Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 29.05.1990; Aktenzeichen 1 BvL 20, 26/84, 1 BvL 4/86)

 

Tenor

Das Verfahren wird ausgesetzt. Von dem Bundesverfassungsgericht wird eine Entscheidung über folgende Frage eingeholt:

Ist § 11 Abs. 1 des Bundeskindergeldgesetzes in der Fassung des Art. 13 des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 vom 20. Dezember 1982 (BGBl I, 1857) mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes vereinbar?

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob das Kindergeld des Klägers ab 1. Januar 1983 zu kürzen ist.

Der Kläger ist verheiratet, lebt von seiner Ehefrau nicht getrennt und ist Vater von zwei 1974 und 1977 geborenen Kindern. Nach dem Einkommensteuerbescheid hatte er 1981 ein Bruttoeinkommen von 59.014,– DM.

Mit dem hier streitigen Bescheid vom 30. März 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juli 1983 stellte die Beklagte den Kindergeldanspruch des Klägers ab 1. Januar 1983 mit 120,– DM monatlich fest und forderte die Überzahlung für die Monate Januar und Februar 1983 in Höhe von 60,– DM zurück.

Mit seiner Klage forderte der Kläger die ungekürzte Weiterzahlung des Kindergeldes in Höhe von 150,– DM monatlich, weil bei der Berechnung des anrechenbaren Einkommens die im Einkommensteuerbescheid für 1981 ausgewiesenen negativen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 29.265,– DM nicht berücksichtigt worden seien.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das nach § 11 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) anrechenbare Einkommen betrage nach Abzug der laut Einkommensteuerbescheid zu leistenden Einkommensteuer und Kirchensteuer sowie der steuerlich anerkannten Vorsorgeaufwendungen 48.756,68 DM. Es übersteige daher den Freibetrag des Klägers nach § 10 BKGG von 42.000,– DM, so daß die Kürzung des für das zweite Kind zustehenden Kindergeldes auf den Sockelbetrag von 70,– DM rechtmäßig sei. Nach der ausdrücklichen Regelung in § 11 BKGG gelte als Jahreseinkommen die Summe der in den nach Abs. 3 oder 4 maßgeblichen Kalenderjahr erzielten, positiven Einkünfte i.S. des § 2 Abs. 1 und 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Ein Ausgleich mit Verlusten aus anderen Einkommensarten und mit Verlusten des Ehegatten sei nicht zulässig. Nach dem Willen des Gesetzgebers seien nur die tatsächlich durch den Einkommensteuerbescheid ausgewiesenen Beträge zu berücksichtigen. Die vom Kläger letztlich angestrebte fiktive Einkommensberechnung sei nicht zulässig. Eine Gleichstellung von Steuerpflichtigen, die nicht gebaut oder „nur” ein selbst bewohntes Einfamilienhaus erstellt hätten, mit solchen, die ein Mehrfamilienhaus besäßen, bedeutete einen Verwaltungsaufwand, der nicht gerechtfertigt sei. Die seit dem 1. Januar 1983 geltenden Kürzungsvorschriften der §§ 10 und 11 BKGG widersprächen nicht dem Sozialstaatsprinzip. Die Ausgestaltung des Familienlastenausgleichs erfordere nicht für alle Kindergeldberechtigten die Weiterzahlung des Kindergeldes in der bis 1982 gewährten Höhe. Kindergeld sei im eigentlichen Sinne kein Mittel der Vermögensbildung.

Mit seiner von dem SG zugelassenen Sprungrevision verfolgt der Kläger seinen Anspruch weiter. Der bei der Kindergeldberechnung ausgeschlossene steuerrechtlich zulässige Verlustausgleich führe zu einer Ungleichbehandlung der Eigentümer von Zwei- und Mehrfamilienhäusern im Verhältnis zu Eigentümern von Einfamilienhäusern. Es sei willkürlich, daß gerade auf die ungleichen Elemente entscheidend abgestellt werde. Es sei unbillig, daß sich im wesentlichen gleiche Belastungen aus Hauseigentum als dem entscheidenden vergleichbaren Element bei der Kindergeldberechnung unterschiedlich auswirkten. Die Regelung des § 11 BKGG n.F. verstoße im übrigen gegen Art. 20 Abs. 1 GG, der es dem Gesetzgeber verbiete, einmal gewährte soziale Leistungen wieder zu vermindern.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil sowie den Bescheid der Beklagten vom 30. März 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juli 1983 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Kindergeld in der bis 31. Dezember 1982 ermittelten Höhe weiter zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Regelung des § 11 BKGG führe nicht zu einer Ungleichbehandlung wie der Kläger sie annehme, denn auch die steuerlichen Vergünstigungen, die Eigentümern von Einfamilienhäusern oder Eigentumswohnungen nach § 7b EStG gewährt würden, dürften bei der Ermittlung des an rechenbaren Einkommens nach § 11 BKGG nicht berücksichtigt werden. Ein Rückgriff auf den Begriff des zu versteuernden Einkommens des § 2 Abs. 5 EStG würde dem sozialpolitischen Zweck zuwiderlaufen, da sich dann alle zum Teil nur aus wirtschafts- oder fiskalpolitischen Überlegungen steuerrechtlich zulässigen Abzugsmöglichkeiten kindergeldrechtlich auswirken. Steuerrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten zum Zweck der Vermögensbildung und der Förderung des Wohnungsbaues sollten aber bei der einkommensabhängigen Minderung des Kindergeldes außer Betracht bleiben. Es wäre im übrigen unverständlich, wenn die sogenannten Abschreibungsgewinner aufgrund ihrer negativen Einkünfte durch Verlustausgleich im Genuß des ungeminderten Kindergeldes blieben. § 11 BKGG verstoße daher nicht gegen das Willkürverbot. Art. 20 Abs. 1 GG sei ebenfalls nicht verletzt. Die Ausgestaltung des Sozialstaatsgebots sei dem Gesetzgeber weitgehend überlassen. Individualrechtliche Ansprüche könnten daraus nicht hergeleitet werden. Diese Gestaltungsfreiheit stehe dem Gesetzgeber im Rahmen der Art. 3 und 6 GG grundsätzlich auch im Recht des Kinderlastenausgleichs zu. Art. 20 Abs. 1 GG gewähre dem einzelnen Bürger auch keinen individuellen Anspruch auf Wahrung des Besitzstandes hinsichtlich der ihm zufließenden Sozialleistungen für alle Zeiten.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

II

Das Verfahren ist gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) einzuholen, denn der Senat hält die in § 11 Abs. 1 BKGG in der seit dem 1. Januar 1983 geltenden Fassung des Art. 13 des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 vom 20. Dezember 1982 (BGBl I, 1857) n.F. getroffene Regelung über das Jahreseinkommen, das bei der Bemessung des Kindergeldes nach § 10 Abs. 2 BKGG n.F. zugrunde zu legen ist, für verfassungswidrig. Die Regelung verstößt gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

Die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits hängt von der Gültigkeit des § 11 Abs. 1 BKGG n.F. ab. Sollte diese Norm ungültig sein, könnte die Beklagte das dem Kläger für seine zwei Kinder zustehende Kindergeld von monatlich 150,– DM (vgl. § 10 Abs. 1 BKGG) ab 1. Januar 1983 nicht auf 120,– DM monatlich mindern und keine Rückzahlung von für die Monate Januar und Februar 1983 gezahlten Kindergeldes gemäß § 44 Abs. 2 Satz 1 BKGG n.F. verlangen. Der angefochtene Bescheid wäre rechtswidrig; das Urteil des SG müßte aufgehoben und der Klage stattgegeben werden.

Der angefochtene Bescheid entspricht dem Gesetz. Nach § 10 Abs. 1 BKGG n.F. beträgt das Kindergeld für das erste Kind 50,– DM, für das zweite Kind 100,– DM. Gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 BKGG n.F. wird das Kindergeld für das zweite und jedes weitere Kind nach dem in Satz 4 genannten Maßstab stufenweise bis auf einen Sockelbetrag von 70,– DM für das zweite Kind gemindert, wenn das Jahreseinkommen des Berechtigten und seines nicht dauernd von ihm getrennt lebenden Ehegatten den für ihn maßgeblichen Freibetrag um wenigstens 480,– DM übersteigt. Der Freibetrag setzt sich zusammen aus 25.920,– DM für Berechtigte, die, wie der Kläger, verheiratet sind und von ihrem Ehegatten nicht dauernd getrennt leben sowie 7.800,– DM für jedes Kind, für das dem Berechtigten Kindergeld zusteht (§ 10 Abs. 2 Satz 3 BKGG) – für den Kläger also 41.520,– DM. Für je 480,– DM, um die das Jahreseinkommen den maßgeblichen Freibetrag übersteigt, wird das Kindergeld um 20,– DM monatlich gemindert; kommt die Minderung des für mehrere Kinder zu zahlenden Kindergeldes in Betracht, wird sie beim Gesamtkindergeld vorgenommen (§ 10 Abs. 2 Satz 4 BKGG n.F.). Die Beklagte hat diese Kürzungsregelung auch nach der übereinstimmenden Auffassung der Beteiligten richtig angewendet; ebenso hat sie das bei der Anwendung des § 10 Abs. 2 BKGG zu berücksichtigende Jahreseinkommen, welches gemäß § 11 BKGG n.F. zu ermitteln ist, richtig berechnet. Wären, wie der Kläger meint, negative Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung mindernd zu berücksichtigen, so würde das Jahreseinkommen des Klägers den für ihn maßgeblichen Freibetrag unterschreiten, so daß das Kindergeld für seine beiden Kinder nicht zu kürzen wäre. Wäre sein Jahreseinkommen nicht um diese negativen Einkünfte zu kürzen, so hätte die Beklagte das Kindergeld für das zweite Kind zutreffend auf den Sockelbetrag von 70,– DM monatlich gemindert.

Nach der Regelung des § 11 Abs. 1 BKGG n.F. ist es nicht möglich, von dem Einkommen einen fiktiven Einkommensteuerbetrag abzuziehen, der sich dadurch ergäbe, daß man dem zu versteuernden Einkommen die nach § 11 Abs. 1 Satz 2 BKGG n.F. unberücksichtigt bleibenden Verluste als fiktiven Einkommensteil hinzurechnet und dann die Steuer für den Gesamtbetrag ermittelt. Gegen eine solche Verfahrensweise sprechen die Vorschriften des § 11 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 Satz 1 BKGG n.F.. Nach der zuletzt genannten Vorschrift ist maßgeblich das Einkommen im vorletzten Kalenderjahr, für das die Zahlung des Kindergeldes in Betracht kommt, und zwar so, wie es der Besteuerung zugrunde gelegt worden ist. § 11 Abs. 2 Nr. 1 BKGG erklärt nur die Einkommensteuer und die Kirchensteuer für abzugsfähig, die für das nach Abs. 3 und 4 maßgebliche Kalenderjahr zu leisten waren oder sind. Nach dem Wortlaut des Gesetzes wird also auf die tatsächliche Steuerpflicht abgestellt. Der Umfang der abzugsfähigen Einkommensteuer kann also nicht mit Hinblick auf das in § 11 Abs. 1 Satz 2 BKGG n.F. enthaltene Verbot des Ausgleichs mit Verlusten aus anderen Einkunftsarten und mit Verlusten des Ehegatten im Wege einer Fiktion entsprechend geändert werden. Die Beklagte hat sich daher im Rahmen des Gesetzes gehalten, wenn sie das Jahreseinkommen des Klägers nicht auch um die negativen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung kürzte.

§ 11 Abs. 1 BKGG läßt sich nicht verfassungskonform in dem Sinne auslegen, daß ein Ausgleich mit Verlusten aus anderen Einkunftsarten als zulässig anzusehen wäre. Die verfassungskonforme Auslegung setzt voraus, daß die anzuwendenden Normen mehrere Auslegungen zulassen (vgl. Leibholz/Rinck, GG, Komm, 6. Aufl., Einführung Anm. 4). Bei der Auslegung dürfen nicht die Grenzen überschritten werden, die sich aus Wortlaut und Sinngehalt des Gesetzes ergeben; hierbei ist der Zweck der gesetzlichen Regelung zu beachten. Der Grundsatz der Gewaltenteilung verbietet es, daß eine verfassungskonforme Auslegung das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht (BVerfGE 8, 28, 34; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. S. 329). Eine andere als die vom Senat vorstehend dargelegte Auslegung des § 11 Abs. 1 BKGG würde hiergegen verstoßen. Nach dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 Satz 2 BKGG und dem Sinngehalt dieser Norm muß davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber den Ausgleich mit Verlusten aus anderen Einkunftsarten nicht zulassen wollte. Auch § 11 Abs. 1 Satz 1 BKGG läßt sich als Beleg hierfür heranziehen. Wenn dort das Jahreseinkommen als die Summe der in dem nach Abs. 3 oder 4 maßgeblichen Kalenderjahr erzielten „positiven” Einkünfte i.S. des § 2 Abs. 1 und 2 EStG bezeichnet wird, macht diese Definition schon deutlich, daß negative Einkünfte bei der Ermittlung des Jahreseinkommens keine Rolle spielen sollen. Der Gesetzeswortlaut bringt auch zutreffend zum Ausdruck, daß der Gesetzgeber mit der Beschränkung auf die positiven Einkünfte und dem Verbot des Verlustausgleichs aus anderen Einkunftsarten und mit Verlusten der Ehegatten unterbinden wollte, daß sich steuerliche Subventionen im Kindergeldrecht begünstigend auswirken können (vgl. BT-Drucks 9/2140, S. 86 zu Art. 12 Nr. 3 i.V.m. BT-Drucks 9/410, S. 11, Ziff. 3.2).

Eine abschließende Entscheidung durch das Bundessozialgericht (BSG) ist nicht möglich. Zwar geht der Senat davon aus, daß der Gesetzgeber – wie dies in § 10 Abs. 2 BKGG geschehen ist – die Höhe des Kindergeldes für das zweite und jedes weitere Kind vom Einkommen des Kindergeldberechtigten abhängig machen darf. Eine derartige Differenzierung nach der Leistungsfähigkeit ist verfassungsrechtlich unbedenklich, denn dem Bürger können höhere Eigenbelastungen für den Unterhalt seiner Kinder auferlegt werden, je geringer der Teil seines Einkommens ist, den er für seine notwendigen Bedürfnisse aufwenden muß (BVerfGE 43, 108, 120 f, 125). Entgegen der Auffassung des Klägers sieht der Senat keinen Verstoß gegen den Gleichheitssatz darin, daß bei Familien mit gleichem Einkommen nur diejenigen von der Kindergeldkürzung betroffen werden, die mehr als ein Kind haben. Der Gesetzgeber war nicht gezwungen, Familien mit einem Kind in die Kindergeldkürzung einzubeziehen. Im Rahmen des ihm zustehenden weiten Gestaltungsspielraums konnte der Gesetzgeber die Einkommensabhängigkeit eines Teils der Leistungen auf Familien mit zwei oder mehr Kindern beschränken und die bisherige Regelung für Kindergeldberechtigte mit einem Kind unangetastet lassen. Es muß der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen bleiben, das Kindergeld entsprechend den von ihm eingeschätzten Bedürfnissen zu staffeln. Für die Zulässigkeit dieser Differenzierung spricht auch, daß das Erstkindergeld nur 50,– DM beträgt und somit weit unter den Leistungen liegt, die das BKGG auch schon vor der Änderung durch das Haushaltsbegleitgesetz (HBegleitG) 1983 für das zweite und jedes weitere Kind vorsah.

Dagegen steht § 11 Abs. 1 BKGG nicht in Einklang mit dem GG. Die Vorschrift verstößt gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ist der Gleichheitssatz verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt, wenn also die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muß (BVerfGE 1, 14, 52; 14, 142, 150; 18, 38, 46; 20, 31, 33; 21, 6, 9). Der Gleichheitssatz verpflichtet damit, nicht nur Gleiches gleich, sondern Ungleiches entsprechend seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln. Dabei braucht der Gesetzgeber aber nicht alle tatsächlichen Gleichheiten oder Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen. Ein Verstoß gegen Art. 3 GG liegt vielmehr nur dann vor, wenn Umstände außer acht bleiben, die so bedeutsam sind, daß sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise berücksichtigt werden müssen (BVerfGE 1, 264, 275 f; 9, 137, 146; 19, 354, 367). Dem Gesetzgeber bleibt bei der Ordnung der Lebensverhältnisse ein weiter Spielraum für die Betätigung seines Ermessens. Von den Gerichten ist daher nicht zu prüfen, ob der Gesetzgeber die gerechteste und zweckmäßigste Regelung getroffen hat, sondern lediglich, ob er die äußersten Grenzen des Ermessens, bereits überschritten hat (BVerfGE 3, 58, 135; 4, 7, 18; 9, 137, 146; 19, 354, 367 f). Die Definition des Jahreseinkommens in § 11 Abs. 1 Satz 1 BKGG als Summe der erzielten positiven Einkünfte und, das in Satz 2 dieses Absatzes enthaltene Verbot des. Ausgleichs mit Verlusten aus anderen Einkunftsarten führt – je nach Betrachtungsweise – zu einer sachwidrigen Gleichbehandlung oder Ungleichbehandlung von Kindergeldberechtigten. Sieht man darin einen wesentlichen Unterschied, daß die Kindergeldberechtigten ihr Einkommen teils aus einer Einkunftsart, teils aus mehreren Einkunftsarten beziehen, so verstößt die Regelung des § 11 Abs. 1 BKGG gegen den Gleichheitssatz, indem sie diese beiden Gruppen willkürlich gleich behandelt. Während bei Kindergeldberechtigten, deren Einkommen nur zu einer Einkunftsart gehört, einkommensmindernde Umstände (zB Absetzung für Abnutzung und Substanzverringerung – § 7 EStG – und Werbungskosten – § 9 EStG –) unbegrenzt auf die Höhe des „Jahreseinkommens” Einfluß haben, ist dies bei Kindergeldberechtigten mit Einkommen aus verschiedenen Einkunftsarten nicht der Fall. Bei ihnen können einkommensmindernde Umstände innerhalb der einzelnen Einkunftsarten zwar auch bis zur Null-Grenze berücksichtigt werden. Setzt sich ihr Einkommen jedoch – getrennt nach verschiedenen Einkunftsarten – aus positiven, und negativen Einkünften zusammen (z.B. 60.000,– DM aus Gewerbebetrieb, 3.000,– DM aus nichtselbständiger Arbeit und 10.000,– DM Verluste aus Vermietung und Verpachtung), so dürfen nach der Regelung des § 11 Abs. 1 BKGG nur die positiven Einkünfte berücksichtigt werden. Dadurch kann es zu dem Ergebnis kommen, daß ein Kindergeldberechtigter mit Einkommen aus mehreren Einkunftsarten als leistungsfähig gilt, obwohl er tatsächlich wirtschaftlich wesentlich schlechter dasteht als ein anderer Kindergeldberechtigter, dessen Einkommen aus einer Einkunftsart infolge einkommensmindernder Umstände unter dem Freibetrag des § 10 Abs. 2 Satz 3 BKGG bleibt. Eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung der beiden Gruppen von Kindergeldberechtigten ist jedoch zu konstatieren, wenn auf die Leistungsfähigkeit als das vom Gesetzgeber gewählte Kriterium für die Kürzung des Kindergeldes abgestellt wird. Bei dieser Betrachtungsweise liegt eine Ungleichbehandlung darin, daß der Kindergeldberechtigte mit Einkommen aus einer Einkunftsart bei niedrigem Einkommen bzw Verlusten stets das volle Kindergeld erhalten kann, der Kindergeldberechtigte mit gleich hohem Einkommen aus mehreren Einkunftsarten wegen der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 2 BKGG sich unter Umständen mit dem gekürzten Kindergeld zufrieden geben muß, also die Leistungsfähigkeit nicht in gleichem Maße den Ausschlag für die Bemessung des Kindergeldes gibt.

Im Hinblick auf diese Auswirkungen läßt sich – bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise – für die in § 11 Abs. 1 BKGG vorgeschriebene Gleichbehandlung bzw. Ungleichbehandlung von Kindergeldberechtigten mit Einkommen aus einer Einkunftsart und Kindergeldberechtigten mit Einkommen aus mehreren Einkunftsarten kein sachlich einleuchtender Grund finden. Zwar wollte der Gesetzgeber durch das Verbot des Verlustausgleichs aus anderen Einkunftsarten verhindern, daß auch steuerliche Subventionierungen (z.B. Abschreibungen) begünstigend im Kindergeldrecht wirken (vgl. dazu BT-Drucks 9/2140, S. 86 zu Art. 12 Nr. 3 i.V.m. BT-Drucks 9/410, S. 11, Ziff. 3.2). Dieses Ziel ist aber nur ungenügend erreicht worden. Abschreibungen und sonstige steuerliche Subventionierungen sind nämlich bei Kindergeldberechtigten mit Einkommen aus einer Einkunftsart und Kindergeldberechtigten mit Einkommen aus mehreren Einkunftsarten gleichermaßen bis zur Null-Grenze innerhalb der jeweiligen Einkunftsart zu berücksichtigen, bei der sie anfallen. Nur wenn bei einem Einkommen aus mehreren Einkunftsarten negative Einkünfte mit positiven Einkünften zusammentreffen, verhindert § 11 Abs. 1 BKGG durch das Verbot des Verlustausgleichs, daß sich die Abschreibungen und sonstigen steuerlichen Subventionierungen noch jenseits der Null-Grenze – also im Verlustbereich einer Einkunftsart – einkommensmindernd und damit für den Kindergeldberechtigten „günstig” auswirken. Wenn sich das Verbot des Verlustausgleichs auf Verluste beschrankte, die durch Absetzungen, Sonderabschreibungen oder ähnliche steuerliche Subventionierungen „künstlich” herbeigeführt werden, wäre der Gesetzgeber im Rahmen des ihm zustehenden Ermessensspielraums möglicherweise befugt, eine solche Regelung zu treffen, auch wenn durch sie die Kinderrgeldberechtigten mit Einkommen aus mehreren Einkunftsarten im Einzelfalle benachteiligt wurden. Da das Verbot des Verlustausgleichs aber auch, die realen Verluste (zB die Geschäftsunkosten – Miete für Geschäftsräume, Energiekosten, Löhne usw. – übersteigen die erzielten Einnahmen) erfaßt, sind die Nachteile für die Kindergeldberechtigten mit Einkommen aus mehreren Einkunftsarten so gravierend, daß das mit der Norm verfolgte Ziel die Gleichbehandlung unterschiedlicher Sachverhalte hier nicht zu rechtfertigen vermag.

Ebensowenig kann § 11 Abs. 1 BKGG mit der Begründung für verfassungsrechtlich unbedenklich erklärt werden, der Gesetzgeber habe die Ermittlung des Jahreseinkommens für die Verwaltung durch pauschalierende Regelungen so praktikabel wie möglich gestalten müssen. Zwar darf der Gesetzgeber bei der Ordnung von Massenerscheinungen typisierende Regelungen treffen (BVerfGE 17, 1, 25; 51, 115, 122 f; 63, 119, 128). Härten, die mit einer solchen Typisierung im Einzelfalle unvermeidlich verbunden sind, müssen hingenommen werden (BVerfGE 13, 21, 29). Indessen rechtfertigt das nicht jede Härte im Einzelfall. Eine noch hinzunehmende Typisierung setzt vielmehr voraus, daß die durch sie eintretenden Härten oder Ungerechtigkeiten nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen und daß der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv ist (BVerfGE 26, 265, 275 f).

Die Grenzen zulässiger Typisierung sind hier jedoch überschritten. Die mit der typisierenden Regelung des § 11 Abs. 1 BKGG verbundenen Härten oder Ungerechtigkeiten betreffen eine erhebliche Zahl von Personen. Kindergeldberechtigt sind nämlich nicht nur abhängig Beschäftigte, sondern auch Selbständige, bei denen sich das Einkommen oft aus Einkünften verschiedener Einkunftsarten zusammensetzt. Aber auch kindergeldberechtigte Arbeitnehmer gehören keineswegs immer zu dem Personenkreis, der sein Einkommen nur aus nichtselbständiger Arbeit bezieht. Da ein sehr großer Personenkreis Einkünfte aus verschiedenen Einkunftsarten bezieht, muß davon ausgegangen werden, daß auch häufiger negative und positive Einkünfte zusammentreffen und sich dadurch die dargestellten Ungerechtigkeiten ergeben können.

Auch die Intensität des Verstoßes gegen den Gleichheitssatz läßt die durch die Typisierung eintretenden Härten und Ungerechtigkeiten nicht mehr als hinnehmbar erscheinen. Nach der Regelung des § 11 BKGG ist es möglich, daß der eine Kindergeldberechtigte, der sein Einkommen nur aus einer Quelle bezieht, für sein zweites und seine weiteren Kinder das volle Kindergeld nach § 10 Abs. 1 BKGG erhält, während einem anderen Kindergeldberechtigten mit Einkommen aus mehreren Einkunftsarten bei gleich geringer Leistungsfähigkeit wegen des Verbots des Verlustausgleichs nur jeweils der Sockelbetrag des § 10 Abs. 2 BKGG zusteht. Die Differenz macht bei vier Kindern einen Betrag von monatlich 210,– DM oder von jährlich 2.520,– DM aus und ist – selbst bei einem Einkommen, das über dem durchschnittlichen Einkommen eines Arbeitnehmers liegt – beträchtlich.

Für die Zulässigkeit der typisierenden Regelung sprechen hier auch nicht praktische Erfordernisse der Verwaltung. Eine Typisierung kann verfassungsrechtlich unbedenklich sein, wenn die durch sie entstehenden Ungerechtigkeiten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären (vgl. BVerfGE 45, 376, 390; dazu auch 66, 234, 245). Hierfür sind auch praktische Erfordernisse der Verwaltung von Gewicht (BVerfGE 9, 20, 31 f; 63, 119, 128). Selbst wenn man davon ausgeht, daß die strittige Regelung des § 11 BKGG relativ einfach zu handhaben ist und der Verwaltung ermöglicht, über die Höhe des Kindergeldes allein an Hand des vorzulegenden Einkommensteuerbescheides zu entscheiden (vgl. dazu BT-Drucks 9/603, S. 5, 23 ff), ist dies keine hinreichende Rechtfertigung für die entstehenden Ungerechtigkeiten. Das Verwaltungsverfahren würde nicht unerträglich erschwert, wenn der Gesetzgeber beispielsweise den Abzug von steuerlichen Subventionen beim Jahreseinkommen i.S. des § 11 BKGG für unzulässig erklärte, im Übrigen den Verlustausgleich aber unbeschränkt zuließe. Bei einer solchen gesetzlichen Regelung müßte zwar häufiger neben dem Einkommensteuerbescheid auf die Einkommensteuererklärung des Kindergeldberechtigten zurückgegriffen werden. Diese Erschwerung ist nach Auffassung des vorlegenden Senats indessen als weniger bedeutsam zu bewerten als die mit der jetzigen Typisierung verbundenene Benachteiligung einer relativ großen Zahl von Personen. Hinzu kommt, daß das BKGG keine Härteklausel enthält, die es ermöglichte, die Folgen des Verbots des Verlustausgleichs im Einzelfalle zu mildern (vgl. dazu Leibholz/Rinck, Art. 3 Anm. 15 unter Hinweis auf BVerfGE 17, 57).

An der Beurteilung ändert sich schließlich auch nichts dadurch, daß es sich bei dem Kindergeldrecht um die Regelung einer rein darreichenden Verwaltung handelt, also einem Rechtsgebiet, auf dem der Gesetzgebung ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht (vgl. BVerfGE 11, 50, 60; 60, 16, 42). Denn auch hier gilt das Verbot, wesentlich Ungleiches nicht sachwidrig gleich oder wesentlich Gleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfGE 28, 324, 349; 60, 16, 42). Dieses Verbot wird auch nicht dadurch gelockert, daß die Neufassung des § 11 BKGG durch das HBegleitG 1983 erfolgt ist und die Minderung des Kindergeldes entsprechend der Höhe des Einkommens zu den Maßnahmen der Sanierung des Staatshaushaltes zu rechnen ist. Wenn der Gesetzgeber im Rahmen von Haushaltssanierungen auch grobrastige Gesamtmaßnahmen treffen darf, so muß er gleichwohl die Willkürgrenze beachten (BVerfGE 60, 16, 43). Dies gilt insbesondere für benachteiligende Typisierungen.

Bei ihnen ist die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ohnehin geringer (BVerfGE 19, 101, 116; 65, 325, 356). Das Verbot über den Verlustausgleich aus anderen Einkunftsarten ist eine benachteiligende Typisierung. Auch wenn der Gesetzgeber sie im Rahmen einer Haushaltssanierung in das Kindergeldrecht eingeführt hat, ist sie wegen des damit verbundenen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz, der Intensität dieses Verstoßes und der Zahl der betroffenen Personen nicht mehr hinnehmbar.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1600576

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