Entscheidungsstichwort (Thema)

Grenzen des rechtlichen Gehörs

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör entspricht die Pflicht des Gerichts, die Anträge und Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen.

2. Da nicht jedes Vorbringen der Beteiligten ausdrücklich beschieden werden muß, ist die Verletzung dieser Pflicht allerdings nur feststellbar, wenn sie sich aus besonderen Umständen des Einzelfalles ergibt.

 

Normenkette

SGG § 62 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 19. November 1968 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Kläger sind Hinterbliebene (Witwe und Sohn) des am 9. Dezember 1900 geborenen und am 20. Juni 1967 verstorbenen Versicherten S G. Ihm hatte die Beklagte ab Dezember 1965 Altersruhegeld bewilligt (Bescheide vom 18. Januar 1966 und 21. Februar 1967). Wegen der Höhe hatte er Klage erhoben, die nach seinem Tode von der Klägerin zu 1.) als Rechtsnachfolgerin fortgeführt wurde. Mit diesem Prozeß verband das Sozialgericht (SG) den weiteren, in dem sich die Kläger gegen die im Bescheid der Beklagten vom 21. August 1967 festgesetzte Höhe der Hinterbliebenenrenten wandten. Durch Urteil vom 13. Mai 1968 wies das SG die Klagen ab, weil die von den Klägern angegriffene Einstufung des Versicherten für die Beschäftigungszeit als Gewerkschaftssekretär in K (bis November 1930 Leistungsgruppe 4 der Anlage 1 B zu § 22 des Fremdrentengesetzes - FRG -, danach Leistungsgruppe 3) nicht zu beanstanden sei. Durch Urteil vom 19. November 1968 verwarf das Landessozialgericht (LSG) Berlin die Berufung der Klägerin zu 1.) hinsichtlich der Versichertenrente auf Grund des § 146 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als unzulässig, weil das Rechtsmittel nur Rente für einen abgelaufenen Zeitraum betreffe; im übrigen wies es die Berufung der Kläger als unbegründet zurück, es hielt die Einstufung des Versicherten für zutreffend.

Mit der nicht zugelassenen Revision beantragen die Kläger,

a) der Klägerin zu 1) einen neuen Bescheid über das Altersruhegeld zu erteilen und ein höheres Altersruhegeld nachzuzahlen,

b) den Klägern höhere Hinterbliebenenrenten zu gewähren,

hilfsweise,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Sie rügen als wesentliche Verfahrensmängel des LSG:

(I) Die Schriftführerin sei bei der gerichtlichen Beratung und Beschlußfassung zugegen gewesen;

(II) in der Verhandlung vor dem LSG sei der Sachverhalt nicht dargestellt worden;

(III) das Urteil des LSG sei nicht verkündet worden;

(IV) das LSG habe die Berufung hinsichtlich der Versichertenrente zu Unrecht als unzulässig verworfen;

(V) es habe insoweit kein Prozeßurteil erlassen dürfen;

(VI) SG und LSG hätten das Vorbringen übergangen, daß ein ordnungsgemäß entrichteter Beitrag bisher nicht angerechnet worden sei;

(VII) die Erwägungen des LSG zur Einstufung des Versicherten verletzten die §§ 103, 128 SGG.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

II

Die Revision der Kläger ist zulässig und begründet.

Der Senat braucht nicht auf alle Verfahrensrügen einzugehen. Es trifft jedenfalls die im Abschnitt VI der Revisionsbegründung erhobene Verfahrensrüge zu; sie macht die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.

Darin haben die Kläger vorgetragen: Sie hätten bereits in der Verhandlung vor dem SG geltend gemacht, daß die Beklagte den ordnungsgemäß am 29. September 1967 entrichteten Beitrag nicht angerechnet habe. Das habe das SG in der Sitzungsniederschrift und im Urteil übergangen. Hierauf hätten sie in der Berufungsbegründungsschrift vom 21. September 1968 hingewiesen und hilfsweise die Zurückverweisung an das SG beantragt. Gleichwohl habe auch das LSG das Vorbringen übergangen; weder in dem Tatbestand noch in den Entscheidungsgründen finde sich ein Hinweis darauf. Die Kläger sehen darin eine Verletzung der §§ 62, 103, 128 Abs. 1 Satz 1, 136 Abs. 1 Nr. 6 SGG.

Die Akten der Vorinstanzen bestätigen im wesentlichen dieses Vorbringen. Die Kläger hatten schon im Schriftsatz an das SG vom 25. Oktober 1967 (Bl. 50 der Akten) geltend gemacht, daß die Klägerin zu 1) "noch einen versehentlich vom verstorbenen Ehemann zu wenig entrichteten freiwilligen Beitrag nachentrichtet" habe. Darauf ist das SG in seinem Urteil nicht eingegangen. In der Berufungsbegründung vom 21. September 1968 (Bl. 85 der Akten) hat die Klägerin B G ferner ua ausgeführt: "Entgegen der Ansicht der Beklagten ist die Berufung insgesamt zulässig, weil das Verfahren des Sozialgerichts an wesentlichen Mängeln leidet (§ 150 Nr. 2 SGG). Hilfsweise wird deshalb beantragt, das Urteil aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht zurückzuverweisen (§ 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Obgleich in der Sitzung am 13. Mai 1968 von mir wiederholt hervorgehoben, hat das Sozialgericht die Tatsache völlig übergangen, daß die Beklagte einen ordnungsgemäß entrichteten Beitrag bisher nicht angerechnet hat ...". Im selben Schriftsatz haben die Kläger außerdem Verstöße des SG gegen §§ 103, 128 Abs. 1 SGG "hinsichtlich der Bewertung der FRG-Zeiten" gerügt. Mit diesem Vorbringen hat sich das LSG nicht befaßt. Es erwähnt es weder bei der Darstellung des Berufungsvorbringens im Tatbestand (S. 4 des Urteils, 3. Abs.), noch nimmt es in den Entscheidungsgründen Stellung dazu, insbesondere erörtert es nicht die Anwendbarkeit des § 150 Nr. 2 SGG.

Das spricht dafür, daß dem LSG dieses Vorbringen der Kläger entgangen ist. Die Kläger rügen deshalb mit Recht eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG). Diesem Anspruch entspricht die Pflicht der Gerichte, die Anträge und Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei ihrer Entscheidung zu erwägen (BVerfG 22, 267, 273). Da nicht jedes Vorbringen der Beteiligten ausdrücklich beschieden werden muß, ist die Verletzung dieser Pflicht allerdings nur feststellbar, wenn sie sich aus besonderen Umständen des Einzelfalles ergibt (BVerfG aaO). Solche haben hier jedoch vorgelegen. Das LSG war nämlich nach § 136 Abs. 1 Nr. 6 SGG verpflichtet, zu dem Vorbringen der Kläger in dem Schriftsatz vom 21. September 1968 Stellung zu nehmen; selbst wenn es dieses Vorbringen erwogen haben sollte, hat es auf jeden Fall die Vorschrift des § 136 Abs. 1 Nr. 6 SGG verletzt. Auch nach dieser Vorschrift müssen die Gerichte zwar nicht jedes Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen erörtern; soweit es sich aber um selbständige Ansprüche oder Angriffsmittel handelt, muß sich aus den Entscheidungsgründen ergeben, weshalb diese erfolgreich oder erfolglos geblieben sind (BGHZ 39, 333, 337). Ein solcher Fall war hier gegeben.

Die Rüge von Verfahrensmängeln des SG hatte das Ziel, die Berufung der Klägerin zu 1) hinsichtlich der Versichertenrente statthaft zu machen. Diese Berufung war an sich nach § 146 SGG nicht statthaft, weil sie nur Rente für einen abgelaufenen Zeitraum betraf; entgegen der Meinung der Revision war es unerheblich, daß der Rechtsstreit mit dem über die Hinterbliebenenrenten verbunden war und daß die Höhe der Versichertenrente sich auf die Höhe der Witwenrente auswirken konnte. Die Rüge eines Verfahrensmangels des SG konnte aber die Berufung ausnahmsweise nach § 150 Nr. 2 SGG statthaft machen. Dieses Vorbringen enthielt somit ein selbständiges prozessuales Angriffsmittel, zu dem das LSG Stellung nehmen mußte. Soweit die Kläger wegen des nachentrichteten Beitrages eine Rentenerhöhung begehrten, machten sie außerdem einen zusätzlichen Anspruch auf Rentenerhöhung durch Klageerweiterung geltend (vgl. BSG 21, 13, 16); selbst wenn ein neuer Anspruch zu verneinen wäre, hätten die Kläger damit zumindest ein weiteres sachliches Angriffsmittel geltend gemacht. Das LSG mußte deshalb sich auch sachlich-rechtlich zur behaupteten Beitragsentrichtung und den Folgen für die Rentenhöhe äußern.

Wenn das LSG das nicht getan hat, so hat es die §§ 62 und 136 Abs. 1 Nr. 6 SGG verletzt. Ob es außerdem, wie die Kläger annehmen, gegen die §§ 103, 128 Abs. 1 SGG verstoßen hat, kann dahingestellt bleiben. Die Revision ist deshalb nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; da sie form- und fristgerecht eingelegt ist, ist sie somit zulässig.

Die Revision ist auch begründet. Dabei hatte der Senat zu prüfen, ob die angefochtene Entscheidung auf der Verletzung des Verfahrensrechts beruht. Diese Prüfung durfte auch bei der Verletzung des § 136 Abs. 1 Nr. 6 SGG nicht unterbleiben. Die fehlende Begründung ist kein absoluter Revisionsgrund mehr in dem Sinne, daß bei einem solchen Mangel die Kausalitätsprüfung stets entfallen müßte. Damit eine unnötige Wiederholung von Urteilen vermieden wird, hat das Revisionsgericht vielmehr auch bei solchen Verletzungen die Kausalität für die Entscheidung dann zu prüfen, wenn diese Prüfung ohne besondere Schwierigkeiten möglich ist (BGH aaO S. 138; BFH, BStBl II 1969, 492). Im vorliegenden Falle läßt sich aber nicht ausschließen, daß der Verfahrensmangel des LSG für seine Entscheidung ursächlich gewesen ist. Aufgrund der Rüge, daß das SG das Vorbringen über den nachträglich entrichteten Beitrag nicht berücksichtigt habe, kann die Berufung der Klägerin zu 1) hinsichtlich der Versichertenrente statthaft gewesen sein. Das Vorbringen kann auch sachlich-rechtlich für die Höhe der Renten bedeutsam sein, obgleich der freiwillige Beitrag erst nach Beginn des Altersruhegeldes und erst nach dem Tode des Versicherten entrichtet worden sein soll; es ist nicht schlechthin unmöglich, daß er dennoch die Höhe der Versichertenrente und die Höhe der Hinterbliebenenrenten beeinflussen kann (vgl. zB BSG 18, 212; § 141 Abs. 2 AVG). Ob dies zutrifft, kann der Senat wegen des Fehlens einschlägiger Feststellungen nicht abschließend beurteilen.

Das Urteil des LSG muß deshalb aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Dieses hat bei der abschließenden Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens mitzubefinden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2285077

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