umzüge ändern an dieser Rechtslage für den Anspruch auf Egg, der nur einmal entsteht (§ 62a Abs 1 Satz 3 AFG), mangels entsprechender gesetzlicher Regelungen nichts mehr.

Entgegen der Ansicht der Klägerin verletzt dies nicht ihre Grundrechte aus Art 11 und 3 Abs 1 GG.

Zwar kann sie sich gemäß Art 116 Abs 1 GG auf das für Deutsche geltende Grundrecht der Freizügigkeit des Art 11 GG berufen. Es ist indes bereits zweifelhaft, ob der Schutzbereich dieser Vorschrift mangels Tendenz zur Regelung des Wohnsitzes oder Aufenthaltes beeinträchtigt ist (vgl: Alternativkomm zum GG, 2. Aufl 1989, Art 11 RdNrn 40 ff; Jarass/Pieroth, GG, 2. Aufl 1992, Art 11 RdNr 7 mwN). Der Klägerin wird nämlich durch die Vorschriften des AFG nicht das Recht beschnitten, sich einen (neuen) Wohnsitz frei zu wählen; es wird lediglich die Höhe einer staatlichen Sozialleistung im Hinblick auf die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik ohne Rücksicht auf die tatsächliche Wahl des Wohnsitzes an einen durch sonstige Vorschriften zugewiesenen Wohnsitz geknüpft. Abgesehen davon, inwieweit diese Zuweisung überhaupt verbindlich ist, ergibt sich die unmittelbare Beschränkung der Freizügigkeit damit allenfalls aus diesen Normen. Nach § 2 der aufgrund von Art 119 GG erlassenen Verteilungsverordnung waren Aussiedler, die keine Zusage für die Unterbringung in einem bestimmten Land hatten und die für die Gründung eines ersten Wohnsitzes auf öffentliche Hilfe angewiesen waren, nach einem bestimmten Schlüssel auf die Länder zu verteilen; diese Regelung ist seit 1. Januar 1993 in das BVFG übernommen (§ 8). Ergänzend ermöglicht schließlich § 2 des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Aussiedler und Übersiedler vom 6. Juli 1989 (BGBl I 1378) innerhalb des Landes die Zuweisung in einen vorläufigen Wohnort.

Selbst wenn man annimmt, daß faktische Beeinträchtigungen der Wohnsitzwahl durch Schaffung unterschiedlicher wirtschaftlicher Rahmenbedingungen dem Schutzbereich des Art 11 GG unterfallen, wäre die Regelung des AFG über die Höhe des Egg zumindest durch den Gesetzesvorbehalt des Art 11 Abs 2 GG gerechtfertigt. Danach darf durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes die Freizügigkeit in den Fällen eingeschränkt werden, in denen – wie bei der Klägerin – eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden. Unter Berücksichtigung der besonderen historischen Situation der Wiedervereinigung Deutschlands (vgl BVerfGE 85, 360, 377) und der Geltungsdauer des § 249c Abs 3 AFG (bis 31. Dezember 1992) ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht verletzt.

Ebensowenig läge ein Verstoß gegen das Zitiergebot (Art 19 Abs 1 Satz 2 GG) vor. §§ 62a ff, 249c Abs 3 AFG beinhalten nämlich allenfalls Maßnahmen einer mittelbaren Beschränkung der Freizügigkeit; das formale Zitiergebot greift dann aber nicht ein (Bonner Komm, Stand März 1993, Art 19 RdNr 144; Jarass/Pieroth, aaO, Art 19 RdNr 5). Es kann deshalb dahinstehen, ob nicht sogar Art 143 GG idF des EinigVtr eine Abweichung vom Zitiergebot rechtfertigen würde.

Gegen die Regelungen bestehen auch keine Bedenken im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist Art 3 Abs 1 GG dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl BVerfGE 84, 348, 359 mwN). Unterschiedliche Behandlung kann die Klägerin nur gegenüber den Aussiedlern, die einem alten Bundesland zugewiesen wurden, geltend machen, weil diesen – auch bei späterem Umzug in das Beitrittsgebiet – Egg nach der in den alten Bundesländern geltenden Bezugsgröße gewährt wird. Rechtfertigende Gründe iS der Rechtsprechung des BVerfG sind jedoch die unterschiedlichen Lebensbedingungen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung. Praktikabilitätsgründe legen es dann nahe, die Höhe des Egg an dem jederzeit und leicht nachprüfbaren „Zuweisungsakt” der Verteilung der Aussiedler auf die einzelnen Bundesländer auszurichten, selbst wenn der Leistungsempfänger später, nach Entstehung des Anspruchs, in ein anderes Bundesland umziehen sollte.

Ob diese Regelung die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste ist, ist nicht zu entscheiden (BVerfGE 50, 57, 77 mwN). Der Spielraum des Gesetzgebers endet nämlich erst dort, wo die ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte evidentermaßen nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten sachgerechten Betrachtungsweise vereinbar ist (BVerfGE 55, 114, 128; 71, 255, 271). Dies kann hier nicht angenommen werden. Vielmehr darf der Gesetzgeber bei der Ordnung von Massenerscheinungen typisierende Regelungen treffen (vgl nur BVerfGE 63, 119, 128; 84, 348, 359 f), wobei ihm auf dem Gebiet des Sozialrechts wegen der fortschreitenden schnellen Veränderung des Arbeits-, Wirtschafts- und Soziallebens eine weite Gestaltungsfreiheit zusteht (vgl BVerfGE 77, 84, 104).

Dies gilt in besonderer Weise bei der Bewältigung einer einzigartigen Aufgabe wie der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands (BSG, Urteil vom 15. Dezember 1993 – 11 RAr 99/92 –, zur Veröffentlichung vorgesehen; BSG, Urteil vom 26. Juli 1994 – 11 RAr 103/93 –, unveröffentlicht, jeweils mwN; vgl BVerfGE 85, 360, 377); sie erlaubte sogar ungleiche Regelungen für eine Übergangszeit (BSG, Urteil vom 15. Dezember 1993, aaO). Die Einfügung des Art 143 in das GG durch Art 4 Nr 5 Abs 1 EinigVtr, nach dem Recht im Beitrittsgebiet längstens bis 31. Dezember 1992 von Bestimmungen sogar des GG abweichen kann, sofern und solange infolge der unterschiedlichen Verhältnisse die völlige Anpassung an die grundgesetzliche Ordnung noch nicht erreicht werden kann, unterstreicht diese Auffassung (so auch BSG, Urteil vom 15. Dezember 1993, aaO). Vor diesem normativen Hintergrund minimiert sich die Problematik um so mehr, als § 62a AFG mit Wirkung vom 1. Januar 1993 durch das Gesetz zur Änderung von Förderungsvoraussetzungen zum AFG und in anderen Gesetzen vom 18. Dezember 1992 (BGBl I 2044) dahin abgeändert wurde, daß sich die Höhe einer (jetzigen) Eingliederungshilfe einheitlich für alle Aussiedler nach 60 vH der in den alten Bundesländern geltenden Bezugsgröße bemißt.

Entgegen der Ansicht der Klägerin ergibt sich auch unter keinem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt ein Anspruch darauf, daß sich die Höhe des Egg am individuellen Bedarf orientiert; insoweit genügt insbesondere den Anforderungen des Sozialstaatsprinzips (Art 20 Abs 1, 28 Abs 1 GG) die Gewährleistung des Existenzminimums durch Sozialhilfe. Daß sich hieraus finanzielle Mehrbelastungen der Kommunen ergeben, führt nicht zu einer Verletzung von Grundrechten der Klägerin. Ein höherer Egg-Anspruch läßt sich folglich aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht herleiten.

Ob höhere Leistungen schon deshalb versagt werden können, weil die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Egg selbst nicht vorliegen, läßt sich nicht beurteilen. Das LSG hat insbesondere – von seinem Rechtsstandpunkt ausgehend folgerichtig – keine Feststellungen dazu getroffen, ob die als Aussiedlerin anerkannte (vgl zur Bindungswirkung der Anerkennung § 15 BVFG) Klägerin arbeitslos war, der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stand, innerhalb der Vorfrist die erforderliche Beschäftigung zurückgelegt hat, bzw dazu, ob es sich bei dem Sprachlehrgang, an dem sie teilgenommen hat, um einen ganztägigen gehandelt hat, ob sie die für die berufliche Eingliederung erforderlichen Kenntnisse der deutschen Sprache nicht besaß und ob für die Gewährung des Egg während der Teilnahme am Deutsch-Sprachlehrgang die Voraussetzungen der §§ 33, 34 AFG vorlagen.

Selbst bei Annahme eines höheren Egg-Anspruchs ist immer noch zu ermitteln, ob und inwieweit dieser Anspruch wegen vom Sozialhilfeträger erbrachter Leistungen gemäß § 107 Abs 1 SGB X als erfüllt gilt, weil ein Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers nach § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X besteht. Das LSG wird darüber hinaus bei seiner Tenorierung zu beachten haben, daß es erstinstanzlich über nach dem Urteil des SG ergangene Bescheide befinden muß; schließlich wird es über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174472

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