Leitsatz (amtlich)

War vor dem SG streitig, ob einem Versicherten, der eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 % bezieht, eine Unfalldauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 oder 50 % zusteht, so ist die Berufung nicht nach SGG § 145 Nr 4 ausgeschlossen.

 

Normenkette

SGG § 145 Nr. 4 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 30. Oktober 1956 wird als unzulässig verworfen.

Die Formel des angefochtenen Urteils wird dahin berichtigt, daß die Worte "Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 30. März 1955" ersetzt werden durch die Worte "Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 30. März 1955".

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger leidet an einer progressiven Muskeldystrophie (Störung der Muskelernährung). Das Leiden beruht auf Veranlagung, hat aber durch die Strapazen, denen der Kläger in jahrelanger russischer Kriegsgefangenschaft ausgesetzt war, eine Verschlimmerung erfahren. Deswegen bezieht der Kläger vom 1. Dezember 1948 an eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 30 v.H.

Am 1. Juli 1952 zog er sich als kaufmännischer Angestellter einer Futtermittelgroßhandlung einen Schenkelhalsbruch zu, der die Beweglichkeit des rechten Hüft- und Kniegelenks einschränkt. Deshalb gewährte ihm die Beklagte eine vorläufige Unfallrente nach einer MdE. von zuletzt 50 v.H. Auf Grund einer Nachuntersuchung im Städtischen Krankenhaus Frankfurt/Main-Höchst durch die Chirurgen Prof. Dr. F... und Dr. S... sowie den Neurologen Dr. B... setzte die Beklagte die Dauerrente mit Bescheid vom 1. Oktober 1954 dem Vorschlag der angeführten Chirurgen entsprechend auf 30 v.H. der Vollrente fest.

Die von dem Kläger gegen beide Bescheide erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG.) Wiesbaden durch Urteil vom 30. März 1955 abgewiesen. Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt, diese aber auf den Dauerrentenbescheid beschränkt. Das Landessozialgericht (LSG.) hat ein Gutachten der Orthopädischen Universitätsklinik Friedrichsheim, Frankfurt/Main beigezogen. Darin wird ausgeführt: Der Kläger sei durch die Folgen des Unfalls vom Juli 1952 noch unsicherer und unselbständiger geworden, als er schon vorher gewesen sei. Er könne weder sich allein anziehen noch vom Stuhl aufstehen. Bei retrospektiver Schätzung sei er vor dem Unfall im Hinblick auf die Muskeldystrophie um 80 v.H. in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt gewesen. Seine Erwerbsfähigkeit habe damals also 20 v.H. betragen. Setze man sie mit 100 v.H. an, so sei die auf den Unfall zurückführende MdE. auf 50 v.H. zu schätzen. Die gesamte MdE. betrage 90 v.H.

Das LSG. hat unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und des angefochtenen Bescheides die Beklagte verurteilt, dem Kläger vom 1. August 1954 an eine Dauerrente nach einer MdE. von 40 v.H. zu gewähren.

Die von der Beklagten hiergegen eingelegte, auf § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gestützte Revision ist nicht statthaft, weil die gerügten Verfahrensmängel nicht vorliegen (vgl. BSG. 1 S. 150).

Ein Mangel des Verfahrens ist entgegen der Auffassung der Revision nicht darin zu sehen, daß das LSG. der Frage, ob § 145 Nr. 4 SGG der Statthaftigkeit der Berufung entgegenstand, keine grundsätzliche Bedeutung beigemessen und es deshalb abgelehnt hat, die Revision zuzulassen (vgl. BSG. 2 S. 45 und 81; BSG. in SozR. SGG § 162 Bl. Da 14 Nr. 55).

Weiter sieht die Revision einen wesentlichen Mangel des Verfahrens darin, daß das LSG. über die Berufung des Klägers sachlich entschieden hat, anstatt sie als unzulässig zu verwerfen. Sie meint, die Berufung sei nach § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen gewesen, weil der Streit der Beteiligten in der ersten Instanz den Grad der MdE. betroffen habe und keiner der Ausnahmetatbestände der angeführten Vorschrift gegeben gewesen sei; insbesondere sei die Schwerbeschädigteneigenschaft des Klägers durch das Urteil des SG. nicht in Frage gestellt worden, denn er beziehe neben der ihm durch die Beklagte gewährten Rente nach einer MdE. von 30 v.H. auch eine Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) in Höhe von 30 v.H. der Vollrente. Dieser Auffassung vermag sich der Senat nicht anzuschließen.

Das Bundessozialgericht (BSG.) hat in seinem Urteil vom 7. November 1957 - SozR. SGG § 148 Bl. Da 5 Nr. 14 - ausgeführt, der Begriff der Schwerbeschädigteneigenschaft im Sinne der Berufungsausschließungsvorschrift des § 148 Nr. 3 SGG sei nicht nach dem Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter vom 16. Juni 1953 - SchwBG - (BGBl. I S. 389), sondern nach dem materiellen Versorgungsrecht, nämlich nach § 29 Abs. 2 BVG, zu beurteilen. Das BSG. hat dies unter Würdigung des Schrifttums und der Rechtsprechung, insbesondere auch der von der Revision angeführten Entscheidungen des LSG. Nordrhein-Westfalen vom 5. Mai 1955 und des LSG. Berlin vom 20. Mai 1955 (Breithaupt 1955 S. 1120 und 1118), aus der Systematik der Vorschriften über den Berufungsausschluß, aus dem Zweck des § 148 SGG und dem Zusammenhang dieser Vorschrift mit den Vorschriften des BVG sowie aus dem Zweck des Gesetzes über die Beschäftigung Schwerbeschädigter gefolgert.

Demgegenüber ist der Vorderrichter der Auffassung, ein Ausnahmetatbestand nach § 145 Nr. 4 SGG mit der Folge der Statthaftigkeit der Berufung sei sowohl gegeben, wenn um eine Unfallrente von 50 v.H. und mehr gestritten werde, als auch dann, wenn zwar die umstrittene Unfallrente weniger als 50 v.H. betrage, aber durch Zusammentreffen der Unfallrente mit einer Rente nach dem BVG der Satz von 50 v.H. erreicht oder überschritten und damit die Schwerbeschädigteneigenschaft nach dem SchwBG berührt werde. Die Auffassung des Vorderrichters geht also über die oben angeführte Entscheidung des BSG. insofern hinaus, als nach jener die Berufung auch dann statthaft wäre, wenn nur die Schwerbeschädigteneigenschaft nach dem SchwBG von dem umstrittenen Grad der MdE. abhängt. Ob diese Ausweitung des Begriffes der Schwerbeschädigteneigenschaft oder - anders ausgedrückt - diese Einengung des Berufungsausschlusses gerechtfertigt ist, braucht der Senat nicht zu entscheiden, weil der vorliegende Rechtsstreit keine Veranlassung dazu bietet. In dem hier zu entscheidenden Falle führen nämlich beide Rechtsmeinungen zu dem Ergebnis, daß die Berufung des Klägers zum LSG. statthaft war.

Im Urteil vom 7. November 1957 hat der 11. Senat des BSG. in überzeugender Weise ausgeführt, daß die Meinung, die "Schwerbeschädigteneigenschaft" sei nur nach dem SchwBG zu beurteilen, den Zusammenhang zwischen § 148 SGG und dem materiellen Versorgungsrecht verkennt und zu einer ungerechtfertigten Ausweitung des Berufungsausschlusses nach § 148 Nr. 3 SGG führen würde. Dies träfe für jede Gradstreitigkeit zu, wenn der Kläger Schwerbeschädigter im Sinne des SchwBG oder einem solchen Gleichgestellter (§ 2 SchwBG) wäre, also auch dann, wenn von dem Streit über den Grad der MdE. von wenigstens 50 v.H. besondere Ansprüche abhängen, wie z.B. die Heilbehandlung nach § 10 Abs. 5 und die Ausgleichsrente nach §§ 32 ff. BVG. In diesen Fällen soll aber die Berufung nicht ausgeschlossen sein.

Was im Vorstehenden für die Kriegsopferversorgung ausgeführt ist, trifft sinngemäß auch für die Unfallversicherung zu. Auch hier sind mit dem Erreichen der 50 v.H.=Grenze der auf einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführenden MdE. besondere Folgen verbunden, z.B. der Anspruch auf Kinderzulage nach § 559 b der Reichsversicherungsordnung (RVO) und auf Witwenbeihilfe nach § 595 a RVO; ferner ist diese Grenze von Bedeutung für das Ausmaß einer Kapitalabfindung nach § 3 der Zweiten Verordnung des Reichsarbeitsministers betreffend die Abfindung von Unfallrenten vom 10. Februar 1928 (RGBl. I S. 22). Deshalb ist die Berufungsausschlußvorschrift des § 145 Nr. 4 SGG ebensowenig wie die des § 148 Nr. 3 SGG auf Fälle anzuwenden, in denen das Erreichen der 50 v.H.=Grenze von der umstrittenen MdE. abhängt. Dem steht nicht entgegen, daß § 145 Nr. 4 SGG nicht eine MdE. von 50 v.H., sondern die "Schwerbeschädigteneigenschaft" als Kriterium für den ersten der drei Ausnahmetatbestände anführt, obwohl das materielle Recht der Unfallversicherung den Begriff des "Schwerbeschädigten" nicht kennt, sondern nur den des "Schwerverletzten" (vgl. § 559 b RVO). Diese Ungenauigkeit im Wortlaut erscheint dem Senat rechtlich bedeutungslos. Die Verwendung des Begriffes "Schwerbeschädigteneigenschaft" in § 145 Nr. 4 SGG läßt sich unschwer damit erklären, daß in § 1 Abs. 1 Buchst. d SchwBG als Schwerbeschädigter bezeichnet ist, wer infolge einer gesundheitlichen Schädigung durch Arbeitsunfall nicht nur vorübergehend um wenigstens 50 v.H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert ist (vgl. hierzu Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 15. März 1957, Bd. I S. 250 m; Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, § 145 Anm. 5, c, aa; Miesbach-Ankenbrank, SGG, 3. Aufl. § 145 Anm. 5; Hastler, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, § 145 SGG, Anm. 4 a; Hofmann-Schröter, Komm. zum SGG, 2. Aufl., S. 263).

Das LSG. hat hiernach mit Recht über die Berufung des Klägers sachlich entschieden.

Unbegründet ist auch die Rüge, das LSG. habe, indem es die durch den Unfall hervorgerufene MdE. des Klägers auf 40 v.H. geschätzt hat, die Grenzen des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Die Revision meint, die getroffene Feststellung entbehre ausreichender ärztlicher Unterlagen. Dies trifft jedoch nicht zu. Die erforderlichen ärztlichen Feststellungen und Beurteilungen ergaben sich aus den ausführlichen Gutachten des Städtischen Krankenhauses Frankfurt/Main-Höchst vom 23. Juli 1954 und der Orthopädischen Universitätsklinik Friedrichsheim vom 18. Oktober 1955. Sollte die Revision der Auffassung sein, daß das LSG. die MdE. nur dann mit 40 v.H. hätte bewerten dürfen, wenn wenigstens einer der gehörten Sachverständigen sich für diesen Vomhundertsatz ausgesprochen hätte, so verkennt sie, daß die Schätzung der MdE. - wenn auch das Gericht in den meisten Fällen nicht ohne ärztliche Äußerungen darüber, inwieweit sich die Unfallfolgen auf die Erwerbsfähigkeit des Versicherten auswirken, auskommen wird - letztlich nicht Aufgabe des Sachverständigen, sondern des Richters ist (vgl. BSG. 4 S. 147). Das LSG. war nicht gehindert, die auf den Unfall zurückzuführende MdE. des Klägers mit einem Vomhundertsatz zu bewerten, der zwischen den von den Sachverständigen geschätzten Sätzen lag. Auch die Begründung der Schätzung läßt keine Verletzung des Gesetzes erkennen. Die Bemerkung des Vorderrichters, daß der festgestellte Satz von 40 v.H. zwischen 30 und 50 v.H. liege, dient entgegen der Auffassung der Revision nicht der Begründung, vielmehr wird der Ausgleich der Differenz zwischen den beiden Gutachten in erster Linie durch einen Vergleich mit der Bewertung einer Unterschenkelamputation bei einem Gesunden gerechtfertigt. Außerdem lassen die Ausführungen des Vorderrichters erkennen, daß ihm das Gutachten des Städtischen Krankenhauses Frankfurt/Main-Höchst insofern nicht einwandfrei nachprüfbar erschien, als es keine Angaben über den Grad der MdE. vor dem Unfall enthält. Wenn das LSG. sich von diesem Mangel des Gutachtens hat mitbestimmen lassen, über den vorgeschlagenen Satz von 30 v.H. hinauszugehen und sich dem von der Orthopädischen Universitätsklinik geschätzten Satz von 50 v.H. zu nähern, so ist dies rechtlich nicht zu beanstanden.

Die Revision war daher als unzulässig zu verwerfen (§ 169 SGG). Der Senat hat zugleich die unzutreffende Bezeichnung des erstinstanzlichen Gerichts in der Formel des angefochtenen Urteils berichtigt. Hierzu war er gemäß § 138 SGG - wie er wiederholt entschieden hat - an Stelle des Vorsitzenden des Berufungsgerichts befugt (vgl. Urteil vom 27. September 1957 - 2 RU 39/55 -).

Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2340697

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