Verfahrensgang

LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 26.04.2017; Aktenzeichen L 16 R 259/16)

SG Berlin (Entscheidung vom 04.02.2016; Aktenzeichen S 19 R 2659/15)

 

Tenor

Der Antrag der Klägerin, ihr für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 26. April 2017 Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wird abgelehnt.

 

Gründe

Mit Urteil vom 26.4.2017 hat das LSG Berlin-Brandenburg einen Anspruch der Klägerin auf höhere Regelaltersrente und Berücksichtigung weiterer Kindererziehungszeiten und eines Zuschlags an Entgeltpunkten für Kindererziehung abgelehnt.

Mit Schreiben vom 29.5.2017 - beim BSG eingegangen am 31.5.2017 - hat die Klägerin für die Durchführung des Verfahrens gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) begehrt.

Die Bewilligung von PKH ist abzulehnen.

Nach § 73a Abs 1 S 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm § 114 Zivilprozessordung (ZPO) kann einem Beteiligten für das Verfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Dies ist hier nicht der Fall. Es ist nicht zu erkennen, dass ein nach § 73 Abs 4 SGG zugelassener Prozessbevollmächtigter in der Lage wäre, eine Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin erfolgreich zu begründen. Gemäß § 160 Abs 2 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1), das Urteil des LSG von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr 2) oder wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (Nr 3). Solche Zulassungsgründe sind nach Prüfung des Streitstoffs nicht ersichtlich.

Es ist nicht erkennbar, dass eine Zulassung der Revision gegen das von der Klägerin angegriffene Urteil auf § 160 Abs 2 Nr 1 SGG gestützt werden könnte. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die allgemeine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat. Die Frage muss außerdem klärungsbedürftig sein. Das ist grundsätzlich nicht der Fall, wenn die Antwort darauf von vornherein praktisch außer Zweifel steht oder die Frage bereits höchstrichterlich entschieden ist (zum Ganzen vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70). Rechtsfragen, die in diesem Sinne grundsätzliche Bedeutung haben könnten, sind nicht ersichtlich.

Die von der Klägerin gestellte Frage,

"ist Artikel 44 Absätze 2 und 3 der VO Nr. 987/2009 über den Wortlaut hinaus dahin auszulegen, dass im Ausnahmefall eine Kindererziehungszeit durch den Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach Titel II Artikel 11 Absatz 3a der Grundverordnung Nr. 883/2004 (hier die BRD) auf die betreffende Person anwendbar waren, weil diese Person zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind nach diesen Rechtsvorschriften begann, eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, zuständig bleibt für die Berücksichtigung dieser Zeit als Kinderziehungszeit nach seinen eigenen Rechtsvorschriften, so als hätte diese Kindererziehungszeit in seinem eigenen Hoheitsgebiet stattgefunden

- wenn für die betreffende Person die Rechtsvorschriften einer der Versicherungsträger des anderen Mitgliedstaats (hier Frankreich) trotz der Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit keine Kindererziehungszeit vorsieht, weil die betreffende Person zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats unterlag (hier BRD)",

ist nicht nach Maßgabe der im vorliegenden Zusammenhang gebotenen Prüfung klärungsbedürftig.

Nach § 56 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB VI wird eine Erziehungszeit für ein Elternteil nur dann angerechnet, wenn die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist oder einer solchen gleichsteht. Da im streitigen Zeitraum (1.9.1971 - 30.6.1972) sich die Klägerin mit ihrem am 29.6.1971 geborenen Sohn nach Umzug am 25.7.1971 von Deutschland nach Frankreich dort gewöhnlich aufgehalten hat, kommt § 56 Abs 1 S 2 Nr 2 1. Alternative SGB VI nicht in Betracht. Ebenso wenig ist eine Gleichstellung zu bejahen. Eine solche Gleichstellung ist nur dann zu bejahen, wenn der erziehende Elternteil sich mit seinem Kind im Ausland gewöhnlich aufgehalten hat und während der Erziehung oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes wegen einer dort ausgeübten Beschäftigung Pflichtbeitragszeiten hat. Dies würde Pflichtbeiträge der Klägerin zur deutschen Rentenversicherung wegen einer Beschäftigung im Ausland voraussetzen bzw eine fortbestehende Integration in das inländische Arbeits- und Erwerbsleben (vgl BSG Urteil vom 22.2.1995 - 4 RA 43/93 - SozR 3-2600 § 56 Nr 8, Juris RdNr 21 ff). Die von der Klägerin wegen einer in Deutschland ausgeübten Beschäftigung gezahlten Pflichtbeiträge führen nach deutschem Recht nicht zur Berücksichtigung einer ihnen nachfolgenden Kindererziehungszeit während eines gewöhnlichen Aufenthalts im Ausland, weil grundsätzlich nur die Kinderziehung im Inland rentenrechtlich relevant ist. Dass der gewöhnliche Aufenthalt einer Person im jeweiligen Staatsgebiet ein systemgerechter Anknüpfungspunkt für die mitgliedschaftliche Einbeziehung in nationale Sozialversicherungssysteme ist, hat das BVerfG entschieden (vgl Beschluss vom 6.3.2017 - 1 BvR 2740/16 - Juris RdNr 3 mwN).

Richtig ist, dass die Klägerin als französische Staatsangehörige die Erziehungsleistung im streitigen Zeitraum in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union (hier: Frankreich) erbracht hat und somit Personenfreizügigkeit nach Art 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV idF der Bek vom 9.3.2008, ABl C 115 S 47) beanspruchen kann. Art 21 AEUV begründet für jeden Unionsbürger ein unmittelbar anwendbares Individualrecht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (vgl EuGH Urteil vom 17.9.2002 - C-413/99, Rechtssache <Rs> Baumbast, Juris). Jedoch ist der Anspruch auf Leistungen im Alter und der insofern in Betracht kommenden Anrechnung von Kindererziehungszeiten eigenständig in Art 44 VO (EG) Nr 987/2009 geregelt. Diese Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates datiert vom 16.9.2009, sie legt die Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit fest und ist am 1.5.2010 in Kraft getreten. Ihr zeitlicher Anwendungsbereich erfasst auch Versicherungssachverhalte vor ihrem Inkrafttreten (Art 87 Abs 2 der VO (EG) Nr 883/2004).

Nach Art 44 Abs 1 VO (EG) Nr 987/2009 bezeichnet der Ausdruck "Kindererziehungszeit" im Sinne dieses Artikels jeden Zeitraum, der im Rahmen des Rentenrechts eines Mitgliedstaats ausdrücklich aus dem Grund angerechnet wird oder Anrecht auf eine Zulage zu einer Rente gibt, dass eine Person ein Kind aufgezogen hat, unabhängig davon, nach welcher Methode diese Zeiträume berechnet werden und unabhängig davon, ob sie während der Erziehungszeit anfallen oder rückwirkend anerkannt werden. Nach Art 44 Abs 2 VO (EG) Nr 987/2009 bleibt der Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anwendbar waren, weil die betreffende Person zu diesem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind nach dessen Rechtsvorschriften begann, eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, zuständig für die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit nach seinen eigenen Rechtsvorschriften, wenn in dem Hoheitsgebiet des grundsätzlich zuständigen Mitgliedstaats keine Kindererziehung berücksichtigt wird. Zwar regelt Art 44 Abs 2 VO (EG) Nr 987/2009 eine Anspruchsgrundlage für einen individuellen Anspruch auf Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten gegen den nach Titel II der VO (EG) Nr 883/2004 (vgl Art 1 Abs 1 Buchst a VO (EG) Nr 987/2009) zuständigen Träger des Mitgliedstaats. Dabei kann offenbleiben, ob § 56 Abs 2 und 3 SGB VI europarechtskonform auszulegen ist oder sich aus unionsrechtlichen Regelungen ein eigenständiger Anspruch zugunsten der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten ergibt und damit § 56 Abs 3 S 2 SGB VI nur noch für Angehörige von Drittstaaten rentenrechtlich von Bedeutung ist (vgl BVerfG vom 6.3.2017 - 1 BvR 2740/16 - Juris RdNr 3 mwN). Denn angesichts der Beschäftigungsaufnahme ist die Rückausnahme des Art 44 Abs 3 VO (EG) Nr 987/2009 anwendbar, wonach für die betreffende Person die Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats aufgrund der Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit anwendbar sind oder anwendbar bleiben. Art 44 Abs 2 VO (EG) Nr 987/2009 findet keine Anwendung, eine gleichgestellte Erziehungszeit scheidet damit aus.

Eine Anrechnung der Kindererziehungszeit für den streitigen Zeitraum ab September 1971 kommt auch nicht nach der Regelung über die Sachverhaltsgleichstellung (vgl Art 5 Buchst b VO (EG) Nr 883/2004) in Betracht. Denn mit Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat (hier in Frankreich) endet die Sachverhaltsgleichstellung in Bezug auf den bisher zuständigen Mitgliedstaat (vgl Art 11 Abs 3 Buchst a VO (EG) Nr 883/2004).

Zugunsten der Klägerin streiten auch nicht die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 19.7.2012 (C-522/10 Rs Reichel-Albert, Juris), vom 23.11.2000 (C-35/99 Rs Elsen, Juris) und vom 7.2.2002 (C-28/00 Rs Kauer, Juris). Anders als im vorliegenden Fall waren jeweils Sachverhalte betroffen, in denen nur in einem Mitgliedstaat Versicherungszeiten zurückgelegt worden waren. Das Gericht hat jeweils eine hinreichende Verbindung zwischen Kindererziehungszeiten und Rentenversicherungszeiten in dem Mitgliedstaat als fortbestehend bejaht, obwohl die erziehenden Personen ihren Wohnsitz vorübergehend aus rein familiären Gründen in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hatten, ohne dort gearbeitet oder Beiträge entrichtet zu haben. (s auch bereits EuGH vom 23.11.2002 - C-135/99 - Juris).

Die Klägerin kann sich auch nicht auf die Rechtsprechung des BSG berufen. Im Urteil des BSG vom 22.2.1995 (aaO, Juris) war die Klägerin vor der Geburt und während der Erziehung der Kinder in der inländischen Arbeitswelt integriert, die Erziehung in dem einen Mitgliedstaat (Deutschland) konnte mit dem anderen Mitgliedstaat (…) gleichgestellt und damit eine Pflichtbeitragszeit anerkannt werden (vgl BSG, aaO, Juris RdNr 21). Normzweck des § 56 Abs 3 SGB VI ist es, dass Erziehende (bzw dessen Ehegatte, vgl § 56 Abs 3 S 3 SGB VI), die vor der Geburt oder während der Kindererziehung aufgrund keine oder nur geringe Rentenanwartschaften erwerben können, eine solche enge Beziehung zum inländischen Arbeits- und Erwerbsleben haben, dass typisierend und pauschalierend davon ausgegangen werden kann, dass ihnen während dieser Zeit nicht wegen der Integration in eine ausländische Arbeitswelt, sondern im Wesentlichen wegen der Kindererziehung deutsche Rentenanwartschaften entgangen seien (vgl BSG, aaO, Juris RdNr 23; vgl auch BSG Urteil vom 23.10.2003 - B 4 RA 15/03 R - BSGE 91, 245 = SozR 4-2600 § 56 Nr 1, Juris RdNr 24 f). Dies trifft für die Klägerin, die im September 1971 eine Beschäftigung in Frankreich aufgenommen hat, nicht zu. Auch die Rechtsprechung des BSG zur Gewährung von Erziehungsgeld (vgl Urteil vom 24.6.2010 - B 10 EG 12/09 R - SozR 4-7833 § 1 Nr 11) kann nicht herangezogen werden. Danach unterliegt im Falle einer Auslandserziehung der Anspruch auf Erziehungsgeld noch engeren Grenzen als die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten.

Der Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) könnte ebenfalls nicht mit Erfolg geltend gemacht werden. Divergenz (Abweichung) bedeutet Widerspruch im Rechtssatz oder - anders ausgedrückt - das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die den miteinander zu vergleichenden Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 72 mwN). Davon kann vorliegend nicht ausgegangen werden.

Schließlich lässt sich auch kein Verfahrensmangel feststellen, der gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Zulassung der Revision führen könnte. Nach Halbs 2 dieser Bestimmung kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

Das LSG hat Art 101 Abs 1 S 2 GG nicht verletzt, als es auf eine Vorlage an den EuGH verzichtet hat. Eine Verletzung des Grundrechts auf den gesetzlichen Richter kommt nur dann in Betracht, wenn eine Vorlage an den EuGH zur Vorabentscheidung nach Art 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV; bis zum 30.11.2009: Art 234 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft - EGV) unterbleibt, obwohl eine Vorlagepflicht besteht (BVerfG <Kammer> Beschluss vom 25.2.2010 - 1 BvR 230/09 - Juris RdNr 18; BVerfGE 82, 159, 192 f; 73, 339, 366 ff).

Das LSG ist gemäß Art 267 Abs 2 AEUV zwar zur Vorlage an den EuGH berechtigt, dazu aber nicht verpflichtet. Denn nach Art 267 Abs 3 AEUV sind nur solche Gerichte zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können. Zu den Rechtsmitteln in diesem Sinne zählt die hier erhobene Nichtzulassungsbeschwerde (vgl BVerfGE 82, 159, 196; BSG Beschluss vom 25.1.2012 - B 13 R 380/11 B - Juris RdNr 10 sowie BFH Beschluss vom 9.1.1996 - VII B 169/95 - Juris RdNr 7). Das Urteil des LSG konnte mit der Nichtzulassungsbeschwerde angefochten werden.

Nach alledem kann der Klägerin PKH nicht bewilligt werden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI11760295

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