Leitsatz (amtlich)

Wenn mit einer Klage Waisenrente begehrt wird, ohne die Zeit anzugeben, für die diese Leistung beansprucht wird, ist im Zweifel anzunehmen, daß die Rente für die Zeit verlangt wird, für die es nach dem Gesetz möglich ist, nicht aber für eine Zeit, für die ein Anspruch auf Rente nur in Betracht kommt, wenn das Gesetz ganz oder teilweise verfassungswidrig und deshalb nichtig ist, wenn also zB AVG § 44 Abs 1 S 2 hinsichtlich der "Heiratswegfallklausel" nichtig wäre.

 

Normenkette

AVG § 44 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1964-04-01; RVO § 1267 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1964-04-01; SGG § 146 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. November 1968 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Kläger begehren als Hinterbliebene ihrer verstorbenen Mutter Waisenrente aus deren Versicherung. Die Beklagte lehnte die Rentenanträge wegen Nichterfüllung der Wartezeit ab. In gleichem Sinne entschied das Sozialgericht (SG). Die Berufung der Kläger wurde vom Landessozialgericht (LSG) als unzulässig verworfen; es war der Auffassung, die vom SG nicht zugelassene Berufung sei nach § 146 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht statthaft, weil sie nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betreffe; die Berufung sei auch nicht nach § 150 Nr. 2 SGG statthaft. Die Revision wurde nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Dieses Rechtsmittel wäre daher nur statthaft, wenn ein tatsächlich vorliegender, wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG gerügt wäre. Das ist nicht der Fall. Die in der Revisionsbegründung erhobenen Rügen machen die Revision nicht statthaft.

Nach der Ansicht der Revision ist aus dem Protokoll über die Sitzung des LSG am 22. November 1968 zu entnehmen, daß das angefochtene Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung ergangen sei; gleichwohl seien entgegen § 112 Abs. 1 Satz 2 SGG i.V.m. § 153 Abs. 1 SGG eine Darstellung des Sachverhalts unterblieben und das ergangene Urteil entgegen §§ 132, 133 i.V.m. § 153 Abs. 1 SGG nicht verkündet worden. Die Ansicht der Revision ist irrig. Der behauptete wesentliche Verfahrensmangel liegt nicht vor. Das angefochtene Urteil ist als Entscheidung nach Lage der Akten ergangen; es bedurfte deshalb im Termin vor dem LSG weder der Darstellung des Sachverhalts noch der Verkündung des Urteils (vgl. SozR Nr. 9 zu § 112 SGG).

Mit der Revision wird ferner beanstandet, das LSG habe zu Unrecht ein Prozeßurteil erlassen, anstatt eine Sachentscheidung zu treffen. Entgegen der Ansicht des LSG hätten die Voraussetzungen zur Verwerfung der Berufung (§§ 146, 158 SGG) nicht vorgelegen, weil diese nach dem zuletzt in der Berufungsinstanz gestellten Antrag nicht nur Rente für einen abgelaufenen Zeitraum betroffen habe. Das LSG hätte "den geltend gemachten Anspruch gemäß §§ 123, 143, 157 SGG in vollem Umfang sachlich prüfen und auf die in vollem Umfang statthafte Berufung eine Sachentscheidung treffen" müssen.

Ein prozessual unrichtiges Verhalten des Berufungsgerichts kann zwar einen wesentlichen Mangel des Verfahrens bedeuten (vgl. BSG 1, 283, 286; 2, 245, 253). Daß aber ein derartiger Vorwurf tatsächlich zutrifft, muß der Revisionsbegründung zweifelsfrei entnommen werden können; sie muß die Tatsachen und Beweismittel, die den Mangel ergeben, bezeichnen (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Hieran fehlt es.

Die Revisionsbegründung läßt für keinen der Kläger erkennen, daß und weshalb die jeweils gesondert zu prüfenden Berufungsbegehren nicht nach § 146 SGG von dem Rechtsmittel der Berufung ausgeschlossen gewesen waren. Das gilt auch für die Kläger 1.) und 5.). Zwar betont die Revision, daß für diese Kläger in der Berufungsbegründungsschrift der Anspruch "auch auf die Zeit nach der Eheschließung erstreckt" worden sei. Durch diese Ausdrucksweise macht sie selbst aber deutlich, daß eben nicht von Anfang an, d.h. auch schon im erstinstanzlichen Verfahren Waisenrente jeweils auch für die Zeit nach der Heirat verlangt worden ist, sondern daß dies für sie erstmals mit der Berufungsbegründungsschrift geschehen ist. Wenn mit einer Klage Waisenrente begehrt wird, ohne die Zeit anzugeben, für die diese Leistung beansprucht wird, ist im Zweifel anzunehmen, daß die Rente für die Zeit verlangt wird, für die es nach dem Gesetz möglich ist, nicht aber für eine Zeit, für die ein Anspruch auf Rente nur in Betracht kommt, wenn das Gesetz ganz oder teilweise verfassungswidrig und deshalb nichtig ist, wenn also z.B. § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG hinsichtlich der "Heiratswegfallklausel" nichtig wäre. Im vorliegenden Fall haben die Kläger im erstinstanzlichen Verfahren nicht erkennen lassen, daß jedenfalls einzelne von ihnen - nämlich die Kläger 1.) und 5.) - auch Rente für die Zeit nach der Heirat begehren; weder in ihren Anträgen noch in ihren Erklärungen gegenüber dem SG finden sich entsprechende Hinweise. Sie haben erst durch die Erweiterung ihrer Klage in der Berufungsinstanz Rente auch für einen Zeitraum nach Einlegung der Berufung begehrt. Eine Klageerweiterung ist zwar in der Berufungsinstanz noch möglich (vgl. §§ 153, 99 SGG); doch setzt sie voraus, daß die Berufung schon vorher zulässig war, weil nur dann das LSG in eine sachliche Prüfung der Ansprüche eintreten darf. Eine Berufung gegen ein Urteil, das nur Rente für einen im Zeitpunkt der Berufungseinlegung bereits abgelaufenen Zeitraum betrifft, kann aber nicht durch eine Klageerweiterung im Berufungsverfahren statthaft gemacht werden (vgl. SozR Nr. 20 zu § 144 SGG).

Hiernach ist die Revision unstatthaft und muß deshalb als unzulässig verworfen werden (§ 169 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669638

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