Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragsarzt. keine Verletzung des rechtlichen Gehörs bei Nichtanordnung des persönlichen Erscheinens in Berufungsverhandlung. Umfang der sachlich-rechnerischen Richtigstellung durch Kassenärztliche Vereinigung

 

Orientierungssatz

1. Der Anspruch eines Vertragsarztes auf Gewährung angemessenen rechtlichen Gehörs ist dadurch, daß der Vorsitzende des Berufungssenats sein persönliches Erscheinen in der mündlichen Verhandlung nicht angeordnet hat, nicht verletzt worden.

2. Eine Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) ist im Wege der sachlich-rechnerischen Richtigstellung zur Streichung vom Vertragsarzt in Ansatz gebrachte Leistungen in vollem Umfang berechtigt, wenn deren Voraussetzungen erweislich nicht vorliegen oder ihr Vorliegen sich im Einzelfall nicht nachweisen läßt. Diese Berechtigung besteht unabhängig davon, ob die Nichterfüllung der Leistungslegende nur in Einzelfällen oder in vielen Fällen im Streit ist.

3. Während bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung allein an die Menge ärztlicher oder ärztlich veranlaßter Leistungen angeknüpft wird, die in grundsätzlicher Übereinstimmung mit den gesetzlichen und/oder vertraglichen Bestimmungen erbracht worden sind, bezieht sich die Prüfung der Abrechnung seitens der KÄV auf Rechenfehler und die Einhaltung der tatbestandlich umschriebenen Voraussetzungen einer Position der Gebührenordnung und der sie flankierenden Regelungen.

4. Den KÄVen ist es nicht untersagt, anhand von Einzelfällen zu prüfen, worauf etwa ein als implausibel bewerteter Anstieg der Ansatzhäufigkeit einer bestimmten EBM-Ä-Position beruht und darauf ggf mit einer Korrektur der Abrechnung zu reagieren (vgl BSG vom 8.3.2000 - B 6 KA 16/99 R).

 

Normenkette

SGG § 62; GG Art. 103 Abs. 1; SGB V § 87 Abs. 1; EBM-Ä; SGB V § 106 Abs. 2 S. 1, § 82 Abs. 1; BMV-Ä § 45 Abs. 1-2

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 07.12.1999; Aktenzeichen L 6 KA 31/99)

SG Kiel (Urteil vom 15.06.1999; Aktenzeichen S 16 KA 355/99)

 

Tatbestand

Der in F. als Urologe niedergelassene Kläger begehrt die von der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) abgelehnte vollständige Honorierung der von ihm dem im Quartal I/1996 264mal abgerechneten Leistungen nach Nr 17 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für ärztliche Leistungen ≪EBM-Ä≫ ("Intensive ärztliche Beratung und Erörterung zu den therapeutischen, familiären, sozialen oder beruflichen Auswirkungen und deren Bewältigung bei nachhaltig lebensverändernder oder lebensbedrohlicher Erkrankung, Dauer mindestens 15 Minuten ..."). Die Beklagte sandte ihm im Juni 1996 die darauf bezogenen Behandlungsausweise mit der Bitte um Überprüfung und ggf "Neuvorlage mit Begründung" zurück, daß der Leistungsinhalt vollständig erbracht worden sei. Da aufgrund der hohen Anzahl der abgerechneten Fälle Zweifel an der Erbringung des Leistungsinhaltes bestünden, würden sie nicht vergütet. Nachdem der Kläger die Scheine um handschriftliche Anmerkungen ergänzt hatte, erkannte die Beklagte in drei Fällen die Nr 17 EBM-Ä an und erließ im übrigen einen sein Begehren zurückweisenden Widerspruchsbescheid (Wert der nicht vergüteten Leistungen 8.221,50 DM). Darin heißt es ua, Einzelprüfungen der beanstandeten Fälle unter Beteiligung des im Hause zuständigen beratenden Arztes hätten ergeben, daß diese Nr im übrigen zu Unrecht in Ansatz gebracht worden sei. Im Bescheid werden ua Ausführungen zur Leistungslegende gemacht; die angegebenen Diagnosen "unklare Störung, Phimose (OP im gleichen Quartal), Reizblase, rezidivierende Hämaturie, Proteinurie und Nachsorge, Potenzstörung und Fertilisationsstörung" reichten ohne weitere Erläuterungen nicht aus. Im Zusammenhang mit mehreren anderen zur Abrechnung gebrachten Leistungen sei der Ansatz der Nr 17 EBM-Ä nicht plausibel.

Während das Sozialgericht (SG) den Widerspruchsbescheid wegen Fehlens eines Ausgangsbescheides aufgehoben und die Klage im übrigen als unzulässig abgewiesen hat, hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden: Das SG habe den Beteiligten zu Unrecht eine Entscheidung in der Sache verwehrt. Die Beklagte sei für die von ihr durchgeführte Prüfung zuständig und Nr 17 EBM-Ä abweichend vom Verständnis des Klägers auszulegen. Reiche die Angabe der Diagnose für die Beurteilung des Leistungsinhaltes nicht aus, könne die Beklagte im Einzelfall durchaus eine besondere Begründung verlangen. Sie müsse neu über die Honorierung der Nr 17 EBM-Ä entscheiden, da es in einer großen Zahl von Fällen (zumindest 180) erforderlich sei, deren Ansatz unter Berücksichtigung des zutreffenden Begriffsverständnisses zu überprüfen (Urteil vom 7. Dezember 1999).

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger Verfahrensfehler, die Abweichung von Urteilen des Bundessozialgerichts (BSG) sowie die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist teilweise unzulässig, im übrigen unbegründet.

Unzulässig ist die Beschwerde, soweit der Kläger rügt, das Berufungsgericht setze sich mit seinem Urteil in Widerspruch zu seiner eigenen Entscheidung vom 18. Februar 1997 - L 6 KA 36/95 -, die das BSG mit Urteil vom 1. Juli 1998 - B 6 KA 47/97 R - bestätigt habe. Damit soll erkennbar eine Divergenz (Zulassungsgrund iS des § 160 Abs 2 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) geltend gemacht werden. Die Begründung genügt jedoch nicht den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG, denn danach ist erforderlich, daß der Beschwerdeführer einen entscheidungserheblich gewordenen Rechtssatz des LSG darstellt und ihn einer damit in Widerspruch stehenden abstrakten Rechtsaussage des BSG gegenüberstellt (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14 S 22, Nr 21 S 28, Nr 29 S 33). Die allgemeinen Ausführungen des Klägers zu den verschiedenen Aussagen des Schleswig-Holsteinischen LSG sowie des erkennenden Senats zur Abgrenzung der Zuständigkeiten der KÄV im Rahmen der sachlich-rechnerischen Honorarberichtigung von den Befugnissen der Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung lassen nicht erkennen, mit welcher Rechtsaussage das LSG vom Urteil des Senats vom 1. Juli 1998 abgewichen sein könnte. Eine Abweichung des LSG von seiner eigenen Rechtsprechung stellt insoweit von vornherein keinen Grund für die Zulassung der Revision wegen Divergenz dar.

Soweit der Kläger rügt, das Urteil des LSG sei fehlerhaft zustandegekommen (Zulassungsgrund iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG), ist die Beschwerde nicht begründet. Der Kläger macht in diesem Zusammenhang geltend, der Vorsitzende des Berufungssenats habe sein persönliches Erscheinen zum Termin der mündlichen Verhandlung nicht angeordnet, obwohl es entscheidend auf fachlich-medizinische Aspekte angekommen sei. Wegen des Fehlens der Anordnung des persönlichen Erscheinens habe er selbst an der mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen; seine Bevollmächtigte sei naturgemäß nicht in der Lage gewesen, zu medizinischen Einzelheiten Stellung zu nehmen. Insofern sei mittelbar das Gebot der Waffengleichheit verletzt, weil die Beklagte im Termin nicht nur durch ihren Justitiar, sondern auch durch eine beratende Ärztin vertreten gewesen sei.

Der Anspruch des Klägers auf Gewährung angemessenen rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 Grundgesetz ≪GG≫, § 62 SGG) ist dadurch, daß der Vorsitzende des Berufungssenats das persönliche Erscheinen des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht gemäß § 111 SGG iVm § 153 Abs 1 SGG angeordnet hat, nicht verletzt worden. Dem Kläger hat es freigestanden, seine Bevollmächtigte zum Termin der mündlichen Verhandlung zu begleiten oder sie vor dem Termin ausreichend über die entscheidungserheblichen medizinisch-fachlichen Gesichtspunkte zu unterrichten. Daß in einem Rechtsstreit über die Rechtmäßigkeit von sachlich-rechnerischen Berichtigungen (auch) medizinische Fragen des Verhältnisses von abgerechneten Leistungen und Diagnosen von Bedeutung sind, mußte für den rechtskundig vertretenen Kläger auf der Hand liegen. Welchen von ihm für wichtig gehaltenen Aspekt der Kläger während der mehrstündigen, zweimal für Zwischenberatungen unterbrochenen mündlichen Verhandlung nicht hätte geltend machen können, ist nicht ersichtlich. Im übrigen hat der Kläger nach Abschluß der umfangreichen Erörterungen im Termin lediglich den Erlaß einer bestimmten gerichtlichen Entscheidung in der Sache beantragt, ohne - zumindest hilfsweise - weitere Ermittlungen oder eine Vertagung zur Vorbereitung von Sachaufklärungsanträgen bzw einer qualifizierten medizinisch untermauerten Stellungnahme zu beantragen. Ein anschließend an diesen Sachantrag ergehendes Urteil stellt sich nicht als eine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch eine überraschende Entscheidung des Gerichts dar. Näher liegt es, in dem Verhalten des Klägers den Verzicht auf die Rüge einer Gehörsverletzung zu sehen (vgl zu einer vergleichbaren Situation beim Absehen von der Stellung von Beweisanträgen durch anwaltlich vertretene Rechtssuchende zB BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22 S 35; vgl auch BSG SozR 3-1500 § 124 Nr 3 S 4 ff).

Soweit der Kläger es für rechtsgrundsätzlich bedeutsam hält (Zulassungsgrund iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG), ob eine KÄV befugt ist, im Wege der sachlich-rechnerischen Richtigstellung auffällige Ansätze einer bestimmten Leistungsziffer ohne Einzelfallprüfung zu streichen, sofern der Arzt keine ausreichende, über die Angabe der Diagnose hinausgehende Begründung für den Leistungsansatz liefert, ist die Beschwerde ebenfalls unbegründet. Eine Rechtsfrage hat nur grundsätzliche Bedeutung, wenn sie in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) ist, über den Einzelfall hinaus Bedeutung hat und klärungsbedürftig ist. Die Klärungsbedürftigkeit entfällt, wenn die Beantwortung der entscheidungserheblichen Rechtsfrage nach den maßgeblichen gesetzlichen bzw untergesetzlichen Vorschriften sowie der bereits vorliegenden höchstrichterlichen Rechtsprechung keinem Zweifel mehr unterliegt (vgl zu diesem eine Grundsatzrevision ausschließenden Umstand allgemein zB BSG SozR 3-2500 § 75 Nr 8 S 34; SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6; SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt, weil es nicht zweifelhaft ist, daß eine KÄV im Wege der sachlich-rechnerischen Richtigstellung vom Arzt in Ansatz gebrachte Leistungen in vollem Umfang streichen darf, wenn deren Voraussetzungen erweislich nicht vorliegen oder ihr Vorliegen sich im Einzelfall nicht nachweisen läßt. Diese Berechtigung besteht unabhängig davon, ob die Nichterfüllung der Leistungslegende nur in Einzelfällen oder - wie hier - in vielen Fällen im Streit ist. Entgegen der Auffassung des Klägers sind die Kriterien für die Abgrenzung der Rechtsinstitute der sachlich-rechnerischen Berichtigung durch die KÄV einerseits sowie die Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungs- und Verordnungsweise des Vertragsarztes durch die Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung andererseits in der Rechtsprechung des Senats geklärt (BSG SozR 3-2500 § 75 Nr 10 S 43 mwN): Während bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung allein an die Menge ärztlicher oder ärztlich veranlaßter Leistungen angeknüpft wird, die in grundsätzlicher Übereinstimmung mit den gesetzlichen und/oder vertraglichen Bestimmungen erbracht worden sind, bezieht sich die Prüfung der Abrechnung seitens der KÄV auf Rechenfehler und die Einhaltung der tatbestandlich umschriebenen Voraussetzungen einer Position der Gebührenordnung und der sie flankierenden Regelungen. Dieses bedingt bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung eine Zurückführung der überhöht erbrachten Leistungen ggf auf Durchschnittswerte, während für nicht in Einklang mit den Vergütungsnormen erbrachte Leistungen - unabhängig von ihrer Menge - kein Vergütungsanspruch besteht. Ergeben sich in einzelnen Behandlungsfällen begründete Zweifel daran, daß der Tatbestand einer Gebührenordnungsposition erfüllt ist, weil - wie hier - der abrechnende Vertragsarzt den Inhalt der Leistungslegende verkannt hat, obliegt es auch dem betroffenen Arzt, an der Beseitigung dieser Zweifel durch sachdienliche Angaben mitzuwirken. Da ihn als Anspruchssteller grundsätzlich die Feststellungslast hinsichtlich der Voraussetzungen für seinen Vergütungsanspruch trifft, liegt eine derartige Mitwirkung in seinem eigenen Interesse. Der Senat hat in diesem Zusammenhang lediglich die generelle Pflicht eines Vertragsarztes zur Abgabe einer einzelfallbezogenen Begründung für jede abgerechnete Leistung verneint (BSG SozR 3-2500 § 75 Nr 10 S 43 ff) und - in seiner jüngsten Rechtsprechung - den KÄVen die Befugnis abgesprochen, schon nach bloßer Durchsicht der Honorarabrechnung auf ihre Plausibilität hin Honoraranforderungen pauschal um einen bestimmten Prozentsatz kürzen (Senatsurteil vom 8. März 2000 - B 6 KA 16/99 R -, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Den KÄVen ist es aber nicht untersagt, anhand von Einzelfällen zu prüfen, worauf etwa ein als implausibel bewerteter Anstieg der Ansatzhäufigkeit einer bestimmten EBM-Ä-Position beruht und darauf ggf mit einer Korrektur der Abrechnung zu reagieren (Senatsurteil aaO).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 und 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1175705

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