Leitsatz (amtlich)

Ist es fraglich, ob eine vom Beschwerdeführer geltend gemachte Abweichung iS von SGG § 160 Abs 2 Nr 2 vorliegt, wird aber durch die Behauptung einer Divergenz eine Rechtsfrage aufgeworfen, die der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung (SGG § 160 Abs 2 Nr 1) verleiht, so ist die Revision zuzulassen (Weiterführung von BVerwG 1966-05-11 VIII B 109.64 = BVerwGE 24, 91).

 

Orientierungssatz

1. Wiedereinsetzung nach SGG § 67 Abs 1 kann gewährt werden, wenn eine Rechtsmittelschrift an eine unzuständige Stelle übersandt worden ist und infolge pflichtwidrigen Verhaltens dieser Stelle erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist beim zuständigen Gericht eingeht.

2. Ähnlich wie es bei Anrufungen des Großen Senats für die Anwendung des SGG § 42 bzw des SGG § 43 nicht allein auf die äußere Kennzeichnung, sondern auch auf den Gehalt der Vorlagebeschlüsse ankommt (vgl BSG 1977-07-21 GS 1/76, 2/76 = Praxis 1977, 477), kann eine Divergenz iS des SGG § 160 Abs 2 Nr 2 auch vorliegen, wenn das LSG zwar allgemein und grundsätzlich eine eindeutige Stellungnahme gegen die Rechtsprechung des BSG vermeidet, in seinen näheren Darlegungen aber erkennen läßt, daß es diese Rechtsprechung nur erheblich modifiziert übernehmen will.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, Nr. 2 Fassung: 1974-07-30, § 160a Fassung: 1974-07-30, § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Bremen (Entscheidung vom 12.05.1977; Aktenzeichen L 3 V 73/76)

SG Bremen (Entscheidung vom 09.09.1976; Aktenzeichen S V 127/74)

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 12. Mai 1977 zugelassen.

 

Tatbestand

Das Klagabweisende, mit einer vorschriftsgemäßen Rechtsmittelbelehrung versehene Urteil des Sozialgerichts (SG) Bremen ist den Prozeßbevollmächtigten des Klägers (Rechtsschutzsekretäre beim Landesverband B des Reichsbundes der Kriegsopfer, Behinderten, Sozialrentner und Hinterbliebenen - Reichsbund -) am 29. September 1976 zugestellt worden; die Berufungsfrist (§ 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) endete daher mit Ablauf des 29. Oktober 1976 (Freitag). Die an das Landessozialgericht (LSG) Bremen adressierte Berufungsschrift vom 19. Oktober 1976 ist jedoch erst am Dienstag, dem 9. November 1976, beim LSG eingegangen. Hierzu kam es nach den Feststellungen des LSG folgendermaßen: Am Donnerstag, dem 21. Oktober 1976, suchte ein Rechtsschutzsekretär des Reichsbundes das Versorgungsamt B und das SG Bremen auf, um dort Schriftstücke abzuliefern. Hierbei gab er versehentlich die Berufungsschrift - ob diese in einem Briefumschlag steckte oder offen befördert wurde, ist nicht ermittelt worden - in der Poststelle des Versorgungsamts ab, wo sie den Eingangsstempel dieses Tages erhielt. Nachdem der Schriftsatz sodann spätestens am 22. Oktober 1976 der Rechtsabteilung des Versorgungsamts zugegangen war, blieb er dort zunächst ungeprüft liegen; in dieser Abteilung benötigte die Vorlage von Eingängen beim zuständigen Sachbearbeiter damals mehrere Tage bis zu einer Woche. Erst mit Begleitschreiben vom 8. November 1976 leitete schließlich das Versorgungsamt eine Kopie der Berufungsschrift an das LSG weiter.

Das LSG hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 Abs. 1 SGG) könne dem Kläger nicht gewährt werden, da die Fristversäumnis bei sorgsamem Verhalten des am 21. Oktober 1976 die Post austragenden Prozeßbevollmächtigten vermieden worden wäre. Ob das einmal gesetzte und fortwirkende Verschulden eines Beteiligten durch spätere Ereignisse wieder ausgeräumt werden könne, sei in der Rechtsprechung der obersten Verwaltungsgerichte des Bundes nicht befriedigend geklärt; insoweit stehe der vom Bundesfinanzhof (BFH) und vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) vertretenen strengeren Auffassung die überwiegende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gegenüber, wonach das auf ein Verschulden eines Beteiligten folgende Fehlverhalten von Gerichten oder Verwaltungsstellen dem Beteiligten nicht mehr zuzurechnen sei und daher zur Wiedereinsetzung führe. Ob dem BSG zu folgen sei, bedürfe keiner Entscheidung. Denn auch nach dessen Rechtsprechung ließen die Verhältnisse dieses Falles eine Wiedereinsetzung nicht zu. Ein pflichtwidriges Verhalten sei weder der Poststelle noch der Rechtsabteilung des Versorgungsamts vorzuwerfen. Die beim Geschäftsgang in der Rechtsabteilung "normale" Verzögerung müsse der Kläger hinnehmen. Maßgebend sei, daß damals auf Grund des beim Versorgungsamt vorhandenen Personals und seiner Organisation nicht damit zu rechnen gewesen sei, der am 21. Oktober 1976 eingegangene Schriftsatz würde bis zum 29. Oktober 1976 an das LSG weitergeleitet werden, und daß das Versorgungsamt nicht verpflichtet gewesen sei, seine Organisation zwecks schnellerer Weiterleitung von irrtümlich bei ihm abgegebenen Berufungsschriftsätzen umzustellen. - Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Mit seiner form- und fristgerecht eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde trägt der Kläger u.a. vor, das Berufungsurteil weiche von der Rechtsprechung des BSG (BSGE 38, 248 i.v.m. SozR Nr. 41 zu § 67 SGG, 10. Senat, Urt. vom 22.9.1971 - 10 RV 210/71 - und 11. Senat, Urt. vom 21.10.1971 - SGb 1971, 477) ab und beruhe auf dieser Abweichung.

 

Entscheidungsgründe

Der Beschwerde war stattzugeben, weil ein Zulassungsgrund entweder nach Nr. 2 oder nach Nr. 1 des § 160 Abs. 2 SGG vorliegt.

Nach dem - die frühere Rechtsprechung des BSG fortsetzenden - Beschluß des Großen Senats vom 16. Dezember 1974 (BSGE 38, 248, 262 = SozR 1500 § 67 Nr. 1; s. auch das spätere Urteil des 10. Senats vom 11.11. 1976 - ZfS 1977, 130) kann einem Rechtsmittelkläger Wiedereinsetzung nach § 67 Abs. 1 SGG gewährt werden, wenn eine Rechtsmittelschrift ... an eine unzuständige Stelle übersandt worden ist und infolge pflichtwidrigen Verhaltens dieser Stelle erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist beim zuständigen Gericht eingeht. Von diesem Grundsatz ist das LSG Bremen im angefochtenen Urteil allerdings nicht ausdrücklich abgewichen, vielmehr hat es offen gelassen, ob der Rechtsprechung des BSG zu folgen sei. Dadurch kann jedoch die Anwendbarkeit des § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG nicht ohne weiteres umgangen werden. Ähnlich wie es bei Anrufungen des Großen Senats für die Anwendung des § 42 bzw. des § 43 SGG nicht allein auf die äußere Kennzeichnung, sondern auch auf den Gehalt der Vorlagebeschlüsse ankommt (Beschl. vom 21.7.1977 - GS 1/76 und 2/76), kann eine Divergenz i.S. des § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG auch vorliegen, wenn das LSG zwar allgemein und grundsätzlich eine eindeutige Stellungnahme gegen die Rechtsprechung des BSG vermeidet, in seinen näheren Darlegungen aber erkennen läßt, daß es diese Rechtsprechung nur erheblich modifiziert übernehmen will. So verhält es sich hier, zumal bei der Art, wie das LSG den Umstand beurteilt, daß die am 21. Oktober 1976 beim Versorgungsamt eingetroffene Berufungsschrift bis zum 29. Oktober 1976 und noch lange darüber hinaus - insgesamt fast 3 Wochen - unbeachtet liegen geblieben ist.

Ob das Verhalten der Dienststelle, bei der eine Rechtsmittelschrift als "Irrläufer" eingegangen ist, als pflichtwidrig angesehen werden kann, wird in BSGE 38, 261 mit folgenden Merkmalen umschrieben: Außergewöhnliche Maßnahmen, um einen am letzten oder vorletzten Tag der Rechtsmittelfrist eingegangenen Schriftsatz noch rechtzeitig dem zuständigen Gericht zuzuleiten, seien nicht zu verlangen. Welche Zeitspanne vor Fristablauf noch ausreiche, um die rechtzeitige Weiterleitung erwarten zu können, hänge weitgehend von den Verhältnissen des Einzelfalles ab. Hierbei wird mit den Merkmalen "ordnungsgemäßer Geschäftsgang" und "sachgerechtes Handeln" (10. Senat, Urt. vom 11.11.1976 aaO) ein Maßstab angelegt, der offenbar einer objektiven Betrachtungsweise entspringt; d.h., es ist nicht auf die bei einer Dienststelle herrschenden Gepflogenheiten, sondern auf den Geschäftsgang bei einer gut funktionierenden Verwaltung abzustellen. Im übrigen sind bei der Frage, ob die Dienststelle selbst wegen einer eigenen, verspätet eingereichten Rechtsmittelschrift Wiedereinsetzung erwarten kann, Organisationsmängel, auf denen die Fristüberschreitung beruht, sicherlich nicht als Entlastung von "Verschulden" des § 67 Abs. 1 SGG zu berücksichtigen (vgl. SozR 1500 § 67 Nr. 3).

Im Gegensatz hierzu wird im angefochtenen Urteil allein auf die tatsächlichen Gegebenheiten beim Versorgungsamt Bremen im Oktober 1976 abgestellt, die der Kläger hinnehmen müsse. Irgendeine kritische Beurteilung dieser Gegebenheiten nach objektiven Maßstäben ist nicht erkennbar. Damit liegt nach Meinung des Senats ein Fall der Abweichung i.S. des § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG vor.

Es könnte freilich immerhin die Frage aufgeworfen werden, ob der Rückgriff auf eine objektive Betrachtungsweise, die der Senat der bisherigen Rechtsprechung entnehmen zu müssen glaubt, mit dieser Rechtsprechung voll übereinstimmt oder aber sie weiterentwickelt. Daraus ergäben sich u.U. Zweifel, ob eine Revisionszulassung wegen Divergenz im vorliegenden Fall zuträfe.

Zu solchen Zweifeln kann auch der Umstand beitragen, daß die bisherige Rechtsprechung zu den Fällen falsch adressierter Rechtsmittelschriften ergangen ist (vgl. BSGE 38, 255), bei denen das Verschulden des Rechtsmittelklägers darin bestand, nicht auf die Rechtsmittelbelehrung geachtet zu haben. Um einen solchen Fall handelt es sich hier nicht; die Berufungsschrift vom 19. Oktober 1976 war ordnungsgemäß an das LSG in Bremen adressiert. Daß sie auf Abwege geriet, ergab sich nicht aus einer Nichtbeachtung der Rechtsmittelbelehrung, sondern aus einem Versehen des Prozeßbevollmächtigten bei seiner Betätigung als Briefbote. Es liegt nahe, diese verschiedenen Arten des Verschuldens nicht nur auf der Seite des Rechtsmittelklägers verschieden zu werten, sondern auch die Anforderungen an das Verhalten der Dienststelle, die das Schriftstück empfangen hat, entsprechend zu differenzieren. So erforderte es etwa beim Versorgungsamt Bremen ganz gewiß keine "eingehende Durcharbeitung" (BSGE 38, 261) des Berufungsschriftsatzes vom 19. Oktober 1976, um zu erkennen, daß dieser Schriftsatz unverzüglich weiterzuleiten war.

Hieraus ergeben sich indessen keine durchgreifenden Bedenken gegen die Zulassung der Revision, auch wenn die Beschwerde nur auf Nr. 2 und nicht auf Nr. 1 des § 160 Abs. 2 SGG Bezug genommen hat. Davon ausgehend, daß es sich bei der Divergenzrevision um einen Sonderfall der Grundsatzrevision handelt (vgl. Weyreuther "Revisionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde in der Rspr. der obersten Bundesgerichte", NJW-Schriftenreihe Heft 14, RdNrn. 93, 94 m.w.Nachw.; BFHE 112, 342, 345; Maetzel MDR 1961, 453, 456), hat das BVerwG entschieden (BVerwGE 24, 91; s. auch Buchholz 310 § 132 Nr. 98; Eyermann/Fröhler, VwGO, 7. Aufl., RdNr. 26 zu § 132), daß die Revision auch dann zuzulassen ist, wenn mit der Nichtzulassungsbeschwerde zu Unrecht Divergenz geltend gemacht wird, durch die unzutreffende Behauptung einer Abweichung aber eine Rechtsfrage aufgeworfen wird, die der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung verleiht. Der beschließende Senat teilt diese Auffassung. Von grundsätzlicher Bedeutung wäre hier die Frage, welchen Anforderungen das Verhalten einer Dienststelle unterliegt, in deren Gewahrsam eine richtig adressierte Rechtsmittelschrift durch ein Versehen des für den Kläger tätigen Boten gelangt ist.

Hiernach ist, falls aus den dargelegten Gründen eine Divergenzzulassung unzulässig sein sollte, auf jeden Fall eine Zulassung der Revision auf Grund des § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG geboten.

Einer Erörterung des sonstigen Beschwerdevorbringens bedarf es nicht.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgen den Kosten der Hauptsache.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651504

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