Leitsatz (amtlich)

Um die Gewährung der Rente iS von SGG § 145 Nr 4 handelt es sich nicht, wenn mit der Berufung ein höherer Grad der einer zuerkannten kleinen Rente (RVO § 581 Abs 3) zugrunde gelegten Minderung der Erwerbsfähigkeit erstrebt wird.

 

Normenkette

SGG § 145 Nr. 4 Fassung: 1958-06-25; RVO § 581 Abs. 3 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Beklagten wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts für das Saarland vom 17. November 1970 die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 18. Februar 1970 als unzulässig verworfen wird.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger brach durch einen Arbeitsunfall am 15. Dezember 1967 an der linken Hand den 2. und 3. Mittelhandknochen und erlitt Quetschungen. Deshalb bewilligte ihm die Beklagte vorläufige Rente, zeitlich abgestuft nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 bzw. 20 v.H.. Durch Bescheid vom 26. Juni 1969 setzte sie vom 1. August 1969 an die Dauerrente auf 15 v.H. der Vollrente fest, weil der Chefarzt der Chirurgischen Abteilung des Caritas-Krankenhauses D, Dr. W, im Gutachten vom 10. Juni 1969 die MdE durch Unfallfolgen nur noch in dieser Höhe geschätzt hatte und der Kläger Versorgungsrente nach einer MdE um 30 v.H. bezieht.

Auf Klage hat das Sozialgericht (SG) für das Saarland durch Urteil vom 18. Februar 1970 entsprechend dem Antrag des Klägers die Beklagte unter Änderung ihres Bescheids verurteilt, die Dauerrente unter Zugrundelegung einer MdE um 20 v.H. zu gewähren. Es hat sich der Ansicht des von ihm gehörten Sachverständigen Oberregierungsmedizinalrat Dr. Sch angeschlossen. Dieser vertritt die Ansicht, daß - bei im wesentlich gleichen Untersuchungsbefunden - eine wesentliche Gebrauchsbehinderung der linken Hand vorliege und diesem Umstand um so mehr Bedeutung beizumessen sei als der Kläger Linkshänder sei.

Das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland hat die - nicht zugelassene - Berufung der Beklagten durch Urteil vom 17. November 1970 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:

Die nach § 145 Nr 4 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - (Gradstreitigkeit) ausgeschlossene Berufung sei nach § 150 Nr 2 SGG zulässig, weil das erstgerichtliche Urteil ohne überzeugende Begründung von dem seit jeher geltenden Grundsatz abgewichen sei, daß die Rechtsmittelinstanz von der Entscheidung der Vorinstanz oder des Versicherungsträgers nicht abweichen dürfe, wenn das bei der Beurteilung der MdE gewonnene Ergebnis sich um nur 5 v.H. unterscheide. Eine Ausnahme sei nur statthaft, wenn dies durch besondere Verhältnisse des Einzelfalles gerechtfertigt sei. Das SG sei jedoch in keiner Weise auf die entscheidende Frage eingegangen, ob und aus welchen Gründen hier ein Ausnahmefall vorliege. Im Ergebnis treffe das angefochtene Urteil allerdings zu, weil nach dem Gutachten des vom SG gehörten Sachverständigen noch eine wesentliche Gebrauchsbehinderung der linken Hand gegeben und der Kläger Linkshänder sei. Dieser sei durch die Folgen des Arbeitsunfalls in seinem Beruf als Schraubendreher und auch bei sonstigen Tätigkeiten mit der Hand sicherlich in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt. Unter Berücksichtigung des Berufs des Klägers erscheine eine Dauerrente von 20 v.H. der Vollrente gerechtfertigt.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet:

Zutreffend habe das Berufungsgericht die Berufung als zulässig angesehen. Zu Unrecht habe es jedoch das Rechtsmittel für unbegründet gehalten. Es habe sich selbst nicht an den alten Grundsatz gehalten, daß die Gerichte nicht befugt seien, bei der Feststellung der MdE um nur 5 v.H. von der Schätzung des Versicherungsträgers abzuweichen. Dr. W. habe ebenfalls den Umstand gewürdigt, daß der Kläger Linkshänder sei; dies sei somit auch bei der Schätzung der MdE im angefochtenen Bescheid berücksichtigt worden. Die Feststellung des LSG, daß der Kläger durch Unfallfolgen bei seiner Berufsausübung als Schraubendreher und auch bei sonstigen manuellen Tätigkeiten in der Erwerbsfähigkeit erheblich beeinträchtigt sei, sei unter Verstoß gegen die §§ 103 und 128 Abs. 1 SGG zustande gekommen; zur Rechtfertigung dieser Annahme habe das Berufungsgericht nur zu sagen gewußt, daß der Kläger in der Ausübung dieser Tätigkeiten sicherlich erheblich eingeschränkt sei.

Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanzen

die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache an das Landessozialgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).

II

Die Revision ist im Ergebnis nicht begründet.

Allerdings hätte das LSG die Berufung als unzulässig verwerfen müssen, statt in der Sache zu entscheiden. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts war das nach § 145 Nr 4 SGG ausgeschlossene Rechtsmittel nicht nach § 150 Nr 2 SGG zulässig.

Wie das LSG mit Recht angenommen hat, hat die Berufung allein den Grad der der ersten Dauerrente zugrunde liegenden MdE betroffen. Auch in einem solchen Fall ist die Berufung nach § 145 Nr 4 SGG ausgeschlossen (SozR Nr 4 zu § 145 SGG).

Der nach dieser Vorschrift mögliche Ausnahmegrund, daß davon die Schwerbeschädigteneigenschaft abhängt, liegt nicht vor.

Der Rechtsstreit wird darum geführt, ob die dem Kläger bewilligte Dauerrente von 15 v.H. der Vollrente auf 20 v.H. zu erhöhen ist. Auf die nach § 583 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) maßgebliche 50 v.H.-Grenze (vgl. SozR Nr 5 zu § 145 SGG) kommt es hier sonach nicht an. Da der Kläger auch nicht wegen anderer Arbeitsunfälle oder wegen einer Berufskrankheit Unfallrente bezieht, kann dahingestellt bleiben, ob in einem solchen Fall (wie Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 2. Aufl., Kenn-Nr 840 S. 3, drittletzter Absatz annimmt) der Berufungsausschlußgrund der ersten Alternative des § 145 Nr 4 SGG nicht gegeben ist.

Ferner bedarf es keiner Entscheidung, ob für den Ausschluß der Berufung nach § 145 Nr 4 SGG auch der Begriff des Schwerbeschädigten im Sinne des § 1 Abs. 1 des Schwerbeschädigtengesetzes (SchwBG) maßgeblich ist. Der erkennende Senat hat im Beschluß vom 11. Februar 1958 (SozR Nr 5 zu § 145 SGG) ausgeführt, daß die Verwendung des Begriffs "Schwerbeschädigter" in § 145 Nr 4 SGG dadurch zu erklären ist, daß in § 1 Abs. 1 Buchst. d SchwBG (in der ursprünglichen Fassung des Gesetzes vom 16. Juni 1953 - BGBl I S. 389, nunmehr Buchst. e idF der Bekanntmachung vom 14. August 1961 - BGBl I S. 1233) als Schwerbeschädigter bezeichnet ist, wer infolge einer gesundheitlichen Schädigung durch einen Arbeitsunfall nicht nur vorübergehend wenigstens um 50 v.H. in der Erwerbsfähigkeit gemindert sei. Ein nach dieser Vorschrift Schwerbeschädigter ist indessen ein Schwerverletzter im Sinne von § 583 Abs. 1 RVO (SozR Nr 2 zu § 583 RVO).

Anders als § 583 Abs. 1 RVO, wonach es auf den Bezug einer Unfallrente von 50 v.H. der Vollrente oder mehrerer Verletztenrenten, deren Hundertsätze zusammen die Zahl 50 erreichen, ankommt, stellt § 1 Abs. 1 Buchst. f SchwBG jedoch darauf ab, ob jemand wenigstens infolge mehrerer der in den Buchstaben a - e bezeichneten Schädigungen um mindestens 50 v.H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert ist. Ob in einem solchen Fall ein bloßes Zusammenzählen der aufgrund der einzelnen Gesundheitsschäden beruhenden - meist von verschiedenen zuständigen Stellen festgestellten - MdE-Grade dem Sinn des § 1 Abs. 1 Buchst. f SchwBG entspricht, vielmehr unabhängig von diesen Einzelbewertungen eine völlig neue Gesamtbeurteilung der verschiedenen Schädigungsfolgen entsprechend den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen (Ausgabe 1965, Teil A Nr 15 Abs. 6), auf die in den Richtlinien des Bundesministers des Innern vom 11. Oktober 1965 über Ausweise für Schwerbeschädigte und Schwerbehinderte verwiesen wird (Gemeinsames Ministerialblatt 1965, 402), vorzunehmen ist (Braun, ZKOF 1969, 25; Becker, Kommentar zum Schwerbeschädigtengesetz, 2. Aufl., Anmerkung 19 zu § 1 - beide unter Darlegung instruktiver Beispiele), bedarf aus Anlaß der vorliegenden Streitsache keiner Entscheidung. Dem Wesen einer zu dem Zweck erlassenen Verfahrensvorschrift, die Berufungsgerichte der Sozialgerichtsbarkeit von Streitsachen von untergeordneter Bedeutung zu entlasten, würde es jedenfalls widersprechen, würde die Zulässigkeit der Berufung vom Ergebnis einer erst vorzunehmenden ärztlichen Untersuchung abhängig gemacht werden, wobei überdies zweifelhaft wäre, welche Stelle zur Anordnung dieser Untersuchung zuständig ist (Braun, aaO). Hält man dagegen die Zusammenrechnung der verschiedenen Hundertsätze der MdE für zulässig (s. die Kommentare zum SchwBG von Wilrodt/Neumann, 2.Aufl., 1964, Anm. L zu § 1; Gröninger, Heft Nr 54 der WK-Reihe, 1962, Anm. 14 zu § 1), so ergäbe sich schon aus den unstreitig beim Kläger gegebenen einzelnen MdE-Graden (15 + 30 v.H.) die Schwerbeschädigteneigenschaft nach § 1 Abs. 1 Buchst. f SchwBG, weil insoweit in der praktischen Handhabung dieses Gesetzes nach § 31 Abs. 2 Halbsatz 2 des Bundesversorgungsgesetzes verfahren wird (s. das von Braun aaO unter Nr 2 gebildete Beispiel). In diesem Fall würde somit die Schwerbeschädigteneigenschaft (im Sinne des § 1 Abs. 1 SchwBG) nicht von dem in der vorliegenden Sache ausgetragenen Streit um den Grad der durch den Arbeitsunfall vom 15. Dezember 1967 hervorgerufenen MdE abhängig sein.

Die Berufung war auch nicht aufgrund des in § 145 Nr 4 SGG bezeichneten weiteren Ausnahmegrundes zulässig. Von dem Streit um den Grad der MdE hängt die Gewährung der Unfallrente nicht ab.

Nach dem Regelfall des § 581 Abs. 1 Nr 2 RVO erhält ein Verletzter Unfallrente, dessen Erwerbsfähigkeit wenigstens um 20 v.H. gemindert ist. In den Ausnahmefällen des § 581 Abs. 3 RVO reicht dafür jedoch schon ein MdE-Grad von wenigstens 10 v.H. aus. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier vor (§ 581 Abs. 3 Satz 2 RVO). Ginge in einem derartigen Sonderfall der Streit darum, ob die MdE durch Unfallfolgen wenigstens einen Grad von 10 v.H. erreicht, würde davon die Gewährung einer Rente abhängen, die Berufung somit nicht ausgeschlossen sein (Podzun, aaO, vorletzter Absatz). Beim Kläger handelt es sich aber nicht darum, ob ihm überhaupt Unfallrente zusteht, sondern ob diese höher zu bemessen ist, als von der Beklagten festgestellt. In diesem Fall ist die Berufung nach § 145 Nr 4 SGG ausgeschlossen.

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist das Rechtsmittel nicht nach § 150 Nr 2 SGG zulässig. Ein wesentlicher Mangel des Verfahrens des Erstgerichts ist von der Beklagten im zweiten Rechtszug zwar gerügt worden; diese Rüge ist indessen nicht begründet.

Das SG hatte - wie schon vorher die Beklagte - ungeachtet dessen, ob seit der Neufeststellung der vorläufigen Rente eine Änderung der Verhältnisse eingetreten war (§ 1585 Abs. 2 Satz 2 RVO), zu prüfen, in welchem Grad die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die Folgen des Arbeitsunfalls vom 15. Dezember 1967 gemindert ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG 4, 147, 149; 31, 185, 186 mit weiteren Nachweisen) handelt es sich insoweit um eine Schätzung, weil der Grad der durch einen Unfall verursachten MdE nicht völlig genau feststellbar ist. Das vom SG gewonnene Ergebnis weicht indessen von dem der Beklagten um 5 v.H. ab. Diese nur in geringem Maße unterschiedlichen Ergebnisse liegen innerhalb einer natürlichen Fehlergrenze; somit braucht keine dieser Schätzungen unrichtig zu sein. Es handelt sich um derart geringfügige Abweichungen, daß sie nicht als rechtlich bedeutsam anzusehen sind (vgl. BSG 32, 245). Daraus ergibt sich jedoch, daß der angefochtene Bescheid der Beklagten nicht rechtswidrig ist, das SG ihn daher nicht hätte ändern dürfen (s. auch das Urteil des erkennenden Senats vom 2. März 1971 - 2 RU 300/68 -).

Die in der Sache fehlerhafte Entscheidung des SG vermochte die Zulässigkeit der Berufung nach § 150 Nr 2 SGG nicht zu begründen (s. auch Bay. LSG, SozSich 1970, 379). Das Berufungsgericht hätte deshalb, da der von der Beklagten gerügte wesentliche Mangel des Verfahrens des ersten Rechtszugs nicht vorliegt, das Rechtsmittel als unzulässig verwerfen müssen. Dieser Mangel im Berufungsverfahren ist, da die Revision durch Zulassung statthaft ist, von Amts wegen zu berücksichtigen (BSG 1, 126, 128; 2, 225, 227).

Deshalb war die Revision der Beklagten mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen die Entscheidung des Erstgerichts als unzulässig zu verwerfen war. Das Verbot der Schlechterstellung des Revisionsklägers greift in diesem Fall nicht Platz (BSG 2, 225, 228 ff).

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670051

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